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14

Velden war wieder daheim. Seine Mutter und Rother hatten ihn bei der Ankunft jubelnd empfangen. Frau von Velden sah mit großem Stolz an dem ritterlichen Sohn empor, der in der militairischen Ausstattung, mit dem wettergebräunten Gesicht so recht männlich aussah. Aber nicht allein das Wetterbraun gab dem Antlitze des jungen Kriegers eine größere Bedeutung. In den wenigen Monaten, die verflossen waren, seit das erste Grün in den Buchenwäldern um Burghof sproßte, bis jetzt, wo der Herbstwind die letzten Blätter herabwehte, war die Welt durch eine ganze Phase geschichtlicher Entwickelung gegangen, und auch für ihn hatte ein Stück Lebensgeschichte sich abgespielt. Die ersten Kämpfe des Herzens hatten ihn berührt; zu den ersten Thaten hatte der Krieg ihn aufgerufen, zum ersten Male waren die blutigen Schrecken des Schlachtfeldes an ihm vorübergegangen, und der Stolz des Erfolges, das Gefühl, bei großen Thaten mitgewirkt zu haben, hatten sein Gemüth erhoben. Ereignisse, die bedeutend genug waren, ein Jahrzehnt auszufüllen, hatten sich in wenige Monate zusammengedrängt, und jeder einzelne empfand etwas von der erschütternden Bewegung der Zeit.

So abgeschlossen Hermann's Aeußere erschien, barg sein Herz doch eine Weichheit, auf die solche Eindrücke mächtig wirkten. Das bei ihm erwachte Interesse für größere Zwecke ließ die Vorliebe. für sein ruhiges Heim dieses Mal nicht wie sonst zur Geltung kommen, während bisher jeder Baum seines Waldes, jede Scholle des Landes, jeder Ziegel auf dem Dache seiner alten Heimath ihm von der größten Wichtigkeit gewesen war. Zum Theil auch entsprang diese Aenderung der Unruhe des Herzens, die er bezüglich Helenens empfand. Seit jenem Besuche Holdern's hatte sich dieselbe wieder gesteigert. Helenens zeitweiser Eintritt in das Kloster hatte etwas Mystisches, und Graf Asten's Ansprüche zeigten sich ihm auch in anderem Lichte durch die Verlobung Henny's. Wenn der Graf in solchem Maße nach Reichthum und Besitz für seine Töchter strebte, dann sanken Hermann's Aussichten sehr, da er nur Bescheidenes zu bieten hatte.

Zum großen Staunen seiner Mutter schien Hermann wenig Neigung zu verspüren, die alten Freunde aufzusuchen und das neue Brautpaar zu begrüßen. In der Freude ihres Herzens hatte sie die glückliche Heimkehr des Sohnes sofort nach Asten gemeldet und auch besonders an Helene geschrieben.

Vom Grafen war ihr die Antwort in der gewohnten freundschaftlichen Weise sofort geworden. Auch Helenens Antwort war freundlich; doch klang es etwas kühl, daß sie nur die Mutter zu der glücklichen Ankunft des Sohnes beglückwünschte. Sie fügte hinzu, daß sie für's erste darauf verzichten müsse, den Freund zu begrüßen, da sie noch in Bornstadt festgehalten sei.

Frau von Velden hatte nur mädchenhafte Scheu in Helenens Zurückhaltung gesehen und beide Briefe ihrem Sohne zu lesen gegeben, in der Ueberzeugung, ihm damit eine Freude zu machen. Aber seine Abneigung gegen den Besuch in Asten schien dadurch eher noch zugenommen zu haben. Der Mensch scheut meist nichts so sehr, als der Aufklärung einer besorgnißerregenden Ungewißheit entgegenzutreten.

Dem Umgange mit Rother dagegen gab Velden sich mit unbefangenem Genusse hin. Im Gespräche mit dem Freunde auf den Schauplätzen ihrer Jugendspiele sich zu ergehen, schien Hermann die beste Erholung nach den Strapazen des Feldzuges. Die Beiden stimmten in gewisser Beziehung jetzt sogar besser als früher zusammen, da Hermann nicht mehr so ausschließlich am engen Cirkel persönlicher Interessen klebte und mit Rother sogar die Zeitbewegung besprach, die vielfach Beunruhigendes für ihn hatte. Rother mit seinem frischen, frohen Blick sah in den jüngsten Ereignissen die Lösung eines jener großen Probleme, wie sie von Anbeginn der Zeiten auftauchten und durch Gottes Fügung stets entwirrt wurden.

