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26

Herbert Asten war nicht der einzige, welcher durch die spanische Thronfolgefrage in Harnisch gebracht wurde. Dieselbe schroffe Meinungs-Verschiedenheit, welche zwischen ihm und Dr. Roussillon zu Tage getreten, wiederholte sich allerorts, wo Welsche und Deutsche die Frage mit einander erörterten. Die französische Presse schürte das Feuer nationaler Eitelkeit mit ungemessenem Eifer und trat in der rücksichtslosesten Weise dem deutschen Selbstbewußtsein entgegen. Eine Zeit lang schien durch den Rücktritt des bezüglichen Candidaten die brennende Frage glücklich gelöst und die drohende Krisis beseitigt. In Deutschland freute man sich dessen; der seßhafte Theil der Bevölkerung weiß den Segen ruhiger Zustände genugsam zu schätzen, um mit seinen Neigungen, so lange es eben geht, auf der Friedensseite zu stehen. So brachte Baron Werthern triumphirend die Nachricht nach Asten, wo man wegen der abwesenden Kinder in großer Sorge war. Graf Asten war durchaus nicht in der Verfassung, Sorge und Unruhe zu ertragen; bei dem sonst so rüstigen und gesunden Manne begann das Alter anzupochen, für's erste nur in Gestalt der Krankheit, welche man wohl die Krankheit der Gesunden zu nennen pflegt. In den letzten Jahren hatte sich ein gichtisches Uebel am Fuße eingestellt, welches öfter wiederkehrte und endlich einen acuten Charakter annahm.

Werthern hatte sich beeilt, seinem Schwiegervater die gute Nachricht sofort zu überbringen, obschon die Throncandidaten-Frage ihn augenblicklich nicht sehr beschäftigte. Sein eigener kleiner Thronfolger hatte ihm den bösen Streich gespielt, durch eine Kinderkrankheit seine Existenz stark in Frage zu stellen. Die Gefahr war zwar beseitigt, aber Sorge und Anstrengung hatten die Mutter so angegriffen, daß Henny ernstlich leidend war. Oft reiht in einer Familie Unfall sich an Unfall. Die letzten Nachrichten Helenens über ihren Bruder hatten ebenfalls wenig befriedigend gelautet. Wenn die Krankheit auch noch keinen offen gefahrdrohenden Charakter trug, so vermochte doch der Graf sich ängstlicher Sorge nicht zu entschlagen. Die Sicherheit, in welche man sich seit Herbert's letzter Genesung gewiegt, war trügerisch gewesen, und nach wie vor stand die Gefahr lauernd neben ihm. Das war um so härter für den Vater, als der Charakter des jungen Mannes unter dem Einfluß, den Rother auf ihn ausgeübt, wie auch in Folge der Besserung seiner Gesundheit sich um vieles kräftiger und günstiger entwickelt hatte. Ein düsteres Bild im Hintergrunde läßt aber alles düster erscheinen, und der Graf konnte die Vorstellung nicht überwinden, wie entsetzlich es wäre, wenn Krieg ausbräche, während Helene mit dem Kranken in Feindesland weilte. Werthern behauptete zwar, diese Möglichkeit gehöre jetzt schon der Vergangenheit an, und andernfalls müsse in unserer Zeit ein casus belli sich erst durch das gebührende Maß von Vermittelungs-Vorschlägen und Conferenzen durchschlängeln; da werde Zeit genug für jeden bleiben, zum heimischen Herde zurückzukehren. Ueberdies, meinte er, gebrauche man in unserm civilisirten Jahrhunderte alle Rücksichten für Damen und Kranke, und der Weg nach Italien bleibe offen. Werthern hatte wirklich ein glückliches Talent, jeder Lage die beste Seite abzugewinnen. Die beiden Männer ahnten nicht, daß in demselben Augenblicke, wo sie dies besprachen, die Würfel bereits gefallen waren, und daß für diesmal ohne jede weitere Verhandlung der Krieg in seiner ernstesten Gestalt eine vollendete Thatsache geworden war.

