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Daniella's kecke Frage hatte Rother mehr berührt, als er sich selbst eingestehen mochte. Noch am folgenden Tage gab sie ihm zu denken und versetzte ihn in eine unbehagliche Stimmung.

Es war gerade in der gährenden Epoche des Uebergangsalters, und da er sich bisher keiner Sinnes-Aenderung bewußt war, fühlte er sich betroffen, daß er jene Frage nicht einfach wie immer hatte beantworten können. Waren die dunkeln Augen daran schuld, die ihn so fest angeschaut, als wollten sie in das Innerste seiner Seele blicken? Oder hatte er sich nur einschüchtern lassen durch die rasche Wendung? Er hatte Lust, der dreisten Fragerin zu zürnen, deren Wesen mit den jähen Gedankensprüngen, wie ihm jetzt schien, überhaupt etwas Irritirendes hatte. Je mehr er nachdachte, desto mehr ärgerte es ihn, in so weite Erklärungen mit ihr sich eingelassen zu haben, da sie zum Verständniß doch wohl nicht gelangen konnte. Dann überkam ihn wieder jenes unklare Gefühl über sich selbst, und er kehrte zurück zu jener Frage, die ihm wie höhnend und neckend immer von neuem in den Ohren klang.

Es war ihm lieb, daß Velden's Ankunft seine Gedanken unterbrach.

Eine Trennung von Velden empfand er stets als große Lücke, und jetzt hoffte er, daß dessen Rückkehr ihn wieder in sein altes, fröhliches Geleise bringen werde. Gewiß wußte der Freund viel Neues aus der Heimath zu erzählen, da er die Vacanztage zu verschiedenen Verwandtenbesuchen benutzt hatte und nicht direct von Burghof kam.

Aber, als ob eine gewisse Sympathie im Spiele sei, lag auch auf Veldens Stirne eine Wolke. Auf Rother's eifrige Frage nach allen daheim gab er nur einsilbige Auskunft, bis er endlich dem Freunde mit dem unter ihnen stets waltenden Vertrauen den Grund seiner Mißstimmung mittheilte. Es berührte Rother eigenthümlich, daß in den Ursachen ihrer beiderseitigen Unzufriedenheit eine gewisse Aehnlichkeit hervortrat, obschon es auch wieder natürlich war. Beide befanden sich ja in dem Lebensmoment, wo Fragen des künftigen Berufes sich ernster geltend machen. Das letzte Vierteljahr ihrer Gymnasialstudien war angebrochen und solche Erörterungen daher an der Zeit. Bei Velden ging die Ursache nicht von ihm selbst aus und hatte sofort feste Form angenommen, weshalb er darüber reden konnte. Bei Rother war erst ein unbestimmtes Etwas aufgetaucht, und er schwieg.

Hermann hatte nie über seinen Beruf gegrübelt und bisher keinen andern Lebensplan gekannt, als nach kurzer wissenschaftlicher Ausbildung und vielleicht einem praktischen ökonomischen Cursus sich an der Seite seiner Mutter auf seinem Gute niederzulassen, die Bewirthschaftung zu übernehmen und sie in der Leitung der Geschäfte zu unterstützen, mit ihr sie zu theilen. Besonders seit dem Tode seines Vaters wäre ihm, in seinem Charakter als einziger Sohn und Erbe, jede andere Auffassung als eine Unmöglichkeit erschienen.

Frau von Velden hingegen war anderer Meinung. Einige frühere Andeutungen hatte Hermann nicht verstanden – etwas uns Widerstrebendes fassen wir ja nur selten rasch auf. Frau von Velden hatte deshalb vorgezogen, ihre Absicht ihm brieflich mitzutheilen. Ihrem Wunsche gemäß sollte er seine Studien nicht aufgeben und mit ihrer Fortsetzung den Zweck verbinden, sich einer staatlichen Laufbahn zu widmen. Sie hatte gute Gründe dafür geltend gemacht und sich darauf berufen, daß ein kleines Vermögen und ein einzelnes Gut bei so vollkommen geregelten Verhältnissen, daß sogar Frauenhand jetzt zu deren Leitung genügte, keinen hinreichenden Wirkungskreis für einen strebsamen jungen Mann böten; auf einem weitern Felde müsse er erst seine Kräfte versuchen. Sie hatte, sein Widerstreben ahnend, mütterlich eingehend, ihm dies klar zu machen gesucht; doch mochte ein Hauptgrund ungesagt geblieben sein: denn sie hieß ihn fast bittend, auf ihre Wünsche Rücksicht zu nehmen. Dies aber brachte den Sohn um so mehr aus dem Gleichgewicht, als er seine Gegengründe für nicht minder berechtigt halten zu dürfen glaubte. Die langjährige kostspielige Ausbildung, das Entfremden von der Heimath, die Einsamkeit der Mutter dort, seine eigene geringe Neigung für weiteres Studiren, in all' dem fand er eine klare Widerlegung, so daß er nur eine Art Laune bei seiner Mutter vorauszusetzen vermochte.

Rother fühlte sich anfangs überrascht durch Frau von Velden's Ansicht, die ihm gleichfalls ganz neu war; doch verstand er noch weniger Hermann's ausgesprochenen Widerwillen dagegen.

