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32

Ehe Daniella von Rother's Gefangenschaft Kenntniß erhalten, hatte dieser schon schwere Tage durchgemacht.

Obwohl der wüste Sturm, der die unglückliche Stadt erfaßt hatte, seine heftigsten Stöße gerade gegen die Kirche richtete, waltete diese, so viel als möglich, ruhig ihres Amtes weiter. Die frommen Orden und Congregationen lagen nicht minder eifrig als in den Tagen des Friedens ihrem Samariterwerke ob, und die Priester suchten die Gläubigen möglichst zu sammeln, um sie dem wilden Treiben fern zu halten. Der Haß des Unglaubens will nicht sehen, daß die Wurzeln der Kirche tiefer liegen, daß ihre Kraft aus überirdischen Quellen strömt, und wendet daher seine ganze Wuth gegen ihre Vertreter. Wenn die »Kaste« vernichtet ist, glaubt er, sei sie selbst zerstört und der Damm gebrochen, der sich ihm entgegen stemmt. Wie wenig auch die Pariser Regierungen in jenen Tagen sich zu consolidiren wußten, wie rasch auch eine der andern folgte, in der Verfolgung der Kirche blieben sie alle einander gleich. Die Kirchengüter waren willkommene Beute. Der Einbruch in die Klöster der Jesuiten, Dominicaner und Lazaristen vollzog sich gleich in den ersten Wochen der Herrschaft der Commune. Die Berichte über die blutigen Scenen, die sich dabei abspielten, sind nicht vollständig in die Oeffentlichkeit gedrungen, und anderseits sind auch Tausende von schönen Beispielen der Liebe und Ergebenheit, mit welcher der ruhige Theil des Volkes seine Geistlichen zu schützen suchte, fast unbekannt geblieben. Von wem eigentlich die Confiscations- und Verhaftungs-Decrete ausgingen, war oft kaum zu ermitteln; man kümmerte sich auch wenig darum: genug, daß ein Führer und ein Volkshaufe zur Ausführung derselben nicht fehlte.

Auch die Ignorantins wurden nicht geschützt durch die Verdienste, welche sie sich während des Krieges erworben hatten; schon frühzeitig verfügte ein Decret ihre Verhaftung. Rother theilte ihr Schicksal. Muthigen Geistes hatte er zu wirken fortgefahren; längst hatte er die Gefahr als seinen Antheil erwählt. Er hatte sie freilich suchen wollen in fernen Landen, wohin das Licht des Glaubens noch nicht gedrungen. Anstatt dessen nahte ihm jetzt hier die Verfolgung, doppelt abstoßend, da sie auf christlichem Boden und in einer Stadt erstand, die sich die Königin der Civilisation nennt. Einen Augenblick schien es ihm fast unmöglich, sich geduldig der Ungerechtigkeit zu fügen, ohne der frechen Willkür kräftig entgegenzutreten. Aber ruhige Ueberlegung bewahrte ihn vor übereilten, nutzlosen Schritten.

Es folgten trübe, widerwärtige Tage für die Gefangenen. Zuerst fanden sie noch einigen Trost in der Gemeinsamkeit des Leidens, bald aber wurden sie getrennt und dem Abschaum der Menschheit beigesellt. Rother's frischer Geist war auch in diesen Tagen der Trost der Leidensgefährten, seine Elasticität verließ ihn selbst da nicht. Zu den widrigsten Momenten der Gefangenschaft gehörte die häufige Ueberführung von einem Gefängnisse zum andern. Meist begleitete eine Pöbelrotte die Gefangenen, wilde Verwünschungen gegen sie ausstoßend, ihnen Tod und Verderben drohend. Wenn Rother sich auf diese Weise durch die Straßen geführt sah, deren Bewohner in früherer Zeit seinen Brüdern stets Wohlwollen und Verehrung bewiesen, so begriff er kaum, warum nicht ein Freund sich fand, der ihnen zu Hülfe eilte, und höchstens mitleidige und erschreckte Blicke ihnen folgten. Aber der Bann des Schreckens ruhte auf der Stadt und zwang die Wohlgesinnten zu ängstlicher Zurückhaltung.