Große Tage waren es, die dann folgten. Keiner von denen, die es erlebt haben, werden jemals das erhebende Schauspiel vergessen, das jene Machtentfaltung bot, welche, wie durch einen Zauberschlag hervorgerufen, in ihrer ganzen Größe und vollendeten Einheit dem Feinde entgegentrat, ehe derselbe vom Entschluß zur That übergehen konnte. Schlag auf Schlag blieb das deutsche Schwert in wandelloser Reihenfolge siegreich, und von den Alpen bis zum Meer schallten die Siegeshymnen und brauste der Siegesjubel. Jedem Volke ist seine Ruhmeskrone werth, und sie strahlte hoch und rein über Deutschlands Söhnen in jenem schauervollen Jahre, das mit den Lorbeeren so viele Thränen brachte. Mächtig sproßte der Stamm deutscher Einheit empor. Die Zeit ist wechselnd in ihrem Laufe, und was die eine Periode gezeitigt, das vernichtet in der nächsten oft schon ein kalter Hauch. Viele der Hoffnungen, die damals erblühten, wurden schon begraben – vielleicht für lange Zeit, vielleicht für immer. Manche Bitterkeit und Enttäuschung folgte der warmen Begeisterung und dem hellen Jubel jener Tage. Aber auch die Kämpfe der Geister beruhen auf Gottes Zulassung; auch sie haben ihre Lorbeeren, auch in dem heißen Streite wird manche gute Saat ausgestreut.

Graf Asten war mächtig erschüttert von der jähen Wendung, welche die Ereignisse genommen. Es entwickelte sich alles mit solch' seltsamer Hast, mit solcher Schnelligkeit waren alle Verbindungen abgeschnitten und die Transportmittel für die Staatszwecke mit Beschlag belegt, daß kaum noch ein Rath oder ein Wunsch zu den fernen Kindern hinübergesandt werden konnte. In finsterm Zorne stieß der Graf die Kissen zurück, die den schmerzenden Fuß einhüllten, der ihn hinderte, seinen Lieben zu Hülfe zu eilen. Vergeblich erinnerte Tante Christiane daran, wie die nie fehlende Besonnenheit Helenens schon einen Ausweg finden, und wie sie wahrscheinlich dem Beispiele der übrigen Curgäste folgen werde, die mit ihr in gleicher Lage sich befänden. »Meine arme Helene; mein armer Herbert!« kam es immer wieder über die Lippen des alten Herrn. Er dachte einen Augenblick daran, Werthern hinzusenden; doch einestheils konnte derselbe nicht wohl seine kranke Frau verlassen, andern theils lag die Wahrscheinlichkeit vor, daß die Geschwister abgereist sein würden, ehe er zu ihnen gelangte. So blieb für's erste nichts zu thun, als in Geduld auf Nachrichten zu warten. Der Graf klammerte sich dabei an den Gedanken an, daß man dort, bei der großen Entfernung der Südküste Frankreichs vom Kriegsschauplatze, möglicher Weise unbehelligt bleiben könnte.

Das war auch Helenens erster Gedanke, als sie von den Ereignissen sich überrascht sah. Sie konnte dem Beispiele der übrigen Deutschen, welche nach der Kriegserklärung ungesäumt den französischen Boden verließen, nicht folgen, da Herbert's Zustand in jenen Tagen den Gedanken an die Abreise gar nicht aufkommen ließ. Durch die Kriegsnachrichten, die man ihm nicht hatte vorenthalten können, war er in eine Erregung versetzt worden, die auf seinen Zustand nur zu schädlich gewirkt hatte. Heftigere Blut-Eruptionen, als er bisher gehabt, zwangen zu äußerster Ruhe, zu möglichster Unbeweglichkeit. Daß Helene an Selbstbeherrschung gewöhnt war, kam ihr jetzt zu statten, wo so große Verantwortlichkeit auf ihr ruhte. Ihren Anlagen gemäß war sie keine praktische Natur; sobald aber das Leben ihr in äußerer Thätigkeit ihre Pflicht zeigte, suchte sie dieselbe mit festem Willen zu bewältigen. Muthig verschloß sie den Blick gegen alle Besorgnisse, die das Verbleiben in Feindesland einer jungen Dame einflößen konnte. Es fiel ihr dabei noch die Aufgabe zu, bei ihren sonst so getreuen Stützen, dem alten Ebert und ihrer Zofe, die gänzlich die Fassung verloren hatten und nur von dem Wunsche der Rückkehr nach der Heimath erfüllt waren, den Muth aufrecht zu erhalten.