Das frühe Binden an die Scholle, an die kleinen Interessen eines Eigen war seinem beweglichen Geist so entgegen, daß er Velden hätte Glück wünschen mögen zu der Aussicht auf eine wechselvolle Bahn. Zum ersten Male vielleicht klang dabei der Unterschied des Standes zwischen den beiden Freunden an.

Anton, das Kind der individuellen Selbstbestimmung, empfand wie die Erlösung von einem Joche, was Hermann als einen Eingriff in seine Rechte ansah. Der eine pries die Unabhängigkeit, die durch die Wahl unter so manchen Berufsarten ihm werde, der andere sah nur darin Unabhängigkeit, sich auf seinem Eigen wohl zu fühlen.

Es wäre vielleicht schwierig gewesen, da eine Verständigung zu erzielen, wäre nicht Rother das Leid seines Freundes, sich im Zwiespalt mit seiner Mutter Wünschen zu sehen, zu Herzen gegangen. Hermann war sich durchaus nicht klar, wie viel und was er an männlicher Selbstbestimmung, die man wohl nie höher hält, als in jenen Jahren, seiner Mutter zum Opfer bringen dürfe, so daß seine Gefühle arg im Hader lagen mit seiner Willensmeinung.

Rother vermochte ihn darin zu verstehen, wußte aber auch Rath, und gab den, der Hermann der angenehmste sein mußte, der ihm aber im ersten bedrückenden Gefühle nicht gekommen war. Rothens Vorschlag, Graf Asten als Schiedsrichter in der Angelegenheit zu nehmen, konnte allen Betheiligten nur willkommen sein, und Velden faßte denselben mit um so größerm Eifer auf, als er den Einfluß des Grafen auf seine Mutter kannte und bei den Ansichten desselben einen Bundesgenossen in ihm zu finden erwartete. Er schlug daher vor, noch am nämlichen Nachmittag eine Fahrt nach Asten zu unternehmen, und Rother nahm für seinen guten Gedanken das Recht in Anspruch, ihn zu begleiten.

Wenige Stunden später schon führte ein bescheidener Einspänner die jungen Leute dem Schlosse Asten zu. Vor der Aussicht, einige Stunden im gemüthlichen Kreise dort zu verbringen, hatten sich ihre ernsten Gedanken schon zum größten Theil wieder verflüchtigt, als sie in den hellen Lenzsonnenschein hineinfuhren.

Die Jahreszeit war zwar der landschaftlichen Schönheit eben nicht günstig. Jene karge Entwickelung des Frühlings, wie das Klima hier zu Anfang des April sie gibt, läßt alles noch ganz nackt und unvermittelt hervortreten, besonders in einer Gegend, wo Wald und Baum der einzige Reiz ist. Schloß Asten konnte es allenfalls noch wagen, sich so frei dem Auge des Beschauers preiszugeben. Mit seiner symmetrischen Anlage, der stattlichen Façade, den mächtigen Flügeln und weithin leuchtenden Fensterreihen lag es, wenn auch nicht gerade malerisch und romantisch, so doch stets vornehm und stolz da.

Sie sind vielfach angefeindet worden, diese Bauten des letzten Jahrhunderts. In Wahrheit mag auch die trutzige Burg unserer Ahnen mit ihren Thürmen und Erkern schöner und stilvoller sein. Aber auch jene Bauart hat ihre Berechtigung; sie ist die Schöpfung einer Zeit, wo man vorzugsweise dem bequemen, leichten Lebensgenuß huldigen wollte, und die mächtigen Gebäude mit ihrem Ueberfluß an Licht und Raum passen sich auch gut unsern jetzigen Lebensgewohnheiten an. Der dräuenden Thürme, der Gräben und Wälle, der Zinnen und starken Mauern, die so kampflustige Schießscharten zeigten, war man überdrüssig; eine andere Zeit hatte dies alles überflüssig gemacht. Ganz unrecht hatten die Leute nicht: was seinen Zweck verloren, büßt einen Theil seiner Schönheit ein. Die Burgen, die unsere Neuzeit baut, tragen daher stets in etwa das Gepräge der Nachahmung und der Spielerei.

Bei Asten war wenigstens nicht ein Geschmack dem andern barbarisch aufgedrängt, wie es so oft geschieht. Den Charakter seiner Entstehungszeit bewahrend, lag das Schloß inmitten seiner wohlgepflegten Umgebung als ein harmonisches Ganzes. Man sah ihm an, daß es der Sitz eines Geschlechtes war, welches Generationen hindurch Liebe gehegt für den Fleck, wo es entsprossen, und ihn mit all' der Schönheit umgeben hatte, die für den verfeinerten Geist ein Bedürfniß ist.

Den jungen Leuten war Asten wohl der sonnigste Fleck ihrer Jugend, den sie stets mit Wonne begrüßten. In diesem Augenblicke wurde ihre Freude aber etwas gedämpft, da Hermann's in solchen Dingen sehr kundiges Auge in der Nähe des Schlosses eine Wagenspur entdeckte, welche ihnen die unangenehme Aussicht eröffnete, niemanden daheim zu finden.