Die Todesdrohungen des Pöbels verloren durch die Wiederholung viel von ihrem Ernste. Die frommen Brüder und Rother vermochten, wie klar sie den stets sich steigernden Wahnsinn auch durchschauten, doch den Gedanken nicht zu fassen, daß man mit wehrlosen Männern, denen selbst im Sinne der jetzigen Regierung keine Schuld nachzuweisen war, zum Aeußersten gehen würde. Daß bei einem Pöbel-Exceß die blutigsten Thaten verübt wurden, ließ sich schon denken; aber daß man kalten Blutes ein Häuflein Menschen, ohne Richter und Vertheidiger zu hören, dem Tode preisgeben werde, schien unglaublich.

Freilich hätte ein Blick auf die Wächter der Gefangenen dieses Vertrauen erschüttern sollen. Die Offiziere sowohl wie die Soldaten, die zur Bewachung der Gefangenen verwandt wurden, waren meistens verkommene Subjecte, die sich zu diesem Amte gedrängt, wilde Gesellen aus den Arbeiter-Vierteln, in denen der Haß gegen alle Religion sich am tiefsten eingefressen. Aber selbst in dieser rohen Umgebung wußte Rother sich Theilnahme zu gewinnen, und klug nutzte er dieselbe aus, um sich Mittheilungen über die Lage der Dinge zu verschaffen. Das Volk brüllte zwar stets Siegesnachrichten, aber bei den letzten Ueberführungen hatte er bemerkt, daß Barricaden in der Stadt selbst entstanden; der Feind mußte also die Außenwerke genommen haben und näher gekommen sein. Es ging offenbar zu Ende.

Man hatte die gefangenen Geistlichen, welche man als »Geiseln« zu bezeichnen anfing, schließlich in eine Kirche gesperrt, welche vor kurzem »zu Staatszwecken« mit Beschlag belegt worden war. Vorübergehend stieg in Rother der Gedanke auf, ob nicht vielleicht durch den Einfluß Daniella's, welche er noch an der Spitze der Bewegung glaubte, für seine Leidensbrüder etwas zu erwirken sei. Aber es widerstand ihm, gerade ihren Schutz in Anspruch zu nehmen, und zudem befand er sich auch nicht in der Möglichkeit, ihr Nachricht zu geben.

Seit einigen Tagen hatte ein höherer Offizier den Befehl über die Wachtmannschaft, übernommen. Sein blasses Gesicht, das unverkennbar den semitischen Stempel trug, zeigte keinen unedlen Charakter. Aber aus den glühenden Augen funkelte eine solche Raserei, daß Rother's lebhafte Phantasie unwillkürlich an die fanatischen Helden der Zerstörung Jerusalems erinnert wurde. Dieser Offizier war es, der die Unterbringung der Gefangenen in die Kirche angeordnet hatte, in welcher sie nun die zweite Nacht verbrachten. Der Aufenthalt in der Kirche bot selbst in ihrem traurigen, entwürdigten Zustande der kleinen Schaar einen gewissen Trost, und die Brüder, meistens ältere Männer, verbrachten den größten Theil der Zeit im Gebete.

Rother hatte indessen keine Ruhe zu finden vermocht. Sein lebhaftes Temperament folgte den Ereignissen mit zu intensivem Interesse, als daß er Sammlung und stille Ergebung hätte gewinnen können. Jede Minute konnte irgend Neues bringen.