Hermann hatte sich vorgenommen, mit seinem Freunde sehr entschieden über dessen Verhältniß zu Daniella zu reden; aber da er hörte, sie sei abgereist, und Rother auch mit keiner Silbe weiter ihrer erwähnte, unterließ er es. Von seiner Unruhe in Betreff Helenens machte er ihm auch keine Mittheilung. Außer Rother's warmer Schilderung von Helenens Tüchtigkeit und Aufopferungsfähigkeit wurde in dieser Beziehung nichts zwischen den Freunden gesprochen.

Die Freundschaft des Mannes beruht weniger auf gegenseitiger Aussprache, im Gegensatz zu der des Weibes, die oft ihren Grund einzig darin hat. Dem Manne genügt meist schon das Gefühl des Zusammenseins, des gemeinsamen Handelns, des Austausches von Gedanken, die aber weniger das Persönliche berühren; selten sind die Stunden, wo er das Eis der Verschwiegenheit sprengt.

Ein neuer Brief des Grafen Asten, wie der Umstand, daß Rother's Urlaub zur Neige ging, mahnte Hermann indessen ernstlich an den verschobenen Besuch auf dem Schlosse, und ungeachtet des noch wenig günstigen Wetters brach er mit seinem Freunde dahin auf. Als die bekannte Umgebung wieder vor ihm auftauchte, zog aber unwillkürlich auch das alte, freudige Gefühl wieder bei ihm ein. Es dünkt Einem fast unmöglich, daß die Menschen sich könnten geändert haben, wenn man alles andere in der alten Lage antrifft.

Selbst die Gestalt des alten Ebert und dessen zutraulicher Gruß erhöhte das Gefühl. Der Herr Baron habe so lange auf sich warten lassen, und der Herr Graf wie alle Andern hätten so oft nach ihm gefragt, meinte der Alte fast scheltend. »Freilich fände er heute …,« aber Hermann erfuhr nicht, was er finden sollte, da in diesem Augenblicke Graf Asten selbst in das Vorhaus trat. In seiner herzlichen Weise ihn lebhaft bewillkommnend, ließ der Graf ihm kaum die Zeit, den regenschweren Mantel abzuwerfen und schob ihn in den Salon, seine endliche Ankunft mit mächtiger Stimme der Gesellschaft verkündend.

Hermann's Blick überflog rasch den Kreis der Versammelten, aus dem Baron Werthern sofort sich löste, um in seiner neuen Eigenschaft als Mitglied der Familie den Freund zu begrüßen. Froh sprang das Bräutchen ihm nach, »damit das Brautpaar sich auch gleich als schönes Ganzes vorstelle«, wie Henny lustig bemerkte.

Hermann versuchte das herzliche Willkommen zu beantworten und seinen Glückwunsch auszusprechen. Aber sein Blick haftete, als wage er den Augen kaum zu trauen, auf der schlanken Gestalt, die sich gleichfalls hinter dem großen Tische erhoben hatte und ihm zur Begrüßung entgegentrat.

Die Ueberraschung war zu mächtig für Hermann; Helene zu sehen hatte er nicht erwartet. Die lieblichen Züge, die ihm so oft vorgeschwebt in den letzten Monaten, nach denen er sich so gesehnt, verwirrten ihn; wie hatte er ihrer zweifelnd und hoffend gedacht!

Helene begrüßte indessen zuerst Rother, der ihr zunächst stand. Dieser behauptete, als Krieger ohne Lorbeeren und ohne die Stadt nur verlassen zu haben, verdiene er gar keine Beachtung. Die wenigen Augenblicke, welche dieser Zwischenfall in Anspruch nahm, gaben Velden die Fassung wieder. »Ich dachte, du seiest schon längst ein Mal bei Papa gewesen«, sagte Helene jetzt, in gewohnter Weise ihm freundlich die Hand zum Gruße bietend. Aber für Hermann's überwallendes Gefühl erschienen ihre Worte kühl und zurückhaltend. Das lustige Geschwirr von Reden um ihn her gab ihm aber wenigstens die beruhigende Ueberzeugung, daß sein Schweigen unbemerkt bleiben werde.

»Unsere barmherzige Schwester findest du heute auch hier,« rief Graf Asten gut gelaunt herüber. »Du hast dir sicherlich Nachrichten darüber verschafft – denn erst seit vorgestern ist sie hier. Wir mußten sie aus dem Lazareth zurückholen; denn wir hatten selbst Lazareth. Ein Liebespaar aber ist zu nichts tauglich.«

»O, Papa, – du undankbare Seele!« warf Henny ein. »Philipp und ich haben dich doch zwei Tage lang so rührend gepflegt.«

»Und Tante Christiane ist krank, und Herbert ist krank,« zählte der Graf auf. »Für all' diese Hülfsbedürftigen konnte Helene wahrhaftig ihre Verwundeten im Stich lassen. Man hat schrecklich viel Umstände um euch gemacht, Jungens! Da du mit gesunden Armen und Beinen kommst, giltst du übrigens gar nichts mehr bei meinem Töchterchen,« lachte der Graf. Er war froh, nach so langer Zeit den gewohnten Kreis wieder um sich zu sehen.