Die Ahnung sollte sich auch bald bestätigen. Das theilnahmvolle Kopfschütteln, mit dem der alte Ebert sie begrüßte, verrieth ihnen, daß sie in ihren frohen Erwartungen enttäuscht würden. Der Graf wäre mit seinem Schwager, Baron Hohenwaldau, der seit zwei Tagen dort sei, und mit den Damen – Hermann's Gesicht verlängerte sich um ein Bedeutendes – zum Baron Werthern gefahren, berichtete Ebert. Hermann wollte den Wagenschlag unmuthig schon wieder schließen, da es ihm entschieden besser dünkte, in diesem Falle nach Bornstadt zurückzukehren, als Ebert noch mit einer letzten Nachricht herausrückte. Wenn die jungen Herren aussteigen wollten: Comtesse Helene sei daheim geblieben, und wenn nicht im Park, wohl oben im Studirzimmer zu treffen; er wolle nachfragen. Der alte Diener kam zögernd mit diesen Mittheilungen zu Tage; sein Schicklichkeitsgefühl war etwas im Unklaren darüber, ob er in diesem Jahre, wo die jungen Herrschaften ihm alle so über den Kopf gewachsen waren, die alte Kindervertraulichkeit noch gelten lassen dürfe, oder ob schon die strengern Etiquetten-Grundsätze zur Geltung kämen.

Hermann Velden schien jedenfalls der erstern Ansicht. Comtesse Helene zu Haus! So war es doch natürlich, daß sie dieselbe sehen und dann die Rückkehr der Andern abwarten wollten.

Mit einem Satze war Hermann schon aus dem Wagen, für dieses Mal viel lebhafter als Rother. Ebert, meinte er, brauche gar nicht erst zu fragen; er wolle selbst oben nachsehen, ob sie dort sei. Rother möge nur nachkommen, rief er noch zurück, indem er schon die Treppen hinauf eilte, als fürchte er, Ebert könne Schwierigkeiten machen.

Rother zog seinerseits jedoch in diesem Falle vor, erst zu seinen Großeltern zu gehen und der Pflicht dort zu genügen, bis die übrigen heimgekehrt sein würden. Er bat Ebert, dies Hermann zu melden, da derselbe gar nicht mehr hörte.

Hermann hatte indessen den ihm von Kindheit an bekannten Schulraum, der stets der privilegirte Vereinigungspunkt der jungen Leute gewesen, schon erreicht, und, wie er vermuthet, fand er auch Helene dort. Ihr schien sein Besuch ganz natürlich.

Das »Ach du, Hermann!«, womit sie ihn empfing, klang so herzlich und vertraulich wie möglich; ihn hingegen schien, seiner vorhergehenden Kühnheit zum Trotz, einige Schülerverlegenheit zu ergreifen, als er jetzt vor ihr stand. Und doch nahm Helene nur erst schüchtern den Standpunkt einer jungen Dame ein; trotz ihrer schon recht bedeutenden Größe erinnerte sie in ihrem so überaus schlichten Hauskleide, die braunen Zöpfe nach Kindesart fest um den Kopf geschlungen, noch an das Schulmädchen; nur in Haltung und Ausdruck hatte sie schon etwas Jungfräuliches. In dieser Anspruchslosigkeit, mit dem ernsten, sinnigen Blick paßte sie gut in diesen Raum, der nur den Studien gewidmet schien in seiner Ausstattung mit allem, was an Kunst und Wissenschaft erinnerte.

In Hermann's Augen mochte es indeß kaum etwas Bewundernswertheres geben, als eben diese noch etwas überschlanke Gestalt mit dem feinen, bleichen Antlitz. Er vermochte nur ziemlich unsicher die Erklärung seines plötzlichen Erscheinens zu geben, während sie mit der Sicherheit, die sehr junge Mädchen sehr jungen Männern gegenüber stets voraus haben, ruhig weiter plauderte.

»Du bist wohl eben erst gekommen? Das ist recht hübsch von dir. Wir dachten gleich, wie euch unsere Neuigkeit überraschen würde; Papa wollte extra morgen nach Bornstadt hinüberfahren, um es euch mitzutheilen. Ihr werdet es aber schon durch den Arzt dort erfahren haben; – ja? Wie schade nur, daß Papa eben mit den andern zu Wertherns gefahren ist! Sie wollen aber zeitig wiederkommen. Wenn du so lange mit mir fürlieb nehmen willst …«

Was das Fürliebnehmen anging, so war die Antwort darauf deutlich in Hermann's Augen zu lesen; doch war er darum nicht weniger erstaunt über ihre Andeutungen.

»Was soll ich denn schon wissen?« fragte er überrascht. »Was glaubst du, daß ich in Bornstadt gehört hätte? Ich kam erst gestern Abend zurück. Rother und ich wollten den letzten Vacanz-Nachmittag hier verbringen. Ihr habt doch nicht plötzlich Reisepläne gefaßt?« setzte er, stutzig geworden, hinzu.

»Einen so riesengroßen, daß man ihn eher Auswanderungsplan als Reiseplan nennen könnte,« antwortete sie, während er erschrocken aufsah. »Es dünkt mir selbst, als könne es kaum wahr sein,« fuhr sie fort. »Du weißt, wie oft Herbert diesen Winter wieder leidend war, und welche Sorge er uns machte. Papa hat nun den Professor Weber consultirt, und der hat den Ausspruch gethan, Herbert müsse auf längere Zeit in ein anderes Klima. Papa mag sich aber ungern von ihm trennen, und der arme Junge würde sich in der Ferne ja auch zu einsam fühlen; so reisen wir alle, denke dir, alle – und zwar so bald als möglich – nach dem Süden.«

»Für den ganzen Sommer?« fragte Hermann tonlos.

