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Neuntes Kapitel.

Einige Minuten später befand ich mich wieder einmal auf dem zu dem alten Giebelhaus gehörigen Grunde. Der Bediente, der mir voranging, brachte mich vermittelst der Treppe und des Pförtchens, da dies der kürzeste Weg war, dahin. So kam ich denn wieder an dem kreisförmigen freien Platz und an dem Klosterbrunnen vorbei. Der Rasen, die Bäume und die Ruinen, Alles war von dem klaren Mondlicht beleuchtet.

Und jetzt befand ich mich in dem Hause. Der Diener trug das Billet, das ich mitgebracht hatte, hinauf, kehrte nach einigen Minuten zurück und führte mich nach einem oberen Corridor, wo ich von Frau Ashleigh empfangen wurde. Ich begann zuerst zu sprechen.

»Ihre Tochter – ist – ist doch hoffentlich nicht ernstlich erkrankt? Was hat sie angewandelt?«

»Bst!« sagte sie leise. »Wollen Sie einen Augenblick hier hereinkommen.«

Sie ging durch eine Thüre rechts. Ich folgte ihr, und als sie das Licht, das sie in der Hand hielt, auf den Tisch setzte, sah ich mich mit einem inneren Schauder um – ich befand mich in dem Zimmer, in welchem Doktor Lloyd gestorben war. Von einem Irrthum konnte nicht die Rede sein. Die Möbel waren anders, und es stand auch kein Bett in dem Gemach; aber das Aussehen, die Oertlichkeit, die Lage des hohen Fensters, das jetzt weit offen stand und durch das die Mondbeleuchtung heute viel milder einfiel, als in jener traurigen Winternacht, das an der niederen Decke vorspringende schwere Gebälk – Alles dies war meiner Erinnerung lebhaft eingeprägt. Der Stuhl, nach welchem Frau Ashleigh mich hinwinkte, befand sich an derselben Stelle, wo ich zu den Häupten des sterbenden Mannes gestanden hatte.

Ich schrack zurück. Nein; hier konnte ich nicht Platz nehmen. Ich stützte mich daher auf den Kaminsims, während Frau Ashleigh mir das Anliegen ihres Kindes erzählte.

Sie sagte, Lilian sei am Tage vorher, dem Tage ihrer Ankunft, ungewöhnlich heiter und wohl gewesen; das alte Haus und der Garten habe ihr sehr gefallen, namentlich aber der Theil bei dem Mönchsbrunnen, wo sie ihre Tochter heute Abend verlassen habe, um gemeinschaftlich mit Herrn Vigors in der Stadt einige Einkäufe zu machen. Als sie mit diesem Herrn wieder zurückkehrte, habe sie Lilian an dem alten Platz wieder aufgesucht und schon damals mit mütterlichem Auge an ihr eine Veränderung wahrgenommen, die sie erschreckte. Das Mädchen war sehr blaß und benahm sich gleichgültig und niedergeschlagen, wollte aber nicht unwohl sein. Nach dem Hause zurückgekehrt, setzte sie sich in dem Zimmer, in welchem wir uns eben befanden – »meine Tochter wünscht,« fügte Frau Ashleigh bei, »daß es zu ihrem Morgen- oder Lesezimmer eingerichtet werden möchte, da sie eine große Freundin vom Lesen ist und wir es nicht als Schlafgemach benützen wollten. Ich ließ sie hier und begab mich mit Herrn Vigors nach dem unteren Salon. Er entfernte sich bald und ich blieb noch fast eine Stunde dort, um in Betreff der Aufstellung der Möbel, die eben von unserer alten Wohnung her angelangt waren, die nöthigen Weisungen zu ertheilen. Dann begab ich mich wieder zu meiner Tochter hinauf, fand sie aber zu meinem großen Schrecken leblos in ihrem Sessel. Sie war ohnmächtig geworden.«

Hier unterbrach ich Frau Ashleigh mit der Frage, ob Fräulein Ashleigh solchen Ohnmachtanfällen schon öfters ausgesetzt gewesen sei.

»Nein, nein. Als sie wieder zu sich kam, war sie verwirrt und mochte nicht reden. Ich brachte sie zu Bett, und da sie in einen sanften Schlaf verfiel, so beruhigte ich mich wieder, indem ich den Vorfall bloß für eine vorübergehende Wirkung der mit dem Umzug verbundenen Aufregung oder der Ausdünstungen hielt, welche sie unter den Trümmern bei dem Mönchsbrunnen eingeathmet hatte.«

»Sehr möglich. In dieser Jahreszeit ist die Stunde des Sonnenuntergangs zarten Naturen nicht zuträglich. Fahren Sie fort.«

»Vor ungefähr drei Viertelstunden erwachte sie mit einem lauten Schrei, und seitdem befindet sie sich in einem Zustand großer Aufregung, indem sie in einem fort weint und auf keine von meinen Fragen Antwort gibt. Doch scheint sie nicht irre, sondern eher hysterisch, wie wir's nennen, zu sein.«

»Sie werden mir jetzt erlauben, sie zu sehen. Trösten Sie sich – nach Allem, was Sie mir mitgetheilt haben, ist kein Grund zu ernstlichen Besorgnissen vorhanden.«


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