»Also nur noch barmherzige Schwester?« bemerkte Hermann in dem Gefühl, doch etwas zu Helene sagen zu müssen. Unfreiwillig klangen die Worte bewegt.

»Das wollen wir nicht hoffen, daß unsere süße Helene in dem Berufe ganz aufgeht«, sagte da plötzlich eine Velden fremde Stimme.

Jetzt erst bemerkte er die Anwesenheit einer Dame, deren kleine Gestalt in einem mächtigen Fauteuil versteckt gewesen war, in diesem Augenblick aber zuthunlich an Helene herantrat.

Velden errieth, daß es Fräulein von Holdern war, und der Gedanke drängte sich ihm auf, ob es denn im Asten'schen Hause unmöglich geworden, diesem Namen auszuweichen.

Fräulein von Holdern versicherte ihm in sehr liebenswürdiger Weise, wie oft sie schon von ihm gehört, so daß sie ganz neugierig gewesen, seine Bekanntschaft zu machen. Ihr Bruder, plauderte sie weiter, habe ihr von seinem Besuche bei ihm auf dem Kriegsschauplatze und von seinen Kriegsthaten erzählt, wie sie auch ihrer lieben Helene mitgetheilt; die habe indeß ihre Zeit doch schöner zu verwenden gewußt, indem sie die Wunden lindern half, die man dort grausam geschlagen.

Ungeachtet Fräulein von Holdern Hermann's so liebenswürdig erwähnte, war diesem in alledem nichts interessant, als die in Carry's Redewendungen stets wiederkehrenden zueignenden Fürwörter in Bezug auf Helene, deren Berechtigung er nicht recht einzusehen vermochte.

Helene schien jedoch Carry's Vertraulichkeit nicht zurückzuweisen; sie ließ ihre Hand lange in der der Freundin ruhen. Das ihr gespendete Lob scherzhaft ablehnend, versicherte sie, ihr Verdienst um die Pflege der Verwundeten sei sehr gering, da sie fast nur andern Beschäftigungen zugewiesen worden sei; ein großer Theil des Lobes, das ihr geworden, gebühre Tante Christiane, da sie dieser die häuslichen und wirthschaftlichen Kenntnisse verdanke, die man bei ihr so besonders gewürdigt habe; da Henny sie aber darin stets übertroffen habe, schloß sie heiter lachend, dürfe Schwager Werthern in Bezug aus sein häusliches Wohl die rosigsten Hoffnungen hegen.

Schwager Werthern gab seiner Freude über die glänzenden Aussichten auch lauten Ausdruck, obgleich Henny die Achseln zuckte und behauptete, in solchen Klösterchen sei stets alles so genau geordnet, daß sie der Schwester Lorbeeren nicht sehr hoch anschlagen könne. Ihr sei alles systematisch Geregelte widerwärtig, fuhr sie fort; es habe etwas Einschläferndes, und sie werde es nie auskommen lassen; allwöchentlich müsse irgend eine gründliche Umwälzung in ihrer Haushaltung vorgenommen werden. Dieser kühne Vorsatz flößte ihrem Bräutigam solches Entsetzen ein, daß es zu einer flüsternden Auseinandersetzung zwischen den Brautleuten kam, wobei sie die Gelegenheit wahrnahmen, sich der Beachtung der Uebrigen zu entziehen.

Hermann konnte nicht finden, daß Henny irgendwie den Eindruck eines Opferlammes mache; er mußte zugeben, daß Werthern die Würde seiner Jahre sehr anmuthig seiner neuen Stellung anzupassen wußte, und es wäre ihm schwer gewesen, zu entscheiden, wer den entschiedensten Ausdruck von Glück zeigte, ob die kindliche Braut, oder der gereifte Mann.

Ebenso mußte Velden freudig anerkennen, daß die Aufgabe, welche Helene sich selbst auferlegt hatte, ihr sehr wohl bekommen war; nichts Düsteres oder Ernstes war von ihrem Klosterleben haften geblieben. Sie zeigte eine größere Heiterkeit, als selbst im letzten Frühjahr, und nahm lebhafter als damals an der allgemeinen Unterhaltung Theil. Auch wandte sie sich jetzt öfter an ihn. Alles wäre nach Hermann's Sinn gewesen, weit mehr, als er erwartet hatte, wenn nur nicht Fräulein von Holdern so ganz Helene in Beschlag genommen und zugleich mit ihrer dünnen Stimme den Löwen-Antheil an der Conversation siegreich behauptet hätte.