»Für den ganzen Sommer? O, viel, viel länger, Hermann! Herbert soll den Rest des Frühjahrs in Italien zubringen; im Sommer müssen wir dann in die Schweiz, und im Winter muß er wieder nach dem Süden. Vielleicht zwei Jahre so – meinte Professor Weber,« setzte sie hinzu, als müsse gleich das Schlimmste gesagt werden.

»Zwei Jahre … auf all' die Zeit wollt ihr fort? alle?« rief Hermann, der wie erstarrt ihr zugehört hatte. »Auf zwei Jahre alle fort,« wiederholte er, als übersteige das seine Fassungskraft, indeß Helene bestätigend nickte. Die ruhige, fast freudige Art, mit der sie die ihm so schreckliche Mittheilung gemacht, steigerte noch seine Erregung, so daß er gereizt hinzusetzte: »Und du, du freuest dich wohl noch über die Reise? Euch Damen ist es ja so ganz einerlei, wo ihr seid, wenn es nur immer wo anders ist!« Mit großen Schritten ging er dabei auf und nieder, da er seiner ganzen Willensstärke bedurfte, seinem Schmerz nicht unmännlichen Ausdruck zu geben.

»Aber, Hermann, wie kannst du so ungerecht sein!« gab sie mild zur Antwort, vielleicht nicht ganz im Unklaren über den tiefsten Grund seines Schmerzes, der immerhin manches verzeihen ließ. »Du weißt doch, wie lieb mir unser Asten ist, wie ungern ich mich stets davon trenne. Aber das ist freilich auch wahr,« fuhr sie fort, einen hübschen, aufrichtigen Ausdruck im Antlitze, »auf die Reise freue ich mich wirklich. Wir haben ja so wenig von der Welt bisher gesehen. Und denke dir nur: Italien, Rom, Neapel, – all' das Schöne zu schauen, was Kunst und Natur bietet und wovon man so viel gehört hat, das ist doch wirklich sehr lockend, eine zu herrliche Aussicht! Es wird so viel zu unserer Ausbildung beitragen, und da wir alle zusammen gehen, wird es ja nur eine schöne Uebersiedelung sein,« meinte sie unbefangen.

»Und an die Zurückbleibenden denkt ihr natürlich nicht,« bemerkte er mit noch größerer Bitterkeit. »Die Menschen sind euch ganz Nebensache, wenn ihr für Kunst und Natur schwärmen könnt! … Zwei Jahre – zwei Jahre! Das ist eine Ewigkeit, wo hier alles öde und leer sein wird,« schloß er mit dem echt jugendlichen Gefühl, dem jede Jahresspanne ein unendlich langer Zeitraum dünkt.

»Aber, Hermann!« klang es wieder, dieses Mal jedoch etwas strafend, »du willst wirklich bös sein. Wie sollten wir die Trennung nicht fühlen! Wir haben schon all' diese Tage davon geredet, wie leid es uns um euretwillen sei. Aber wenn wir auch blieben, was würde es uns viel nützen? Ihr wäret dann die ersten, auf und davon zu gehen. Nach dem Examen zieht ihr ja doch möglichst bald zur Universität, und dann werdet ihr im lustigen Studentenleben wenig an unser altes Asten denken. So gehen wir etwas früher, das ist der einzige Unterschied. Auch könntest du uns die Freude wohl gönnen.«

»Ich weiß, daß es schlecht und eigensüchtig von mir ist, so wenig an euere Freude zu denken,« rief Hermann, in heller Verzweiflung den Kopf an das Fenster lehnend; »aber ich kann nicht anders. Du weißt nicht, wie ich mich gefreut hatte, nach all' der Schulquälerei so recht in Freiheit die Zeit mit euch zu genießen, – nun kommt alles zusammen, mir die Freude zu verbittern!«

»Papa wird aber in der Zeit öfter hierher kommen,« tröstete Helene; »vielleicht schon diesen Herbst. Auch hat er gesagt, er rechne darauf, daß du ihn während den Jagdzeiten hier vertretest.«

»Als ob das dasselbe wäre, wenn ihr nicht hier seid!« versetzte er fast beleidigt. Er wollte sich nicht eingestehen, daß in der Aussicht, hier seine ersten Jagdlorbeeren zu ernten, doch auch ein Tröpfchen Balsam läge.

Für Helene war die Verehrung, die er ihr widmete, nichts neues. Seitdem sie und Hermann als Kinder zusammen gespielt, war sie sich derselben stets bewußt gewesen. Hermann hatte schon früh seiner kleinen Herzensdame gegenüber einen gewissen ritterlichen Zug gezeigt. Eine Art von Gleichheit in ruhig ernster Auffassung hatte sie zusammengeführt. Auch Helenens Art und Weise war eine tiefe, ergründende, doch bezog es sich bei ihr mehr auf alles Geistige. Sie gehörte zu den Naturen, deren Gedanken in der Jugend mit einem Nebelschleier verhüllt scheinen, um, allmälig sich losringend, dann um so klarer hervorzutreten. Bei solchen Naturen ist meistens eine leichte Anlage zur Schwärmerei vorherrschend: sie dünkt ihnen so mystisch, diese Welt, die sie erst langsam enträthseln müssen.

