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Dreiundfünfzigstes Kapitel.

Wir haben hier ein Beispiel von der absorbirenden Tyrannei des Alltaglebens, das wohl manchem von meinen Lesern aufgefallen sein muß, wenn er Erfahrungen machte über eines von jenen Vorzeichen, die so sehr mit dem Alltagleben in Widerspruch stehen, daß man ihnen gemeiniglich das Beiwort »übernatürlich« beilegt.

Und mögen nun meiner Leser wenige sein oder viele, so wird sich doch kein geringer Theil von solchen unter ihnen befinden, denen wenigstens einmal im Lauf ihres Lebens etwas Seltsames begegnete, das aller verstandesgerechten Deutung Trotz bot und jene Saiten berührte, welche durch den Aberglauben zum Schwingen gebracht werden. Vielleicht war's nur ein Traum, der auf eine unerklärliche Weise in Erfüllung ging, oder ein unbestimmtes Vorgefühl, eine Ahnung; aber von solchen leichteren Zügen aus dem Reich des Wunderbaren an bis hinauf zu gespenstischen Erscheinungen und Spukhäusern hat wohl zu allen Zeiten und in allen Ländern die größere Zahl der Personen mittleren Alters, wie gebildet und skeptisch sie auch sein mögen, Einiges entweder an sich selbst erfahren oder von Freunden gehört, deren Wahrheitsliebe sie in allen gewöhnlichen Lebensverhältnissen festes Vertrauen schenken – ich rede von Vorkommnissen, welche der Witz, der sie verspottet, nicht immer und ganz in einer Weise zu erklären vermag, daß dadurch der Verstand oder die Philosophie, wie hurtig sie auch mit einer Deutung zur Hand sein mögen, befriedigt würde. Solche Erscheinungen sind, ich wiederhole es, viel zahlreicher, als man aus den bekannteren Beispielen, die man so gern citirt und scherzhaft abfertigt, schließen darf; denn wenige von denen, welchen sie begegneten, sind geneigt, sie zuzugestehen, und diejenigen, welche sie nur von anderen, selbst den glaubwürdigsten Personen gehört haben, wollen dem Respekt vor ihrem Verstand nicht dadurch etwas vergeben, daß sie sich als Gläubige an eine Sache bekennen, gegen welche der gewöhnliche Menschenverstand als erbarmenloser Verfolger zu Feld zieht. Mancher von denen aber, die meine Behauptung in der Stille ihres Kämmerleins lesen, werden vielleicht innehalten, ihre Erinnerungen befragen und in irgend einem dunkeln Winkel, den sie verborgen halten vor dem »Geplapper des schonungslosen Tages« einen blassen Wiederschein auffinden, welcher beweist, daß meine Versicherung nicht unwahr ist.