Rother's Gedanken über Fräulein von Holdern waren nicht freundlicher und milderten sich nicht, als sie im gewohnten süßlichen Tone mit der Frage sich an ihn wandte, ob seine Freundin, das interessante Judenfräulein, wirklich Bornstadt verlassen habe. »Ein seltsam excentrisches Wesen,« fuhr sie fort. »Daß sie das Werk, welches sie von Anfang so eifrig unternommen, nicht zu Ende führen würde, ließ sich erwarten. Jetzt schwärmt sie wohl schon für irgend einen neuen Gedanken. Mein Bruder, der sie bei ihrer Abreise zufällig auf dem Bornstädter Bahnhofe traf, erzählte mir, sie habe die Absicht ausgesprochen, in der nächsten Zeit in die französische Hauptstadt überzusiedeln. Sie, als ihr Freund und Lehrer, werden ja wohl ganz in dem Vertrauen der schönen Dame sein?« fragte sie Rother.

»Ihr Herr Bruder scheint jedenfalls höher in ihrem Vertrauen zu stehen«, gab Rother mit mehr Schärfe zurück, als seinem freundlichen Wesen sonst eigen war. »Ich habe nur von Fräulein Daniella's Heimreise gehört und weiß nichts von ihren ferneren Plänen. Daß sie ihrer Sache untreu geworden, kann man übrigens nicht behaupten; bis zuletzt hat sie ihr Werk mit Umsicht und seltener Thätigkeit geleitet, und jetzt war ihre Aufgabe vollständig gelöst.«

Rother hatte so lebhaft gesprochen, daß Fräulein von Holdern's Ausruf: »Welch' treuer Ritter!« fast gerechtfertigt erschien. Mit ihren seinen, spitzen Fingern Helenens Hand immer wieder liebevoll streichelnd, fuhr Carry fort: »Fräulein Daniella's Leistungen in Ehren; aber sie hat wohl nicht mehr gethan, als Andere, die sich vielleicht nur weniger in's Licht stellten!« Mit einer bewundernswerthen Geschicklichkeit wußte sie alles auf Helene zurückzuführen.

Helene selbst trat jedoch für Daniella ein. Sie erzählte, wie viel Gutes ihre Energie und Klugheit geschaffen, wie beliebt sie gewesen, und wie man sich unwillkürlich ihr untergeordnet habe. Sie erwähnte auch des Zusammentreffens mit ihr. »Sie hatten damals Recht, Rother, als Sie von den Murillo-Augen sprachen«, sagte sie. »Sie ist wahrhaft schön geworden. Ich mußte so lebhaft des Tages denken, wo Sie uns zuerst von ihr erzählten und das alte schwarze Haus zeigten! Sie ist jetzt vollkommene Dame; aber es war mir doch etwas eigen, daß ich ihren Befehlen nachkommen sollte – ich gedachte des kleinen Judenmädchens aus der Domgasse. Es war die echte Novizenprobe!« meinte sie mit einem offenen, herzlichen Lachen.

Velden faßte jene Situation ernster auf; sie dünkte ihm unter Helenens Würde. Er hatte das Wort »Novize« aufgegriffen und bemerkte, die Schwestern hätten doch kein Recht gehabt, Helene einem solchen Moment auszusetzen. Daniella's Einmischung in die hiesigen Verhältnisse fand er arrogant, und meinte, es wären gewiß tüchtige Kräfte genug vorhanden, welche die Hülfe fremder Eindringlinge, besonders israelitischer Abkunft, unnöthig machten.

Aber Carry Holdern's Fächer berührte wie strafend seinen Arm. »Man darf in unsern Tagen nicht so engherzig urtheilen, mein Lieber. Das müssen Sie uns Alten mit den verrosteten Ansichten überlassen. Ich bewundere meines Bruders Einsicht ungemein darin, daß er Fräulein Daniella's gute Eigenschaften so vortheilhaft zu verwenden wußte. Er hat durch ihren Einfluß große Summen für seine armen Krieger erhalten. Er sandte mich einige Male zu dem eigenthümlichen Mädchen, und das hat stets goldene Früchte getragen, die er dann persönlich den Bedürftigen überbrachte. Man fördert wenig Gutes, wenn man zu enge Schranken aufrichtet. Wenn mein Bruder auch keine Lorbeeren davon trug, eine Palme hätte er für alle seine Mühen in dieser Zeit verdient.«