Hermann's einfache praktische Art war der Jugendfreundin oft zu Hülfe gekommen, indeß in geistiger Hinsicht sie ein gewisses Protektorat über ihn ausübte und ihm neben dem glänzendern Freunde zur Geltung verhalf, seine Gedanken in ihrer Tiefe verstehend – ein Verständniß, das dem stillen Knaben unendlich wohl that. Wenn ihre Theilnahme für alles Hohe und Schöne, ihr Streben danach seiner Natur auch gerade entgegengesetzt war, so zog es ihn nur um so mehr an. Hermann gehörte zu denen, die hinausschauen wollen zu dem, was sie lieben.

Etwas Rührendes liegt in solcher Schülerliebe, wo die Macht eines ersten Gefühls noch mit der knabenhaften Auffassung ringt. Knabenhaft war auch Hermann's Verzweiflung, aber sie war darum nicht minder echt. Seine jugendliche Heldin dagegen stand ihm bei aller Vorliebe, die sie für ihn hatte, doch ganz unbefangen gegenüber und suchte aus ihrem weisen kleinen Haupt alle Trostgründe hervor, um ihn mit der herben Thatsache auszusöhnen.

Eine nicht gering zu schätzende Hülfe dabei leistete der alte Ebert, der jetzt eintrat, um Rother's Auftrag auszurichten und zugleich Solideres zu bringen, das nach der längern Fahrt eine nicht zu verachtende Ablenkung bot.

Wie Helene nun sich schalt, das noch unbeachtet gelassen zu haben, und mit einem hübschen Anflug hausfraulicher Würde versuchte, ihrem Gaste die Honneurs zu machen, trat vor dem Zauber des Augenblickes der in Aussicht stehende Abschied allmälig in den Hintergrund. Mit einigem Heroismus gewann Hermann es sogar über sich, ihr ruhig zu lauschen, als sie ihre Hoffnungen und die Erwartungen, die ihr vorschwebten, ihm ausmalte.

Solche Ideen lagen Hermann fern. Das, was ihn umgab, was er kannte und liebte, füllte seine Gedanken aus, nahm sein Interesse ganz in Anspruch; Sehnsucht wie Ehrgeiz waren ihm gleich fremde Gefühle. Im Gegensatz zu Helenens in das Weite schweifenden Gedanken hatte er die dunkele Empfindung, daß seine ganze Welt allenfalls in den braunen Augen liegen könnte, die jetzt doppelt freundlich ihm glänzten, um das Weh auszugleichen, das er eben verrathen. Er fühlte, wenn auch unklar, daß Helene genügen würde, das Leben ihm auszufüllen: mit neunzehn Jahren dünkt uns das Leben stets merkwürdig kurz und leicht ausfüllbar.

Beide übrigens, Helene wie Hermann, gefielen sich augenscheinlich sehr darin, heute sich selbst überlassen zu sein, wie der Zufall dies herbeigeführt hatte. Beide standen gerade in dem Alter, wo der Mensch nichts lieber usurpirt, als die Würde kommender Jahre, und mit einer Art heimlichen Entzückens sich so recht vernünftig fühlt, wenn er sich besonnen und verständig unterhält.

Hermann machte denn auch bald Helene zur Vertrauten seines ältern Kummers; er theilte ihr seiner Mutter Wünsche mit. Er hatte sich nicht geirrt, als er voraussetzte, Verständniß dafür bei ihr zu finden. Sie war kleine Aristokratin genug, um das unabhängige Schalten und Walten auf dem Eigenthum allem andern vorzuziehen; aber bei allem Eifer des Erzählens entging es Hermann dennoch nicht, daß sie ihre Meinung nur sehr zurückhaltend aussprach. Freilich kam ihr Urtheil nie schnell. Auch sie fand es am besten, daß Hermann ihren Vater zu Rathe ziehe, und versprach, ihm die Gelegenheit dazu jedenfalls noch heute zu verschaffen. Aber in Hermann's siegesgewissen Ausruf: »Er muß meiner Meinung sein!« stimmte sie doch nicht ein.

Ihr Gesichtchen blieb sogar von dem Augenblick an merkwürdig nachdenklich, als hätte das, was Hermann ihr anvertraut, ihr viel zu erwägen gegeben, und diesen Ausdruck behielt es auch, als die Ankunft der andern das tête-à-tête unterbrach.

Es war ein hübsches Familienbild, das der heitere Cirkel im Salon von Asten einige Stunden später darbot, und die Vorliebe, welche die jungen Leute für Asten hatten, ließ sich daraus leicht erklären. Der hohe, schöne Raum, welcher Luxus und Behaglichkeit glücklich vereinte, die ganze Ausstattung, bis zum Service des gemüthlichen Theetisches, um den man sich eben zusammenfand, zeigte den doppelten Reiz soliden Reichthums und lange gehegten Besitzes.

Tante Christiane, eine kleine, rundliche Gestalt mit dem freundlichsten Gesicht der Welt, nahm den Platz der Hausfrau ein, indeß der Hausherr der ansprechende Mittelpunkt des Ganzen war.

Graf Asten war der Typus des echten Land-Edelmannes, der ein frisches, einfaches Wesen, wie die praktische Thätigkeit es gibt, mit dem guten Ton eint, den Weltbildung und Erziehung verleihen.