Ich wiederhole daher, es ist ein Beispiel von der alles niederwerfenden Tyrannei des Alltaglebens, daß es, wenn immer ein auffallendes Ereigniß den regelmäßigen Lauf seines Denkens und Treibens stört, sich beeilt, den Gegenstand, der ihm unbequem geworden ist, in seinem Sand zu begraben, und zwar um so schleuniger, je unerklärlicher und wunderbarer die Erscheinung und je mehr sie geeignet war, uns zu verschüchtern und in Staunen zu setzen; der Geist kann dann nicht schnell genug ein Räthsel bei Seite schaffen, das krankmachend auf den Verstand einwirken könnte, der es zu lösen versucht. Wir gehen mit erneutem Eifer an unsere weltlichen Geschäfte, fühlen die Nothwendigkeit, uns selbst zu beweisen, daß wir noch nüchterne, praktische Menschen sind, und haben keine Lust, uns verderben zu lassen für die Welt, die wir kennen, durch ungebetene Besuche und Welten, wo jeder Blick, den wir nach ihnen entsenden, sich alsbald in der Mitte von Schatten verliert. Und wir wundern uns dann darüber, wie schnell solche Vorfälle, obschon sie nicht wirklich vergessen sind, sondern willkührlich wieder hervorgerufen werden können, vielleicht nur allzu lebhaft für unser leibliches Wohlbefinden, so zu sagen aus den Augen des Geistes sich verdrängen lassen, wie man nach wiederhergestellter Gesundheit, die Schienen und Krücken, welche uns an ein gebrochenes Glied erinnern, in die Rumpelkammer wirft. Es ist ein glücklicher Zug in unserer Organisation, und er muß schon allen Aerzten aufgefallen sein, daß ein körperlicher Schmerz, der überstanden ist, so bald aus der Erinnerung schwindet und der Geist so gar keine Geneigtheit mehr zeigt, an denselben zurückzudenken. Kein Mensch, wenn er sich auch nur seit einer Stunde von einem tobenden Zahnschmerz oder einer heftigen Neuralgie befreit fühlt, setzt sich in seinen Armsessel, um über die durchgemachte Qual Betrachtungen anzustellen. Eben so verhält sich's mit gewissen geistigen Bedrängnissen – nicht solchen, welche uns in unseren Neigungen treffen, aus Vermögensverlusten hervorgehen oder unsere ganze Zukunft mit dem Gefühl eines unersetzlichen Verlusts überschatten, sondern wo eine Noth, ein Unglück uns zufällig betroffen hat und eine Episode in unserem gewohnten Leben bildet, wo die Sache rein uns selbst betrifft und mit einem Gefühl von Scham oder Demüthigung sich verbindet, wo der Schmerz der Erinnerung unnütz zu sein scheint und eine Hingabe an denselben fast wahnsinnig machen könnte. Bei derartigen quälenden Rückblicken verweilen wir nicht, wie bei dem Tod oder der Untreue geliebter Freunde oder bei der Kette von Ereignissen, durch die wir vom Reichthum zur Armuth übergingen. Niemand, der sich zum Beispiel aus einem Schiffbruch rettete, vor dem drohenden Sturz in einen Abgrund bewahrt blieb oder dem Rachen eines Tigers entrann, verwendet Tage und Nächte darauf, um sich die Schrecken der Vergangenheit wieder zu vergegenwärtigen, Schicksale, die er nicht wieder befürchtet, sich auszumalen oder, wenn er sich nicht dagegen gesichert weiß, sie sich anders zu vergegenwärtigen, denn als eine Erfahrungsschule, die ihm zur Witzigung dienen mag. Der Strom unseres Lebens ist wie der der Flüsse gemeiniglich in der Mitte am schnellsten, vergleichungsweise langsam dagegen an den tiefen Stellen und die Ufer entlang, an denen jedes Leben wie jeder Fluß seinen eigenthümlichen Charakter hat. Daher beeilen sich auch alle, welche mit der Strömung der Welt oder eines Flusses dahin treiben wollen, in die Mitte zu kommen, während diejenigen, welche gegen den Strom anstreben, sich an die Ufer zu halten pflegen. Ich kehrte zu meinem gewohnten Beruf mit erneuter Thatkraft zurück und gestattete meinen Gedanken nicht, bei den traurigen Wundererscheinungen zu verweilen, die mich umspukten, von dem Abend meines ersten Zusammentreffens mit Sir Philipp Derval an bis zu dem Morgen, an welchem ich das Haus seines Erben verließ; denn mochten sie nun Wirklichkeiten oder bloße Ausgeburten meines Gehirns sein, mein Deutungsvermögen war nicht im Stand, sie zu bewältigen, und keine Klugheit von meiner Seite mächtig genug, ihrer Wiederholung vorzubeugen. Eine Wiederholung fürchtete ich übrigens nicht, eben so wenig als derjenige, welcher einen Schiffbruch mit heiler Haut überstanden hat oder mit knapper Noth einem Sturz in eine Gletscherspalte entronnen ist, die Wiederkehr einer ähnlichen Gefahr besorgt. Margrave war abgereist – wohin wußte ich nicht, und nach seiner Entfernung stand von seinem Einfluß wohl nichts mehr zu befürchten. Eine gewisse innerliche Ruhe, ein seliges Gefühl von Erleichterung schien mir dafür zu bürgen, daß ich nicht mehr behelligt werden würde.

Was aber nicht von mir weichen wollte und mich auf allen Wegen und Stegen meiner Berufsthätigkeit verfolgte, war die wehmüthige Erinnerung an meine Liebe zu Lilian, die ich als für mich verloren betrachten mußte. Ich hörte von Frau Ashleigh, die mich noch immer häufig besuchte, daß ihre Tochter sich stets in der gleichen Gemüthsstimmung zu befinden scheine; sie mache sich nichts aus unserer Trennung, erwähne selten meinen Namen, und wenn sie es thue, so geschehe es mit Gleichgültigkeit; das einzige Merkwürdige in ihrem Zustand sei ihre Abneigung gegen alle Gesellschaft und eine Art Schlafsucht, welche oft bei hellem Tag sie anwandle. In diesem plötzlich eintretenden Schlaf könne sie stundenlang verharren; auch scheine er ruhig und angenehm zu sein, und sie erwache von selbst wieder daraus. Sie bleibe meist in ihrem Zimmer oder ziehe sich dahin zurück, wenn Besuche angekündigt würden.