Fritz Holdern konnte sich bei seiner Schwester bedanken, so geschickt wußte sie sein Bild zu beleuchten. Wie ein Heros milder Barmherzigkeit und großartiger Anschauung stand er neben Velden, der sich in seiner Unbedeutenheit fühlen konnte. Rother zwar warf trocken dazwischen, Velden gebühre dann auch ein Antheil an der Palme; denn nur seine Bescheidenheit verschweige, mit welcher Aufopferung er sich seiner cholerakranken Soldaten durch lange Wochen angenommen habe. Doch nur Graf Asten hörte seine Bemerkung. Carry flüsterte eben Helene etwas zu, worauf dieselbe sich gleich erhob, indem sie Fräulein von Holdern's Anerbieten, sich zu dem Kranken zu begeben, auf das entschiedenste zurückwies. Sie wollte zu Herbert gehen, sagte sie und fragte, ob sie Velden und Rother später noch sehen werde. Das klang ganz freundlich; aber Velden's sensitive Stimmung ließ ihn einen andern Eindruck gewinnen. Er antwortete, Rother habe die Absicht gehabt, von Asten aus nach Bornstadt zurückzukehren, und er selbst müsse zeitig in Burghof sein. Graf Asten zwar erhob lebhafte Einwendungen dagegen; aber umsonst hoffte Velden auf eine Aufforderung, seinen Aufenthalt zu verlängern, auch von Seiten Helenens. Mit dem Hinweis auf die gemessene Zeit schlug er vor, jetzt Herbert seinen Besuch machen zu dürfen, wenn Helene erlaube, daß er sie begleite. Er hoffte im Stillen, wenigstens einen Augenblick Helene außer dem Gesichtskreise dieser unerträglichen Carry zu sehen. Doch Fräulein von Holdern war schon im Begriff, sich graciös in ihren türkischen Shawl zu hüllen, indem sie versicherte, sie müsse selbst hören, wie dem lieben Buben ihr Hausmittel bekommen sei.

Helene hatte bei Velden's Bitte unentschlossen gezögert; doch erhob sie keine Einwendung und ließ sogar Carry vorgehen, absichtlich mit Velden etwas langsamer folgend. Augenscheinlich wollte sie ihm beweisen, daß sie ihn nicht zu vermeiden suche.

Hermann wurde es warm um's Herz, als er so ein Mal wieder mit ihr die weiten Hallen durchschritt. Er mäßigte seine Schritte, als fürchte er, die glücklichen Momente zu rasch zu beenden. »Diese alten, lieben Räume, Helene!« sagte er, von der Erinnerung erfaßt. »Wie viele glückliche Stunden unserer Kinderzeit haben wir hier verlebt! Wie oft sind wir gemeinsam diese Treppen herunter gerast – weißt du noch?«

»Ihr Buben sogar rittlings,« versetzte Helene lächelnd. »Du warst Meister in der Kunst und hast uns oft genug damit erschreckt. Aber man bleibt nicht immer Kind.«

»Nein, leider!« antwortete Velden. Wie viel hätte er darum gegeben, ihre Erinnerung an diese Zeiten festzuhalten, wo ihr kindliches Verhältniß so herzlich, so zutraulich gewesen. Aber ihre Bemerkung war so leicht hingeworfen, als habe sie mit dieser Vergangenheit gänzlich abgeschlossen.

»War die Aufgabe, die du in letzter Zeit dir gestellt hattest, nicht zu schwer und angreifend für dich?« fragte der junge Mann, in der Absicht, das Gespräch nicht auf gleichgültige Gegenstände gleiten zu lassen.

»Im Gegentheil, sie hat mir wohlgethan,« erwiderte Helene. »Es war eine schöne, erquickliche Thätigkeit.« Sie blieb stehen, als wollte auch sie die Unterhaltung verlängern.

Velden hatte seit Monaten den Augenblick ersehnt, wo er ungestört und unbeobachtet sie würde sprechen können. Alles, was er ihr dann sagen, alles, was er ihr gestehen wollte, war ihm schon tausend Mal auf die Zunge gekommen – jetzt fehlten ihm die Worte, fast die Gedanken.

»Glaubst du wirklich, daß es dein Beruf ist?« drang es plötzlich so heftig über seine Lippen, als bedürfe er seiner ganzen Willenskraft, die Worte herauszupressen.

Helene sah auf und erkannte die Bewegung, die in seinen Zügen arbeitete. Eine hohe Röthe stieg auf ihre Stirne. Sie wußte, was in ihm kämpfte, und wollte nicht mit einem Herzen spielen. Sie hielt es für besser, ihm jetzt einen Schmerz zu bereiten, indem sie ihm Klarheit gab, als ihn mit Erwartungen hinzuhalten, die sie nie würde erfüllen können.