Dr. Roussillon, der eifrige Politiker und heißblütige Republicaner, der einzige Rückhalt, den Helene dort noch hatte, war auch nicht dazu angethan, ihre Schrecken zu mildern. Er war zwar Gentleman genug, der schönen Deutschen gegenüber seinem Haß gegen die deutsche Nation nicht den schärfsten Ausdruck zu geben. Aber um so eifriger unterhielt er sie mit den vom Kriegsschauplatz kommenden Gerüchten. In französische Farben getaucht, waren dieselben wohl dazu geschaffen, Helenens patriotische Gefühle zu verletzen, so daß sie nur mit blutendem Herzen ihres Vaterlandes gedenken konnte. Sie trug beständig Sorge, daß solche Nachrichten nur in sehr gemilderter Form ihrem Bruder überkamen, da derselbe trotz seiner Schwäche mit der ganzen Heißblütigkeit der Jugend an dem Kriege theilnahm. Auf den Rath des Arztes, der persönlich eine große Verehrung für Helene zeigte, verbarg sie sorgfältig die Thatsache, daß sie nicht allein Deutsche sei, sondern auch zu den verhaßten Prussiens zähle; sie gab sich vielmehr für eine Niederländerin aus. Dr. Roussillon hatte den Behörden gegenüber diese Angabe in ihrem Namen gemacht, ihr aber zugleich den Rath ertheilt, jede Correspondenz mit der Heimath zu unterlassen. Helene war froh, daß eben noch ein Schreiben an ihren Vater abgegangen war, als diese Nothwendigkeit eintrat. Sie hatte ihm darin die Verschlimmerung von Herbert's Krankheit gemeldet. Nun sah sie sich aber gänzlich von den Ihrigen abgeschnitten, und ein Gefühl tiefer Verlassenheit begann sie unheimlich zu beschleichen. Ihres verlorenen Traumes zu gedenken, hatte sie jetzt kaum Zeit; in ferne Weiten schien er schon gerückt. Ihre Gedanken zogen zu ihren Lieben in der Heimath, welche um sie besorgt sein würden, zu dem Schicksale, das ihrem Vaterlande drohte, zu denen, die wahrscheinlich das Loos des Krieges getroffen. Zu ihnen gehörte gewiß auch Hermann Velden. Mit ernster Sorge gedachte sie des Jugendfreundes und der Unruhe, welche seine Mutter empfinden würde.