Beim Morgengrauen wurde er durch furchtbares Geschützfeuer aufgeschreckt, welches den Kanonendonner der frühern Belagerung weit übertraf. Die Versailler waren, wie er richtig vermuthete, zu einem allgemeinen Angriff auf die Stadt selbst übergegangen. Er wußte, daß dies baldige Rettung oder baldige Vernichtung bedeute – Rettung, wenn in der allgemeinen Verwirrung sich Gelegenheit zur Flucht bot, oder wenn ein rascher Sieg der Regierungstruppen noch rechtzeitig die Thore ihres Kerkers öffnete. Andernfalls aber – das verhehlte er sich nicht – würde die Menge, im Blute berauscht, den Tod der Gefangenen fordern.

Tod –? Warm floß das Leben in seinen Adern, und mächtig sträubte sich sein Inneres gegen den herben Gedanken. Der Tod! Er war noch so jung, und das Leben war so schön, und viele große, hohe Aufgaben schwebten ihm noch vor. Sollte er keine derselben lösen? Sollte er nie ausziehen in die Ferne, Seelen zu retten, nie eine fromme Schaar zu seinen Füßen sehen, die er der Heerde des Herrn zugeführt?

In der Kirche war es so kalt und still. Sie machte ihm plötzlich einen gruftartigen Eindruck. Gespenstisch grinste ihn das Bild des Todes an, des Todes in seiner widrigsten, schauervollsten Gestalt. Ihn zu erleiden in muthvollem Ringen, im Kreise der Lieben, im Dienste der Pflicht, in freiwilligem, hochherzigem Opfer für den Nächsten, das schien ihm leicht. Aber nun sollte er aus dem Leben gehen, zertreten wie ein schädliches Insect, einsam, vergessen, fern von allen denen, die er liebte!

Eine unsägliche Sehnsucht nach allem, was er verlassen, bemächtigte sich seiner: nach seiner Heimath, ihren Bergen mit den grünen Buchenwäldern, nach dem stillen Dorfe, wo die Gräber seiner Eltern waren, nach der Pflegemutter Blick und Wort, nach dem, der ihm von frühester Kindheit an mehr wie Bruder gewesen. Alle die trauten Gestalten, die im Leben ihm nahe getreten, zogen vor seinem geistigen Auge vorüber. Mein Gott! war es möglich, daß er von allen scheiden sollte? Es war, als wollte jeder Wunsch, jede Hoffnung noch einmal ihre Rechte geltend machen. Er sah sich wieder als das spielende Kind, dem jeder entgegengelächelt, als jubelnden Knaben, als strebsamen Jüngling, dem man eine große Zukunft weissagte, dem die Welt fast zu eng dünkte. Er sah sich wieder in dem düstern Zimmer, wo das Mädchen mit den dunkeln Augen ihn durch den Zauber der Kunst gebannt hielt, um ihn später zu fesseln mit noch süßerm Zauber; und dieses Mädchen hatte jetzt vielleicht sein Schicksal in der Hand! Er hatte oft von ihr reden hören als einer der Hauptheldinnen dieser Zeit. Eigenes Geschick! Der Mund, der ihm einst von Liebe gesprochen, sprach jetzt vielleicht sein Urtheil; die Hand, die er einst nur zu ergreifen brauchte, um sie festzuhalten für das Leben, besiegelte jetzt vielleicht seinen Tod. Hatte er denn nichts erreicht, hatte er nicht einmal diese eine Seele auf den rechten Weg zu führen vermocht, und hatte sie seine Bahn nur gekreuzt, um ihn zu vernichten? Wäre es anders geworden, wenn er damals jener süßen Stimme gefolgt, wenn er den leichtern Weg gewählt hätte, wo die Welt mit all ihren Gaben winkte? O, das Leben ist süß! Und einen Moment sah er sich wieder wie an jenem Abende, wo er neben ihr stand, wo die Welt ihnen zujauchzte und Ruhmeskränze spendete. Aber das lockende Bild verschwand, und freudig gedachte er, daß ja eben jener Zauber, jener Ruhm ihm nicht genügt, daß alles dieses sein Herz nicht auszufüllen vermocht, daß er geprüft und gewählt, bis in leuchtender Erkenntniß das eine hohe Ziel vor ihm gestanden. Er sah sich wieder dem Freunde gegenüber, dessen ernstem, forschendem Blicke er antworten konnte, daß nur die höchste Liebe ihn erfülle. Hatte er denn darüber zu entscheiden, ob sein Tagewerk kurz oder lang sein solle? Hatte er sein Leben nicht zum Opfer gebracht, und war es nicht Sache des Herrn über Leben und Tod, ob er das Opfer forderte in seiner unscheinbarsten, demüthigsten Gestalt oder umstrahlt vom Glanze des Heroismus? Vielleicht hatte er zu hoch von seinen Gaben gedacht und es verdient, daß der Herr ihm die schönste Palme versagte. Aber starb er nicht auch jetzt wegen des Glaubens, konnte sein Blut nicht vielleicht jenen zu Gute kommen, die es jetzt im Wahnsinn der Bosheit vergossen? Und wieder dachte er des Mädchens mit den dunkeln Augen: was sie denken würde, wenn sie von seinem Tode höre, den sie vielleicht mit veranlaßt? Ob sein Tod sie denn zur Erkenntniß bringen, ihr zeigen werde, worin sie gefehlt? Dem Heil der Seelen hatte er sein Leben geweiht; war es nicht genug, wenn er auch nur jene eine Seele gewann, die seinetwegen vom Lichte sich noch mehr abgewandt hatte?