Hermann deutete Helenens augenblickliches Stocken anders. »Du zürnst mir doch nicht wegen meiner Frage?« rief er fast ängstlich. »O, du weißt nicht, Helene, wie so vieles mich geängstigt hat um deinetwillen in all' der Zeit!« Er wurde wärmer, die Zunge war ihm jetzt gelöst.

Helene mochte dies fürchten. »Warum solltest du nicht fragen?« sagte sie sehr ruhig. »Du bist mein ältester Spielgefährte, fast wie ein Bruder; und ich denke, unsere geschwisterliche Freundschaft bleibt auch stets so bestehen,« fuhr sie fort, das Wort »geschwisterlich« etwas scharf betonend. »Nein, ich denke nicht an den Ordensberuf; ich glaube nicht, daß da mein Platz ist.« Sie wandte sich zum Weitergehen, als wolle sie nicht wissen, was sein Antlitz ausdrücke. Sie glaubte in ihre Worte alle Deutlichkeit gelegt zu haben, die nothwendig sei.

Hermann hatte sie auch verstanden, so gut verstanden, daß alles übrige, was er noch hatte sagen und fragen wollen, überflüssig erschien; er erbleichte und rang nach Fassung. Gut mochte es sein, daß die Thüre von Herbert's Zimmer in diesem Augenblick sich öffnete und Carry Holdern hinausrief, der Knabe verlange ungeduldig nach Hermann. Gut mochte es auch sein, daß Herbert gleich beim Eintritt Velden's ihn rücksichtslos in Anspruch nahm. Des Knaben Freude, ihn zu sehen, war überschwänglich; seine Fragen nach den Ereignissen des Krieges, nach dem Leben, das Hermann geführt, wollten nicht enden.

Der Mensch vermag viel, wenn der Stolz eine Wunde verbergen will. Eins nur empfand Velden klar, selbst in diesem Augenblicke, wo er kaum seiner eigenen Gedanken sich bewußt war: daß alles Zweifeln, alle Unruhe doch nichts gewesen sei gegen die bittere Gewißheit, die er jetzt erlangt hatte. Helene trat, nachdem sie Herbert die nothwendigen Mittel gereicht, absichtlich an das entferntere Fenster, um möglichst der Situation das Peinliche zu nehmen. Carry Holdern hatte indessen das Zimmer verlassen, wohl veranlaßt durch Herbert's sichtliche Abneigung gegen ihren Besuch, die er durchaus nicht bemäntelte. Hermann solle erzählen, und nur Helene solle noch bleiben, meinte der verwöhnte Knabe.

Helene hörte still zu, wie der Freund den Wünschen des Bruders nachkam, nach dessen Willen antwortete und von all' seinen Erlebnissen berichtete, freundlich, mild und männlich stark. Sie wußte, was es ihn koste, in diesem Augenblicke so ruhig zu sein. Sie kannte ihn zu genau, um nicht an dem Tone der Stimme zu erkennen, welche Gewalt er sich anthue. Kalt hatte sie ihn eben zurückgewiesen – jetzt trat die innige Freundschaft der Kinderzeit, das warme Gefühl, der edele Sinn, der schon den Knaben ausgezeichnet, die treue Zuneigung, die er ihr unablässig gewidmet, ihr klar vor Augen. All' die kindlichen Scherze fielen ihr wieder ein, die bezüglich des Verhältnisses der Beiden zu einander stets gang und gebe gewesen, daß es ihnen selbst unauflöslich geschienen. Das war jetzt alles zu Ende – das gehörte der Vergangenheit an; denn wenn sie auch alles gethan hatte, um ihrer Liebe nicht die Oberherrschaft zu lassen, so ruhte dieselbe doch fest in ihrem Herzen. Carry's Anwesenheit hatte ihr sogar neue Hoffnungen gegeben. Sie kannte Hermann's empfindlichen Stolz genugsam, um zu wissen, daß es keines weitern Winkes von ihr bedürfe. Aber es bereitete ihr Schmerz, den langjährigen Freund so kränken zu müssen. Um seinetwillen, wiederholte sie sich, sei es besser gewesen, gleich jede Hoffnung abzuschneiden.

Der laute Hufschlag eines Pferdes, der vom Hofe heraufklang, unterbrach aber jetzt ihr Sinnen und Velden's Erzählung zugleich.