Im Vaterlande hatte der Krieg inzwischen die günstigste Wendung genommen; der Schauplatz des blutigen Drama's war schon auf Frankreichs eigenen Boden verlegt. Um die Mauern von Metz zog das Ungeteilter der Schlachten sich eben zusammen. Auch für Hermann Velden hatten die Verhältnisse sich anders gestaltet, als man erwarten konnte. Er hatte den lebhaften Wunsch gehegt, sofort wieder in das Heer einzutreten. Doch seinen Wünschen ganz entgegen war er von seinen Obern reclamirt worden, weil man anders über ihn verfügen wollte. Ihn, den tüchtigen, zuverlässigen Mann, dessen Brauchbarkeit man erprobt hatte, wollte man jetzt nicht missen, wo der Krieg dem Civildienste ohnehin so viele junge Kräfte entzog. Man hielt ihn, da er den westlichen Provinzen entstammt und mit den dortigen Verhältnissen bekannt war, für besonders geeignet zur Verwaltung eines der westlichen Grenze nahe gelegenen und dadurch den Fährlichkeiten des Krieges besonders ausgesetzten Kreises, dessen bejahrter Vertreter in der bewegten Zeit die gesteigerten Anforderungen nicht mehr zu bewältigen vermochte. Die Wirksamkeit in einer solchen Stellung war ihm stets als die wünschenswertheste im Staatsdienste erschienen. Das Leben und Schaffen mit dem Volke und für das Volk hat etwas Erfrischendes und Selbständiges. Dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nach hätte ihm die Aussicht zu einer solchen Stellung noch sehr fern gelegen. Er begrüßte daher seine Ernennung mit Freuden, obschon sie ihn der Kriegslorbeeren beraubte und er sofort die neue Stellung antreten mußte, ohne bei der Uebersiedelung vom Osten nach dem Westen seine Mutter auch nur flüchtig begrüßen zu können. Das Amt nahm ihn gleich so vollkommen in Anspruch, daß er sogar seinen Briefwechsel sehr beschränken mußte. Seine Mutter war ohne Zweifel glücklich in dem Gedanken, daß er den Kriegsgefahren entgangen sei. Dagegen beunruhigte es ihn, daß er Rother in Paris wußte; er hoffte jedoch, das geistliche Kleid werde ihn vor der Ausweisung schützen. Rother's letzter Brief hatte seine Aufnahme in den Orden als nahe bevorstehend angekündigt. Nach der Familie Asten zu fragen hatte Hermann in den Briefen an seine Mutter beharrlich vermieden. Doch hatte Frau von Velden für gut befunden, der durchgreifenden Erneuerung von Holdernheim Erwähnung zu thun, um ihren Sohn auf das Ereigniß vorzubereiten, das für sie wie für viele andere dadurch an Wahrscheinlichkeit gewonnen hatte. Auch Herbert's und Helenens Abreise nach dem Süden hatte sie gemeldet. Hermann war mit keinem Worte auf diese Nachrichten eingegangen; er wünschte innerlich sogar, daß seine Mutter diesen Punkt gar nicht mehr berühren möchte: Helene mußte ihm alles sein oder nichts.

Finster zogen daher seine Brauen sich zusammen, als er eines Morgens im Drange der Geschäfte einen längern Brief seiner Mutter eröffnete und der Name Helenens ihm fast aus jeder Zeile entgegenleuchtete. Unzufrieden schob er den Brief in die Tasche; nur die ersten Worte, die das Wohlsein seiner Mutter bestätigten, hatte er gelesen.