Der wilde Aufruhr, der zuerst das junge Herz durchbrauste, legte sich. Er konnte endlich mit Ruhe seinem Schicksale in's Auge sehen. Er hatte weder die Kugeln gefürchtet auf dem Schlachtfelde, noch vor dem Tode gebebt am Krankenbette; warum sollte er hier ängstlich zagen? Für einen hohen Gedanken hatte er gelebt, und das war ja, wie sein Vater ihm einst gesagt, das höchste Glück. Mochte der Herr nun das Leben fordern: es war so reich gewesen und so schön. Noch einmal, aber jetzt nicht in herber Bitterkeit, sondern in sonnigem Lichte, zog alles an ihm vorüber, was ihm schön und hoch und theuer gewesen. Noch einmal nannte er all' die Namen, die in seinem Herzen eingeschrieben waren. Das Auge, das eben noch so starr zur Erde geblickt, strahlte wieder; das Haupt, das so matt sich gesenkt, hob sich empor.

Aber wenn er auch dem Tode fest Auge schauen konnte, wollte er dennoch nichts unversucht lassen, um sich und den Gefährten das Leben zu erhalten. Die Wachen, welche sonst die Gefangenen immer mit unverschämter Zudringlichkeit störten, hatten sie in den letzten Stunden gänzlich unbeachtet gelassen. Nur das Lärmen vor der Thüre zeigte ihre Anwesenheit an. Gewandt erklomm Rother eines der hohen Fenster. Er vermochte nicht weit zu sehen, doch bemerkte er, daß die Menge in den Straßen in großer Erregung war. Fliehende und Neugierige sammelten sich immer dichter. Offiziere überbrachten Botschaften und feuerten zum Widerstande an. Dabei schien es Rother, als sehe er über den Dächern Rauchwolken emporsteigen. Der Führer der Wache war indessen besonders geschäftig, und gerade die wildesten Gestalten schaarten sich um ihn. Offenbar ging etwas Wichtiges vor.