Ein großer Zauber liegt auf dieser Lebenslage voll ruhiger Unabhängigkeit, in der ehrenvollen Stellung, dem Schalten und Walten ohne den Stachel des Erwerbes, ohne das Feuer des Ehrgeizes, ohne den Ballast erdrückender Arbeit – nur in ruhiger, richtiger Selbstbeschränkung das Ziel sehend. Freilich gehören tüchtige Naturen dazu, dabei die geistige Beweglichkeit zu bewahren und der Aufgabe treu zu bleiben, auch den größern und weitern Pflichten nachzukommen, welche der Stand mit sich bringt. Der Mensch erlahmt leicht, wenn er nicht von zwingender Nothwendigkeit getrieben wird. Aber wer sich die Geistesfrische erhält, dem bleibt auch eine ungetrübte Zufriedenheit, wie sie kaum in einem andern Stande zu finden ist.

Auf Graf Asten's Zügen lag noch jener jugendfrische Hauch, der wie Berg- und Waldluft anmuthet, obschon sein Haar schon in das Weiße spielte und auch er nicht von Prüfungen verschont geblieben war, die das Loos aller Sterblichen sind.

Der Tod seiner ältesten Söhne, welche im Kindesalter ihm entrissen wurden, langes Leiden einer geliebten Frau, die bald nach der Geburt ihres Jüngsten, des ersehnten Erben, gestorben war, und die ungemein zarte Gesundheit dieses letzten seines Stammes und Namens – das alles waren Schicksalsschläge, die wohl scharf getroffen hatten. Sein gesunder Sinn aber nahm sie auf, wie der Mann und Christ es thun soll: als die Lebenslast, die Gottes Gerechtigkeit ihm zugewogen; und er ließ sich nicht blind machen dadurch für all' das Gute, das ihm sonst so reichlich geworden. Sein Auge hatte daher auch noch freudigen Strahl, besonders wenn es auf seinen Töchtern ruhte.

Heute aber flog öfter denn je ein Schatten über sein Antlitz; es beschäftigte ihn der neue Plan, den seines Knaben Kränklichkeit heraufbeschworen und der ihn so ganz seinem gewohnten Geleise entrückte, – der Sorge um dessen Gesundheit nicht zu gedenken, die ihn bedrückte.

Er war sehr erfreut gewesen, Hermann Velden zu finden, der entschieden sein Liebling geworden und ihm in gewisser Art den ältesten Sohn ersetzte durch die ernste Weise, in der er schon mit ihm verkehren konnte, durch die Gleichheit der Anschauungen und das Vertrauen, das er ihm schenken durfte. Ein Seufzer hob dabei sein Herz, wenn er Hermann's markige Erscheinung mit der zarten, schwächlichen Gestalt seines Sohnes verglich, der so wenig geeignet schien, einst die Last des großen Besitzes auf seine Schultern zu nehmen. Für den Augenblick hatte er daher auch fast ausschließlich Beschlag auf Hermann gelegt, um ihm seine Pläne in Bezug auf die Zeit der bevorstehenden Abwesenheit zu entwickeln.

Am andern Ende des Tisches wurde indeß ein lustiges Babel von Stimmen laut: Rother, Helene, Henny, Herbert schaarten sich dort um einen ältern Herrn, der einen ausgesprochenen Gegensatz zum Hausherrn bildete.

Baron Hohenwaldau, der Schwager des Hausherrn, war ganz der Mann der großen Welt. Er hatte seine Jugend in den diplomatischen Cirkeln der verschiedensten Residenzen verbracht und später von der Königin der Großstädte, wie er die französische Hauptstadt nannte, sich nicht mehr trennen können. Er war stets nur ein flüchtiger, aber von seinen hübschen Nichten vorzugsweise gern gesehener Gast zu Asten. Angesichts ihres großen Planes hatten sie an seine Weltkenntnis und Reise-Erfahrung appellirt, und er war nicht karg mit den Mittheilungen aus dem Schatze seiner Erlebnisse, – die dringendste Einladung zu einem Aufenthalt in jenem Zenith aller Cultur galant damit verbindend. Er gab den Damen zugleich die schönsten Versprechungen hinsichtlich aller Genüsse, welche er ihnen dort bieten würde.

Am meisten von allen war Rother durch den großen Reiseplan angeregt. Er war Feuer und Flamme bei dem Gedanken an die Herrlichkeiten der Reise, und im Gegensatz zu Hermann vergaß er seinerseits die Trennung gänzlich über der Vorstellung des Genusses, der sich den Freunden bieten würde. Jeden Ort, jede Stätte, durch Erinnerung oder Schönheit geweiht, schien er schon zu kennen, als habe Phantasie oder Sehnsucht ihn hundert Mal hingetragen.

»Sie sollten eigentlich die Reise mitmachen,« sagte Baron Hohenwaldau, lächelnd über den Eifer des jungen Mannes. »Sie sind ein so guter Cicerone, als wären Sie schon überall gewesen; es müßte etwas werth sein, mit Ihren Augen zu sehen, mit Ihren Ohren zu hören,« fuhr er fort, freundlich in Rother's begeistertes Gesicht blickend. »Du solltest ihn mitnehmen, Bruder,« sagte er, zum Grafen gewandt.