Ein eigenthümlich Ding ist es um diese kleinen mystischen Zeichen, in denen wir unsere Mittheilungen auf das Papier werfen. Sie haben einen seltsamen Zauber, diese beschriebenen Blättchen, auf denen so viel verzeichnet stehen kann, was in unser Leben wie in das unserer Lieben eingreift. Velden war an dem Morgen in einen Wust von Arbeiten vergraben, die seine Gedanken genügend in Anspruch nahmen. Aber jener Brief in seiner Brusttasche, der den einen Namen so oft enthielt, erfüllte ihn doch mit einer Unruhe, gegen die er vergebens sich zu wappnen suchte. Mit echt männlichem Trotze strafte er sich dafür, indem er den Brief erst hervornahm, als alle Geschäfte bewältigt waren. Die finstere Spannung, mit der er zu lesen begann, wich aber rasch dem Schrecken, den der Inhalt ihm einflößte. Frau von Velden theilte ihm mit, wie Helene und Herbert zur größten Sorge ihrer Angehörigen noch in Feindesland weilten und man über ihre Lage ganz im Ungewissen sei. Die Hoffnung, daß sie nach Italien übergesiedelt seien, wäre ihnen genommen, da ein sehr veralteter Brief Helenens ihnen jetzt zu Händen gekommen, demgemäß Herbert's Zustand jede Reise unmöglich gemacht hätte. Helene lasse darin durchblicken, daß Herbert's Befinden sehr besorgnißerregend sei, was die Lage des armen Mädchens doppelt traurig mache. Der Graf habe ganz seine gewohnte ruhige Fassung verloren, und die Unmöglichkeit, von seinen Kindern die geringste Kunde zu erhalten oder ihnen Hülfe zu bringen, habe ihn gewaltig aufgeregt. Sie selbst sei auf die traurige Kunde sogleich nach Asten geeilt, um den alten Freunden ihren Beistand anzubieten, und sei ganz erschüttert von der Zerstörung, die sie dort vorgefunden. Der Graf habe versucht, durch Baron Hohenwaldau etwas zu erkunden; doch sei derselbe in einem süddeutschen Bade. Auch durch Holdern sei nichts zu erfahren, da seine Schwester selbst in Ungewißheit über den Aufenthalt ihres Bruders sei; sie vermuthe ihn in England, wohin seine Geschäfte ihn öfter riefen. Frau von Velden meinte, es bleibe nichts übrig, als alles weitere ergeben in Gottes Hand zu stellen. Für so stille Ergebung aber war Hermann doch noch zu jung und zu thatkräftig. Riesengroß stiegen vor seinem innern Auge die Gefahren auf, die Helenens Lage mit sich bringen konnte: ein junges Mädchen allein, einen Kranken, vielleicht einen Sterbenden zur Seite, ohne Hülfe, ohne Trost, dem Hasse und der Erbitterung der Vaterlandsfeinde ausgesetzt.

Täglich brachten die Zeitungen Geschichten, welche darthaten, auf welche Höhe die Verdächtigung und Spionenangst gestiegen sei, wie die nicht mehr zu leugnenden Niederlagen das Wort »Verrätherei« auf alle Zungen legte und man überall deutsche Agenten witterte. Velden, der starke Mann, erbleichte bei dem Gedanken, welchen Gefahren das Mädchen ausgesetzt sein konnte. Er begriff nicht, wie seine Mutter mit solcher Ruhe aussprechen konnte, man müsse Helene ihrem Schicksale überlassen.

Helene! Helene, das Weib seiner Liebe in solcher Trostlosigkeit! Dieses zarte, bisher so umhütete Wesen, sie, welcher er die Hände unter die Füße hätte breiten mögen, vor jedem rauhen Schritte sie zu bewahren – allein in solcher Lage! Die kalten Schweißtropfen traten ihm auf die Stirne, als seine erregte Phantasie ihm die Ausbrüche des Volkshasses in den tollsten Schreckbildern vorführte. Und niemand konnte ihr zu Hülfe eilen! Ihr Vater war krank; Philipp Werthern, in seinen heimischen Verhältnissen ein so prächtiger Mann, war gar nicht geeignet für solche Situationen. Und Holdern! Sein Zorn wallte über: er warf den Brief der Mutter von sich – noch nie war einer ihrer Briefe so von ihm behandelt worden. Hatte der Graf sich um Hülfe für Helene zuerst an diesen Mann wenden wollen – da mußte er doch das erste Recht darauf haben!

Hermann klemmte die Zähne fest auf einander vor Schmerz. Er setzte sich wieder an den Schreibtisch und zog seine Acten hervor, als finde auch er, daß alles geschehen sei, was geschehen könne.

Was für ein Recht hatte er, sich um Helene zu kümmern? Aber einen Moment nur vermochte seine Verstimmung die Oberhand zu behalten. Sofort sprang er wieder auf: wähnte er doch, Helenens braune Augen vertrauensvoll auf sich geheftet zu sehen und ihre Stimme zu hören, die so oft seinen Namen gerufen, wenn sie Rath und Hülfe bedurfte. War er so feige, so niedrig, so selbstsüchtig geworden, sie, die Gespielin seiner Kindheit, die Freundin seiner Jugend, die Tochter des Mannes, der ihm mehr als Vater gewesen, allein zu lassen in der Stunde der Noth? Wollte er ein Weib schutzlos lassen, weil ihre Liebe einem andern gehörte, der jetzt vielleicht nicht an ihrer Seite sein konnte?