Rother verließ seinen Standpunkt, um den Genossen seine Beobachtungen mitzutheilen. Er wollte sie ermahnen, sich bereit zu halten, wenn vielleicht ein günstiger Augenblick zur Flucht sich biete. Sein flammendes Auge suchte nach etwas, das als Waffe dienen könne in seiner jungen, starken Hand, um den Weg zu bahnen. Seine Geführten waren meistens ältere, schwache Männer, die ihre Kraft im Dienste des Nebenmenschen aufgebraucht hatten; die Tage der Entbehrung und Aufregung hatten sie noch hülfloser gemacht. Auch die übrigen Gefangenen waren zum Theil stumpf und ermattet von den Leiden der letzten Woche, doch hätte vielleicht Rother's Wort sie noch zu irgend einem Entschlusse angefeuert.

Da wurde plötzlich die Thüre geöffnet: der Führer der Wache trat ein, den Ausdruck des wildesten Fanatismus in den Zügen; ein Haufe von Bewaffneten in Uniformen der abenteuerlichsten Art folgte ihm, indeß das Volk massenhaft nachdrängte. Rother und seine Mitgefangenen hatten sich unwillkürlich auf die Stufen des Altares zurückgezogen, als des Führers lautes Commando Stille gebot. Er verlas ein kurzes Decret. Es war das Todesurtheil der Gefangenen, sogleich auf der Stelle zu vollstrecken. Einige Schlagwörter von Verräthern des Vaterlandes, von Tyrannen und Bedrückern des Volkes, von der glorreichen Republik, welche ihre Feinde zu vernichten wisse, riefen das wilde Jauchzen des Pöbels hervor.

Die Brüder sammelten sich zu stillem Gebet. Rother hatte den schweren Kampf schon durchgekämpft und seine volle Fassung, des Mannes und mehr noch des Priesters würdig, gewonnen.

Sobald das Decret zu Ende gelesen war, trat er auf die oberste Stufe des Altares, wies mit kraftvoller Stimme die Anschuldigungen zurück und sprach, trotz der ungerechten Verurtheilung, denen, die das Blut Unschuldiger forderten, die Verzeihung ihrer Opfer aus. Einen einzigen Augenblick erbat er noch für sich und seine Gefährten, damit sie sich vorbereiten könnten, ehe sie vor dem Herrn der Welt erschienen. Seine schöne Gestalt, sein blitzendes Auge, sein muthiges Auftreten, die Feierlichkeit, mit der er die Bitte aussprach, imponirten selbst dieser brutalen Menge, die für einen Moment der Würde des Augenblicks gerecht wurde, den Rother gefordert hatte zur Vorbereitung für die Ewigkeit.

Mit wunderbarer Ruhe wußte der junge Priester die Frist auszunutzen. Laut und klar erhob er seine Stimme und sang die Worte, die er einst das Fundament des christlichen Glaubens genannt, die Worte, in denen der Mensch in demüthigem Bekennen die Gerechtigkeit seines Schöpfers bezeugt und Seine Verzeihung anruft: »Confiteor Deo omnipotenti,« klang es ernst und erhaben, und »Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!« hallte es feierlich durch die hohe Wölbung.

Alle Leidensgenossen hatten sich um Rother geschaart und stimmten mit ein, gefaßt und erhoben durch seine Ruhe, durch jene Mahnung, jetzt nur der eigenen Schuld zu denken, um in Frieden in die Ewigkeit einzugehen, – keiner, der das Haupt nicht neigte, der nicht reuig an seine Brust schlug. Ein Strahl fast seliger Freude brach aus Rother's Augen, wie er da stand, umgeben wie ein Hirt von der Heerde, als sei sein letzter Wunsch erfüllt.

Im selben Augenblicke gellte ein wilder Schrei durch die Kirche, und ein Weib bahnte sich den Weg durch die Menge, bleich und athemlos. Die Kleidung der Frau war zerrissen, eine rothe Schärpe hing in Fetzen von der Schulter, die Hand umklammerte ein Papier, das sie hoch empor hielt. Sie schien den Führer der Wache erreichen zu wollen; ihre Lippen bewegten sich zitternd, aber kein Ton fand mehr seinen Weg aus ihrer beklemmten Brust.