»Wer kam da, Helene?« rief Herbert. »Es kann doch noch nicht Hermann's Pferd sein?« meinte er und setzte ungeduldig hinzu: »Nein, Hermann, du darfst noch nicht fort.«

Velden beruhigte ihn und versicherte, er habe sein Pferd so früh nicht bestellt.

»Wer ist es denn?« rief der Knabe, da seine Schwester nicht antwortete und nur stumm hinausblickte.

Velden trat an das Fenster, ihm den Willen zu thun. Er sah nur noch ein Pferd, das fortgeleitet wurde, und warf einen fragenden Blick auf Helene.

Sie hielt die Hände über den Fensterriegel gefaltet; ihre Seele schien in ihre Augen übergegangen.

»Holdern,« hauchte sie leise, kaum verständlich.

Velden trat zurück, wie Herz getroffen. Jetzt blieb keine Frage mehr offen – ihr Blick hatte die letzte ihm gelöst.

»Baron Holdern,« wiederholte Hermann den Namen, wie in einem Traum befangen.

»Ach der!« sagte der Kranke. »Ja, der war lange nicht hier. Aber geh' du nicht hinunter, Hermann. Helene kann gehen und ihn empfangen, mit der spricht er doch immer allein.« Selten war einer seiner Wünsche so willkommen gewesen.

»Willst du deinem Vater sagen, daß ich mich von hier aus empfehlen werde?« bat Velden. »Herbert's Wunsch entschuldigt mich ja wohl, und ich brauche mich dann nicht mehr im Salon aufzuhalten.«

Helene sah zu Velden auf. »In dem Wetter?« fragte sie leise. »Willst du nicht lieber bis morgen bleiben?« Aber sie sah ein, daß es grausam sei, ihn zurückzuhalten, als sie das Zucken bemerkte, das über seine männlichen Züge lief. »Papa wird jedenfalls noch heraufkommen,« sagte sie, dem Freunde die Hand bietend.

Velden nahm sie; seine Hand war eisig kalt, das fühlte Helene. Dennoch, als sie dieselbe jetzt ließ, hatte sie die Empfindung, als sei sie einer Fessel ledig. So leid eben noch der Freund ihr gethan, ihre Gedanken eilten jetzt nur dem Einen entgegen, sie empfand nur die Seligkeit, ihn wiederzusehen. Süß stahl sich ihr dabei die Gewißheit in's Herz, wie er sogleich herbeigeeilt sei, sobald er wußte, daß sie heimgekehrt war.

Einige Stunden später ritt Hermann Velden durch das unwirthliche Novemberwetter in die Dunkelheit hinein.

Im Salon zu Asten hingegen war alles Licht und Wärme. Zwiefach Licht besonders für Helene: so viel es in seiner zurückhaltenden Art lag, hatte Holdern sich ihr heute genähert. Eben jetzt aber hatte sie mit Carry Holdern in einer der tiefen Fensternischen Platz genommen, indessen die Herren Velden hinaus begleitet hatten. Helenens Augen folgten den düstern Wolken, die, von Regen und Wind gepeitscht, sich am Himmel jagten; sie konnte sich dabei doch nicht enthalten, des Freundes zu gedenken, der mit seinem Weh in die Nacht hinausgeritten war.

»Ein ganz netter junger Mann, der Velden,« bemerkte Carry in gönnerhafter Weise. »Nur schade, daß so viel Philiströses in seinem Ernst und seinen Ansichten liegt. Welche Pedanterie, bei diesem Wetter nicht bleiben zu wollen, allen Vorstellungen zum Trotz. Harte Köpfe, die Menschen hier zu Lande!«

Helene war die Rede nicht sympathisch, und sie blieb die Antwort schuldig. Sie wußte, was Hermann hinausgetrieben, und intensiver noch als vorher hafteten ihre Blicke auf den jagenden Wolken. Plötzlich fühlte sie einen leichten Schauer; magnetisch, ohne sich umzuschauen, empfand sie die Nähe eines Andern. Carry war leicht und geräuschlos fortgeglitten und hatte ihrem Bruder Platz gemacht. Helene zürnte über sich selbst ob des stürmischen Pochens ihres Herzens: sie glaubte es doch so ernst in die Schule genommen zu haben.

»Des Meeres Wellen gleich, wie wir sie an der schönen Riviera sahen, wenn Sturm drohte,« sagte Fritz Holdern's Stimme mit dem weichen, tiefen Klang, den sie zu Zeiten hatte.

»Nur daß es hier Wolken sind und die Erde nicht ein so freundliches Antlitz zeigt wie dort.« Helene zwang sich, das ruhig zu sagen; es berührte sie seltsam, daß er zum ersten Male wieder an jene Zeit erinnerte.