Hermann durchschritt einige Male mit schweren Schritten das Gemach; seine Brust hob sich in heißem Kampfe. »Bruder und Freund« hatte sie gesagt! Immer wiederholte er sich diese Worte, als wolle er das junge, unbändige Herz mit Gewalt an den Gedanken gewöhnen. Sein Plan stand ihm klar vor Augen. Er zwang seine Gedanken, sich allein mit ihm zu beschäftigen. Bald flog die Feder über das Papier. »Sage Onkel Asten, morgen würde ich unterwegs sein, Helene zu Hülfe zu eilen. Sie kann und darf nicht länger allein bleiben. Unsere alte Kinderfreundschaft wird mir wohl das Recht geben, mich ihrer anzunehmen. Bitte Onkel Asten, nach der Schweiz – er gab Ort und Adresse an – mir Geld und Kreditbriefe unverzüglich zu senden. Es ist unmöglich, mich so rasch mit allem zu versehen. Sobald ich kann, Näheres!«

Die ganze Nacht hindurch arbeitete Hermann mit eisernem Fleiße. Am andern Morgen aber erstaunte sein Chef in der Provincial-Hauptstadt, daß der junge Mann mit dringender Bitte um augenblickliches Gehör sich melden ließ. Seine Verwunderung stieg noch bedeutend, als Velden um sofortigen Urlaub oder um Enthebung von seinem Posten bat. Zur Erläuterung seiner Bitte trug er in Kürze den Fall vor, die gefährliche Lage des jungen Mädchens und seine Freundschaft mit der Familie in warmen Worten schildernd, und betonend, daß sie ihm fast die Pflichten wie die Rechte eines Bruders gäbe. Der Fall war seltener Art; der alte Herr, selbst Familienvater, hatte die aufrichtigste Theilnahme für Graf Asten: den einzigen Sohn sterbend in der Ferne, die Tochter unbeschützt in Feindesland – schrecklich!

Aber der Staat kann nicht auf alle Familien-Angelegenheiten Rücksicht nehmen. Hatte denn die junge Dame nicht andere Verwandte und Freunde? Ein Urlaub in diesem Augenblicke – unmöglich! Eine Entfernung von dem Posten in so kritischem Augenblicke ganz undenkbar.

Hermann machte geltend, daß die Lage des Kreises jetzt, wo die Durchzüge beendet und der Kriegsschauplatz in Frankreich sei, bedeutend an Wichtigkeit verloren habe. Die Arbeiten, die vorgelegen, waren zum großen Theil erledigt und geordnet, so daß sein bejahrter Vorgänger für einige Zeit dem Posten wieder vorstehen konnte; zudem sollte die Reise nur von kurzer Dauer sein. Hermann sprach mit ruhiger Besonnenheit. Daß sein Begehr unangenehme Folgen haben konnte, war ihm klar; doch das war ihm jetzt gleichgültig. Der kleine Herr da vor ihm war aber ganz aufgegangen in den strictesten Anschauungen über Dienstpflicht und blieb unerbittlich: eben vom Militair reclamirt, um auf diesen Posten gestellt zu werden, die günstigsten Aussichten vor sich – unter diesen Umständen einem andern den Platz einräumen, hieße jeden Anspruch aus Carrière verscherzen. Velden nickte stumm. Der Mann der Regierung und Verwaltung gerieth bei seiner Ruhe noch mehr in Eifer, dem jungen Manne die Unmöglichkeit der Gewährung wie die Thorheit seines Begehrens auseinanderzusetzen. »Aber Sie werden doch reisen!« unterbrach er sich plötzlich, da Hermann's fast eiserne Haltung ihn mißtrauisch machte.