»Wenn nicht das widerwärtige Examen-Gespenst gerade vor uns stände,« sagte Graf Asten, gutmüthig nickend, »wer weiß, was wir dann thäten. Herbert hätte gewiß am wenigsten dagegen einzuwenden,« meinte er, den Kopf seines Jungen streichelnd, der durch Rother's belebte Schilderung aus seiner kränklichen Lässigkeit geweckt worden war und heute die ersten Zeichen von Interesse an der Reise zeigte. »Aber wir dürfen den jungen Herrn von seiner Bahn nicht abwendig machen,« fuhr Graf Asten fort, »gerade jetzt, wo er am ersten Ziele steht. Seine Pflegemama würde nicht die Erlaubniß dazu ertheilen, und sie hat recht; das Wichtigste stets zuerst – Vernunft muß oben bleiben.«

»Ach, ich wollte, sie könnte untergehen,« sagte Rother mit einem tiefen Seufzer; »sie spielt einem so manchen Streich. Bis jetzt habe ich das Examen stets nur gefürchtet; nun werde ich es wohl hassen,« setzte er mit kläglicher Miene hinzu.

»Du das Examen gefürchtet?« rief Hermann, der stets einen großen Stolz auf seines Freundes ungewöhnliche Fähigkeiten zeigte. »Ziere dich doch nicht. Glaubt ihr wohl,« wandte er sich an die Mädchen, »daß er gerade in diesem letzten halben Jahre, wo jeder andere ehrliche Mensch keine Minute Zeit übrig hat, Muße genug fand, fast allabendlich Musikstunden zu ertheilen? Und rathet mal, wem? Unserer Straßenheldin von damals!«

»Dem Mädchen mit den Murillo-Augen?« fragte Helene.

»Veitel's Enkelin, deren Haus so verhext aussah?« meinte Henny.

»Er behauptet, eine Künstlerin in ihr entdeckt zu haben,« sagte Hermann, der Freude daran fand, den Freund zu necken.

»Das ist sie auch,« rief Rother. »Unterricht kann man es gar nicht nennen; sie spielt in mancher Beziehung besser als ich, und mich haben die Uebungen mit ihr viel weiter gebracht.«

»Ihr Name wird hübsch für eine Künstlerin passen,« bemerkte Helene. »»Daniella« klingt gleich nach etwas Besonderm. Ist sie sonst nett?«

Rother besann sich auf die Antwort, die er auf die Frage geben sollte. »Sehr klug jedenfalls,« gab er nach einigem Nachdenken zurück, als wisse er um die Welt nichts mehr von ihr zu sagen.

»Also ein Wunderkind aus der Bornstadter Domgasse, wo ich bisher wenig her erwartet habe,« meinte Baron Hohenwaldau lächelnd. »Wer weiß, ob sie uns nicht später als Stern erster Größe am Kunsthimmel begegnet. Es ist gut, daß sie schon einen hübschen nom de guerre trägt, der nicht so ungemein zungenzerbrechend ist, wie bei den meisten unserer Künstlerinnen jetzt. Aber Sie, junger Freund, sollten, wenn sie Ihr Talent so gefördert hat, heute Abend auch uns die Probe davon nicht vorenthalten. Oder verstehen Sie sich nicht mehr zu den bescheidenen Volksliedern, die Sie früher mit unserer kleinen Henny hier so hübsch vortrugen?«

»Ich fürchte, Henny wird nicht singen können, Onkel,« meinte Helene, neckend auf ihre Schwester blickend, die in zärtlicher Umarmung mit ihren Windspielen am Boden saß. »Der Abschied von Baron Werthern's Leila wird ihr zu nahe gegangen sein – Stips und Schnips gar nicht zu gedenken.«

»Baron Werthern wird Leila nicht verkaufen, bis ich wiederkomme; er hat es mir heute versprochen,« gab Henny ein wenig trotzig zurück. »Euere große Reisepassion begreife ich überhaupt nicht,« erklärte sie dann fast wegwerfend. »Wenn es nicht um Herbert wäre, ein Ritt hier durch die Wälder ist mir mehr werth als die ganze italienische Fahrt, wo ihr ewig von Kunstgenüssen reden werdet.«

»Auch ich bin deiner Meinung!« rief Hermann lebhaft, hielt aber inne bei dem empörten Blick Helenens, indeß Rother meinte, es sei gut, daß den Daheimbleibenden wenigstens diese Freuden blieben.

Graf Asten aber schlug nun vor, in den kleinen Musiksalon überzusiedeln und die Reisegedanken vorläufig auf sich beruhen zu lassen. »Vor all' den Erörterungen darüber sind wir nicht ein Mal zur Mittheilung unserer neuesten Neuigkeit gekommen,« setzte er hinzu, indem er schon aufstand und den Weg zum Musikzimmer einschlug. »Denke dir, Helene, wir trafen bei Werthern unsern neuen Nachbarn, von dem hier kürzlich so oft die Rede war. Aber Henny darfst du nicht nach ihm fragen,« fuhr er scherzend fort, seine Jüngste, die eben an ihm vorüberhuschen wollte, an den blonden Haaren festhaltend, ein Scherz, den Graf Asten sich stets mit Vorliebe bei ihr machte. »He, Hexchen, keinen guten Eindruck auf dich gemacht?«

»Er sieht aus wie ein Bär, schlimmer noch wie das … wie Jemand, der etwas vorstellen will … so finster, als habe er einen Mord begangen, wenigstens als wolle er es glauben machen.«

»Comtesse Henny sieht heute alles schwarz,« bemerkte Rother lachend.

»So schlimm ist es durchaus nicht; er sah eigentlich traurig aus, als hätte er viel Herbes durchgemacht,« schaltete Tante Christiane ein.