Der von Rother errungene Moment des Aufschubs war vorüber. Ein kurzes Commandowort: – die Mannschaft trat vor, während Rother noch die Worte der Absolution für die um ihn Knieenden sprach. Ein zweites Commando, und die Schüsse knatterten. Salve folgte auf Salve. Einen Moment hatte Rother noch aufrecht gestanden, dann war er zusammengesunken gleich seinen unglücklichen Gefährten.

Das mordlustige Geheul der Rotte, womit sie den Tod der »Verräther des Vaterlandes« begrüßte, übertönte das Aechzen der Sterbenden, übertönte auch das dumpfe Stöhnen des Weibes, das trotz aller Anstrengung den Führer nicht zeitig genug hatte erreichen können und nun besinnungslos zu seinen Füßen niedergesunken war. Oberst Josephson bemerkte es kaum; er hatte keinen Blick und keine Zeit mehr für ein solch kleines Ereigniß.

Der Rache-Act war vollführt, die glorreiche Republik hatte die Frevler bestraft: mochten »die blutigen Vandalen« kommen, sie sollten nur Todte und rauchende Trümmer finden.

Josephson war seinem Evangelium treu geblieben; nicht umsonst hatte er in diesen Tagen so rastlose Thätigkeit entwickelt. In Blut, hatte er gesagt, müsse die Welt sich wandeln und in den Flammen sollte untergehen, was seinem Traume sich widersetzte: das war die Erlösung, die er den Menschen bringen wollte. Kaltblütig überzeugte er sich, ob die Opfer wirklich geendet hatten; keinen Blick aber hatte er für das Weib zu seinen Füßen, welches die rohe Menge zertreten hätte, wenn nicht ein Soldat sie mitleidig zur Seite geschoben; er sah sie nicht, wie sie da lag, bleich und entstellt, fast wie jene Todten dort an dem Altare. Und doch hatte Dr. Josephson ihr so oft zu Füßen gelegen, hundert und aber hundert Mal hatte er geschworen, daß ihre Augen sein Licht und sein Leben seien! Zeiten hatte es gegeben, da die Berührung ihrer Hand seine Seligkeit ausmachte; aber sein Herz hatte jetzt eine andere Huldin erwählt, ihn lockten andere Flammen als die Gluth aus Frauenaugen.

Schon seit dem vorhergehenden Tage wüthete der Kampf an den Thoren; die Versailler Armee drang siegreich vor, und die Wuth der Geschlagenen steigerte sich zum Wahnsinn. Der Erzbischof, viele Priester und zahlreiche sonstige Gefangene waren als Opfer gefallen. Die Flammen, welche Dr. Josephson prophezeit, lohten schon an vielen Stellen empor, und er war noch in voller Arbeit, um überall hin die Fackel der Vernichtung zu tragen, er, der die Welt zu einem Paradiese des Genusses und der Freiheit hatte machen wollen.

In der Kirche war es still, nachdem die wüste Menge die Hallen verlassen hatte, um ihre Neugier an neuen, grauenhaften Scenen zu werden. Es gab nichts zu rauben bei diesen armen Brüdern, deshalb blieben ihre Leichen unentweiht. Gleichgültig ließ man sie liegen, wo die Kugel sie hingestreckt. Das Blut rann langsam die Stufen des Altares herab und tränkte die altersgrauen Steine, die vielleicht selbst zur Zeit der Schreckensherrschaft im vorigen Jahrhundert keine solche Greuel gesehen hatten. Dann brach die Sonne, die trotz alles Grauens, das der Mensch über die Erde verbreitet, mit ihrem Strahl die Stätte der Freude wie die des Kummers sucht, durch die bunten Scheiben; sie goß ihr Licht über die blassen Gesichter, spielte auf den Locken Rother's und auf dem grauen Haar seiner Genossen, und traf endlich auch das bleiche Antlitz der ohnmächtigen Frau.