»Ich bitte um Entlassung aus dem königlichen Dienste,« sagte Hermann gelassen. »Pflicht und Gewissen zwingen mich, diesen Schritt zu thun.«

Sein Chef schien ihn zu überhören. Aufgeregt rannte er im Zimmer auf und nieder, bis er endlich vor Hermann stehen blieb. »Sie sind versprochen mit der jungen Dame!« sagte er, als wolle er ihm dieses hochnothpeinliche Geständniß als einzige Rechtfertigung seiner Tollheit entreißen.

Hermann hob stolz den Kopf: »So viel ich weiß, ist Gräfin Asten verlobt,« sagte er, viel mehr damit aussprechend, als er das Recht hatte, zu behaupten, gleich als wolle er es sich selbst als unumstößliche Thatsache hinstellen.

»So lassen Sie doch zum Teufel den Bräutigam selbst reisen!« rief der alte Herr ganz giftig. Er entbehrte Hermann wirklich sehr ungern und hatte ihm überhaupt sein Wohlwollen geschenkt.

»Er ist in England und ahnt wahrscheinlich gar nicht die Lage, in der Comtesse Asten sich befindet. Darf ich Excellenz bitten, meine Entlassung zu befürworten? Die Zeit drängt.«

»So begehen Sie die Tollheit! Man wird es Ihnen nie vergessen; immer wird das Ihnen anhaften. In so schwerer Zeit Ihren Posten zu verlassen!« brauste die Excellenz auf. »Unbegreiflich, wie Sie mit solchen Aussichten, nachdem Sie eben nach langjährigen Studien am Ziele sind, so leichtsinnig Ihre Zukunft wegwerfen!«

Ein Zug in Hermann's Gesicht machte dem alten Herrn klar, wie ernst der junge Mann das Opfer empfinde, welches zu bringen er sich gezwungen sah. Hermann war nicht der Mann, der es leicht nahm, eine Carrière, die er mühsam erstrebt, die jetzt eben seinen Ehrgeiz wachzurufen begann, so plötzlich zerstört zu sehen. Aber er wußte auch, daß es Lagen gibt, wo vor der erkannten Pflicht alles schweigen muß.

Sein Chef verstand wohl, was in ihm vorging. »Sie sind ein starrköpfiger Westfale,« sagte er, sich abwendend, aber milder. »Wenn Sie durchaus wollen, kann ich Sie nicht hindern. Ohne daß ich über Ihr Entlassungsgesuch berichte, wird es sich in diesem Augenblicke kaum thun lassen. Doch wollen wir nichts übereilen. Ihre Angelegenheit erledigt sich vielleicht geschwinder, als Sie denken. Jedenfalls melden Sie sich sogleich wieder bei mir, wenn Sie von Ihrer Don-Quixote-Tour zurückkommen.« Er reichte Velden die Hand hin, die derselbe dankbar ergriff. Sein Vorgesetzter fühlte aber, wie eisig kalt die Hand war, trotz des kräftigen Druckes, mit dem der junge Mann seinen Dank ausdrückte. »Wenn sie noch seine Braut wäre!« murmelte er kopfschüttelnd hinterdrein, als Hermann sich zurückgezogen hatte. »Aber verliebt ist er doch,« fügte er hinzu, indem er sich wieder an seinen Arbeitstisch setzte, in dem unerquicklichen Gefühle der Schwierigkeit, für den Posten, den er eben erst so wohl besetzt glaubte, eine neue geeignete Persönlichkeit zu finden.

Hermann aber war zwei Stunden später schon unterwegs. Jede Minute schien ihm kostbar, und er wußte, daß er bei dem durch die Kriegsverhältnisse gestörten Bahnbetriebe noch Aufenthalt genug zu gewärtigen habe. Er hatte den Weg über die Schweiz und Italien eingeschlagen, da er hoffte, daß dieser ihn zum Ziele führen werde.


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