Holdern blieb einige Augenblicke stumm. »Man entbehrt hier die Leichtigkeit des Verkehrs, die man in der Fremde genießt,« sagte er nach einer Pause. »Entsinnen Sie sich jener Abende am Strande? So ungezwungene Stunden sind hier kaum möglich bei unserm grauen Himmel und dem lästigen Salonwesen.«

Erstaunt hob Helene den Blick zu ihm empor. Er hätte die stumme Frage darin lesen können, ob es bloß die Schuld des grauen Himmels und des Salons sei, wenn er den engem Verkehr mit ihr nicht aufrecht erhalten.

Er schien diesen Einwurf zu verstehen; denn mit einem Anschein von Unmuth fuhr er fort: »Ich hasse alle Unterhaltungen unter mehrern Personen vor gleichgültigen Menschen, wo bloß die flachsten Gegenstände berührt werden können. Das ist kaum eine Unterhaltung zu nennen.« Er schwieg, Helenen es überlassend, sich zu ergänzen, daß er Sehnsucht nach einem Gedanken-Austausch mit ihr empfunden.

Auch Helene schwieg; aber es war verzeihlich, daß ein unbefangenes Gemüth gleich dem ihren die Ueberzeugung gewann, seine scheinbare Kälte sei nur Maske gewesen.

»Oder bin ich Ihnen seitdem zu unheilig geworden,« nahm er in seiner abrupten Weise das Gespräch wieder auf, seht sein gewohntes sarkastisches Lächeln auf den Lippen, »daß Sie in tugendhafter Scheu sich von mir abwenden möchten?«

»Sind Sie so verändert, oder soll ich es sein?« frug Helene fast vorwurfsvoll. Wie Trauer zuckte es um den süßen Mund.

»Sie haben so riesenhafte Schritte auf der Bahn der Heiligkeit gemacht, daß ich fürchtete, wir würden Sie nicht wiedersehen, zum mindesten nicht mehr zusammengehen,« sagte er, Scherz und Ernst so mischend, daß sich schwer sagen ließ, was seine Meinung war.

»Es war gar nicht Heiligkeit; ich habe gar nicht die Gedanken, die Sie meinen,« erwiderte Helene aufrichtig und stockte dann. Das Auge, das eben noch so offen ihn angesehen, schlug sich verwirrt nieder.

Er brauchte nicht der weltkundige Mann zu sein, der er war, um zu errathen, was in ihr vorgehe. Das Lächeln blieb auf seinen Lippen. Aber als er jetzt in ihr unschuldiges Gesicht blickte, war es vielleicht sein guter Engel, der aus ihm sprach: »Sie würden sich aber doch entsetzen, wenn Sie all' meine Unheiligkeit könnten.«

»Entsetzen!« wiederholte sie leise, forschend zu ihm aufschauend. »Ich würde Gott so lange bitten, bis Er Sie wieder umwandelte,« fuhr sie innig fort. »Es ist so natürlich, daß der Weg zum Heil für den Mann viel schwerer ist wie für uns.«

»Demgemäß darf ich also in Ihnen meinen guten Engel verehren,« sprach Holdern mit größerm Ernst, als er bisher gezeigt, und etwas wie Rührung mochte ihn anwandeln – sein Blick ruhte in dem Augenblick fast zärtlich auf ihr. »Sie würden aber arg zu streiten haben,« fuhr er fort. »Ich mache kein Hehl aus meinem schwarzen Herzen; es beugt sich nicht so zahm wie das Ihrer frommen Freunde hier. Selbst auf die Gefahr hin, daß Sie mich verdammen, muß ich das bekennen,« sagte er mit der Art stolzer Aufrichtigkeit, die er in diesem Punkte oft zu zeigen liebte. »Oder darf ich trotzdem auf Sie rechnen?« setzte er nach einer kleinen Pause hinzu, sich etwas tiefer zu ihr neigend. Sie erglühte jäh, ihre weichen braunen Augen sprachen nichts weniger als ein Verdammungsurtheil, aber sie wandte sich doch etwas scheu vor seinem durchdringenden Blick ab und kehrte zu dem größern Kreise zurück. Wie ein elektrischer Strom aber durchzitterte das Glück ihr Herz. Ihrem einfach geraden Sinne schien das Geständniß, das er abgelegt, ein solcher Fortschritt aus der Bahn des Guten und auch in Bezug auf sie selbst, daß sie wähnte, jetzt fest auf ihn vertrauen zu können. Es hätte kaum mehr seiner halb scherzenden Bitte bedurft, mit welcher er sich ihrem Gebete empfahl.

Nur die Engel sahen die heißen Gebete, die für ihn aus ihrem unschuldigen Herzen aufstiegen.


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