Langsam öffneten sich die Lider und die Augen starrten in dem fremden Raume umher. In der Bewußtlosigkeit war ihr die Erinnerung entschwunden von dem, was hier vorgegangen; sie wußte nicht, wo sie sich befand. Mühsam sammelte sie ihre Gedanken, und weit gingen sie zurück in die Vergangenheit. Auch als Kind hatte sie einst einen solchen Raum betreten, so hoch und feierlich; da hatte sie neben der alten Jetta gekniet, da hatte die Orgel gebraust und er so schön gesungen die seltsamen Worte.

Hatte sie nicht dieselben Worte eben noch singen gehört? oder hatte sie nur geträumt? Der Kopf war ihr so wüst. Wer hatte gesungen? Er, Rother, »der wie ein Engel sang,« – ja, so sagte die alte Jetta; er, der gewollt hatte, daß sie ihre Schuld bekenne: Rother! Ein heißer Schmerz durchzuckte sie, und trotz ihrer Mattigkeit suchte sie sich hastig auszurichten. Wo war sie denn? Hatte sie nicht Rother gesucht, hielt sie die Schrift nicht noch in Händen, die ihm Freiheit und Rettung bringen sollte? War sie nicht von einem der Gewalthaber zum andern geeilt, um das Freilassungs-Decret zu erhalten? War sie nicht einen Tag und eine Nacht rastlos umhergewandert, um ausfindig zu machen, wo der Gefangene geblieben? Auch den Dr. Josephson, welcher das Commando über die Gefangenen bekommen, hatte sie vergeblich aufgesucht, um ihm das Freilassungs-Decret zu übergeben. Dr. Josephson hatte ja beantragt, daß die Geiseln fallen sollten, und andere hatten erzählt, der Erzbischof sei todt, und die Priester seien todt, – und Rother war ja ein Priester! Aber Rother durfte man nichts anhaben, Rother war ein Deutscher; es galt nur, sich zu beeilen, um Dr. Josephson zu finden.

Und das müde Weib erhob sich mühsam, sie mußte fort, um das zerknitterte Papier, welches die Hand krampfhaft festgehalten hatte, zu überbringen. Seltsam nur, daß sie hier weilte und daß es so still hier war!

Wirr flogen ihre Blicke umher in dem Raume, bis sie aus der Gruppe der Todten am Altäre haften blieben.

Was waren das für Gestalten, die da lagen, vor denen ihr schauderte und zu denen es sie doch unwiderstehlich hinzog. Näher und näher ging sie und beugte sich nieder über die Gesichter der vom Blei Hingestreckten. Sie starrten ihr alle so fremd entgegen. Aber den da auf der obersten Stufe, – kannte sie diesen Mann nicht, mit den blonden Haaren, die in den langen Wochen der Gefangenschaft wieder zu Locken geworden? Kannte sie das Antlitz nicht, welches von einem Lächeln noch umspielt schien und jetzt glühte in der scheidenden Sonne Abschiedsgruß, – das Antlitz, von dem sie wachend und schlafend geträumt, das seit ihrer Kindheit ihr gelächelt?

Wie oft hatte der Mann, der jetzt so still da lag, Worte des Friedens und des Glückes zu ihr gesprochen! Hatte er recht gehabt? Die Welt kam ihr so häßlich vor, weil sie seinen Worten nicht gefolgt, seitdem sie sich von ihm abgewandt. Die Menschen waren alle so wild, und sie fühlte sich so müde und abgehetzt …. O, wie lange hatte sie ihn nicht gesehen! …. Warum lag er jetzt hier so regungslos?