Obschon mit Widerstreben, begann Frau Ashleigh allmählig von der Ueberzeugung abzukommen, die sie so lang und so hartnäckig festgehalten hatte, daß die Stimmung des Mädchens gegen mich und überhaupt die mit ihr vorgegangene Veränderung nur vorübergehend und krankhaft sei; sie räumte nachgerade ein, es sei am Besten, alle Gedanken an eine Erneuerung des Verhältnisses, an eine künftige Verbindung fallen zu lassen. Ich machte ihr den Vorschlag, Lilian in ihrem Beisein und in ärztlicher Eigenschaft zu besuchen, indem man vielleicht namentlich für ihre Schlafsucht eine beseitigbare körperliche Ursache auffinden könne. Frau Ashleigh entgegnete, dieser Gedanke sei ihr selbst schon gekommen und Lilian deßhalb von ihr ausgeholt worden; ihre Tochter aber habe entschiedenen Widerspruch dagegen erhoben und mit ruhiger Festigkeit erklärt, daß zwischen uns Alles vorüber sei und ein Besuch von mir ihr nur unangenehm und schmerzlich werden könne. Daraus schloß nun die Mutter, daß eine Zusammenkunft bloß dazu beitragen würde, die Entfremdung zu erhöhen. Als sie mich eines Tags besuchte, befragte sie mich, ob ich es nicht für zweckmäßig halte, wenn man den Versuch mit einer Orts- und Luftveränderung mache und an dem fremden Platz einen andern Arzt zu Rath ziehe. Ich billigte diesen Vorschlag mit unaussprechlicher Wehmuth.

»Und wenn auch dieser Versuch erfolglos bleibt,« fügte Frau Ashleigh unter einem Strom von Thränen bei, »so will ich Ihnen schreiben und es Sie wissen lassen; wir müssen dann in Erwägung nehmen, welchen Grund wir der Welt für die Auflösung des Verlöbnisses nennen können. Es geht leichter, wenn ich fortbleibe. Ich werde nicht nach L– – zurückkehren, bis die Sache aufgehört hat, das Tagesgespräch zu bilden; aus der Ferne kann man einer Entschuldigung weniger auf den Grund gehen, und sie nimmt sich auch natürlicher aus. Gleichwohl – dennoch – wir wollen die Hoffnung nicht fallen lassen.«

»Haben Sie einen Grund dafür?«

»Vielleicht; aber Sie werden denken, er sei sehr schwach und trügerisch.«

»Nennen Sie ihn, damit ich mir selbst ein Urtheil bilde.«

»In einer Nacht – um dieselbe Zeit, als Sie in Derval Court auf Besuch waren – –«

»Ja; was ist mit jener Nacht?«

»Lilian weckte mich mit einem lauten Schrei (sie schläft in dem Zimmer neben mir, und die Thüre ist immer offen). Erschrocken eilte ich an ihr Bett; sie schlief, schien aber dabei sich in einer krankhaften Aufregung zu befinden. Sie rief in einem fort Ihren Namen in einem Ton leidenschaftlicher Zärtlichkeit, aber wie in großem Schrecken. Sie rief: ›Geh nicht, Allen! – geh nicht! – Du weißt nicht, in welche Gefahr Du Dich begibst!‹ Dann richtete sie sich in ihrem Bette auf und schlug die Hände zusammen. Ihr Gesicht war wie in einem Zustand von Erstarrung; ich suchte sie zu wecken, aber es gelang mir nicht. Nach einer Weile seufzte sie tief auf und flüsterte: »Allen, Allen, theures Herz, hörtest Du nicht? – hast Du mich nicht gesehen? Was könnte so dem Stoff Trotz bieten und den Raum durchdringen, als die Liebe und die Seele? Willst Du noch immer an mir zweifeln? – zweifeln, daß ich Dich jetzt liebe und immerdar lieben werde? – dort, dort wie hier unten?« Sie sank dann auf ihr Kissen zurück, und endlich gelang es mir, sie zu wecken.«

»Und was sagte sie nach dem Erwachen?«

»Sie erinnerte sich nicht an das, was sie geträumt, sondern wußte nur noch, daß sie einen großen Schrecken ausgestanden hatte; aber sie fügte mit einem seltsamen Lächeln bei: ›Es ist vorüber und ich fühle mich jetzt glücklich.‹ Dann wandte sie sich auf die Seite und schlief wieder ein, aber ruhig wie ein Kind; die Thränen waren vertrocknet und der lächelnde Ausdruck blieb.«

»Gehen Sie, meine theure Freundin, gehen Sie, und nehmen Sie Lilian fort von hier, sobald Sie können; suchen Sie ihren Geist durch eine neue Umgebung zu zerstreuen. Ich hoffe – ja, ich hoffe! Benachrichtigen Sie mich, wo Sie sich niedergelassen haben. Ich will selbst Ferien machen – ich bedarf eines Moments der Ruhe und kann's mit meinen Patienten schon so einrichten; ich komme dann nach demselben Platz, ohne daß sie darum zu wissen braucht, denn ich muß auf der Hut sein und hören, was Sie mir von ihr zu berichten vermögen. Der Himmel segne Sie für das, was Sie mir gesagt haben. Ich hoffe – ja ich hoffe!«


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