Sie war vor ihm hingekniet, und ihre Hand tastete nach den Locken, tastete sanft über die kalte, stumme Gestalt, bis sie plötzlich schreiend zurückfuhr. Sie hatte die Todeswunde mit der Hand gestreift. In der Brust saß die Kugel, die seinem Leben ein Ende gemacht. Einen Augenblick noch starrte Daniella auf ihre blutige Hand. Dann stand plötzlich die ganze schauerliche Scene ihr wieder vor den Augen: wie sie mit äußerster Anstrengung hier eingedrungen, der Gesang, das Knattern der Gewehre. Sie wußte jetzt wieder, warum sie hierher geeilt und daß sie zu spät gekommen, um zu sühnen, was sie mitverschuldet.

»Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!« ging es ächzend über ihre Lippen, und sie sank hin über die Leiche desjenigen, der ihr alles gewesen, und dessen Blut jetzt an ihren Händen klebte.

Wiederum war eine Nacht vergangen, als es aufs neue geräuschvoll wurde in der alten Kirche. Tag und Nacht war zu viel der blutigen Arbeit gewesen, als daß man der Todten hätte gedenken können. Während sie so still da lagen, hatte weithin über die große Metropole das Feuer gewüthet. Die wahnsinnige, nichtswürdige Zerstörungswuth, die Frankreichs älteste und schönste Monumente vernichtete, hatte den Zorn der Soldaten entflammt. Auch die Kunde von dem an unschuldigen Menschen, die man »Geiseln« benannt hatte, verübten Morde war zu ihnen gedrungen und hatte tiefe Erbitterung erzeugt. In Wahrheit schien der Rache-Engel über der Stadt zu schweben. Niemand hat die Todten gezählt, die diese furchtbaren Tage gekostet.

De Bussy war unter den stürmenden Truppen, und in seinem Herzen kochte der Ingrimm gegen diese Menschen, deren Treiben er seit Jahren erkannt, und die, wie sie den Namen der Christen abgestreift, auch die Menschenwürde und die menschliche Vernunft in den Staub traten.

Es war ihm nicht schwer gewesen, Helenens Bitten nachzukommen und jenen Brief an Daniella, deren Agenten im Versailler Lager bekannt waren, gelangen zu lassen. Bei der raschen Entwickelung der Katastrophe wußte er jedoch nicht, ob derselbe angekommen sei, noch ob er Erfolg gehabt. In den schrecklichsten Stunden hatte er aber Rother nicht vergessen. Da die Ignorantins zu den bekanntesten Genossenschaften gehörten, wurde es ihm möglich, die Spur des deutschen Priesters zu verfolgen. Am andern Tage entdeckten in der entweihten Kirche einige Versailler Soldaten die Leichen der dem Hasse der Communards dort zum Opfer Gefallenen und fanden ein Weib besinnungslos über einen der Gemordeten hingestreckt. Das Papier in ihrer Hand gab die Aufklärung. Der Name »Rother« in dem Freilassungs-Decret constatirte die Persönlichkeit. Dieses Papier schützte das Weib vor der Wuth der Soldaten, obschon es die verhaßte rothe Schärpe trug. Man begnügte sich damit, sie in Haft zu nehmen. Niemand hätte in dem entstellten Antlitz, in dem zerfetzten Anzuge die einst so schöne, glänzende Daniella geahnt.

De Bussy war tief erschüttert, als er die Meldung erhielt. Alsbald eilte er selbst zur Stelle und erkannte das Antlitz des Freundes. Seine erste Sorge war, den Leichnam in Sicherheit bringen zu lassen, das letzte, was er thun konnte für die, welche den Gemordeten liebten, und denen er nur eine Trauerkunde zu senden hatte. Die Wirkung des jähen Schreckens für Frau von Velden fürchtend, richtete er seinen Brief nach Asten, tief beklagend, daß seine Mission keinen Erfolg gehabt. Wer diejenige sei, die man in der Kirche neben dem Todten halb entseelt gefunden, sagte ihm eine Ahnung. Doch nahmen in den ersten Tagen seine Pflichten ihn zu sehr in Anspruch, als daß er Muße gefunden hätte, irgendwie Näheres festzustellen.


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