»Durchaus Mann der großen Welt,« urtheilte Baron Hohenwaldau. »Wo ist er her, dieser Baron Holdern? Ich entsinne mich nicht, den Namen früher gehört zu haben,« wandte er sich an seinen Schwager.

»Die Holdern stammen hier aus der Gegend,« erwiderte Graf Asten, »sind aber seit Generationen nach Süddeutschland übergesiedelt. Sie sollen dort im Rufe großen Reichthums gestanden haben. Der junge Mann ist uns ganz fremd; er kam vor einigen Monaten hierher und scheint sich wirklich auf Holdernheim niederlassen zu wollen. Das Gut ist sehr vernachlässigt; es wäre daher nicht übel, wenn ein Mitglied der Familie sich desselben annähme. Was willst du, Kind?« unterbrach er sich, da Helene vor den Vater trat und mit entschieden bittender Miene zu ihm aufsah.

Helene hatte Hermann's betroffenen Ausdruck verstanden, als er die Bewegung zum Musiksalon sah; sie wußte, wie schwer es war, ihren Papa von da loszureißen. Die liebliche Fürsorge des Weibes, solche kleine Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen, war ihr schon in jungen Jahren eigen. Ehe der Vater sich in dem Musiksalon niederließ, wollte sie ihm noch Hermann's Bitte um eine Privat-Unterredung vortragen. Sie that es mit der Bemerkung, daß die Zeit für Hermann bald abgelaufen sei.

Der Graf war natürlich gleich bereit, und Baron Hohenwaldau versicherte scherzend, ihn nicht vermissen zu wollen, wenn er ihm sein Töchterchen als Ersatz lasse. Er wolle diese inzwischen schon etwas an die Huldigungen gewöhnen, denen sie doch in der großen Welt bald entgegengehe.

Das Töchterchen indessen schien von des Onkels Galanterieen nicht sehr gefesselt zu werden, so zerstreut nahm sie dieselben hin, so nachdenklich folgte ihr Blick den hinausgehenden beiden Herren, die sich auf des Grafen Zimmer begaben, wo sie ungestört zu sein hofften.

Helene mußte wohl noch etwas auf dem Herzen haben; denn bald nahm sie mit sichtbarer Freude die Gelegenheit wahr, bei den beiden da oben eine Störung herbeizuführen. Die Frage nach den Befehlen des jungen Herrn wegen der Heimfahrt, mit welcher der alte Ebert erschien, hätte derselbe sehr einfach selbst bei Hermann anbringen können. Aber Helene fand es besser, Baron Velden zu diesem Zwecke herunter zu rufen, und sie sprang so eilfertig davon, daß der Diener ihr erstaunt nachsah.

Die Botschaft aber ging etwas stockend über ihre Lippen; sie mußte nicht an Umschweife gewöhnt sein. Hoch erröthend wie eine Schuldige stand sie vor ihrem Vater, als Hermann kopfschüttelnd über das anscheinende Mißverständnis und etwas unmuthig über die Unterbrechung das Zimmer verlassen hatte.

Graf Asten hatte eben Frau von Velden's Brief in der Hand, wie Helene auf den ersten Blick erkannte. »Papa, du wirst doch Frau von Velden Recht geben,« sagte sie mit bittendem Ausdruck und so hastig, als fürchte sie, Hermann könne schon zurückkehren.

Der Graf sah sie erstaunt an.

»Glaubst du nicht, daß sie recht hat?« fuhr Helene eifrig fort, »und daß sie den wahren Grund nur Hermann nicht schreiben wollte? Hermann ist freilich ganz anders,« setzte sie wie entschuldigend hinzu, »ganz anders. Aber, Papa, alle Velden sind dort so …« Helene schien das Wort nicht aussprechen zu können. »Und Hermann's Vater …«

Des Grafen Blicke hatten erst erstaunt, dann immer ernster auf der Sprecherin geruht, der ihre Mission durchaus nicht leicht zu werden schien; denn eine große Thräne rollte ihr die Wange herab, und sie zitterte sichtlich vor Aufregung.

Ohne ihr sogleich zu antworten, ging der Graf einen Augenblick im Zimmer auf und nieder; aber sichtlich hatte er verstanden, was sie wollte. »Frauen-Augen sehen oft schärfer in solchen Dingen als wir,« sagte er endlich ernst, »und Mutter-Augen sind doppelt wachsam! Du hast recht gethan, mich zu mahnen. Ich hätte leicht in der besten Absicht ihre Wünsche kreuzen können; denn es kam mir höchst absonderlich an ihr vor, so ihres Sohnes Neigung entgegenzutreten. Aber es mag eben besser sein, wenn er erst einen andern Wirkungskreis findet. Sie sind alle untergegangen auf ihrer Scholle, und er ist ein echter Velden trotz allem,« fuhr der Graf nachdenklich fort. »Und du verstandest Frau von Velden gleich?« frug er seine Tochter, die gesenkten Blickes vor ihm stand.

»Papa, ich – ich kenne Hermann so gut,« stotterte sie verlegen; »und … und glaube nur ja nicht, daß ich nicht das Beste und Edelste von ihm denke. Du weißt kaum, wie gut er ist,« betheuerte sie.

Der Vater schob ihr Kinn in die Höhe und schaute sie forschend an; das glühende Roth, das ihre Wange bedeckte, schien ihm nicht zu mißfallen. »Aber mein weises Töchterchen hielt doch für nöthig, ein wenig in seinen Lebenspfad zu pfuschen,« sagte er lächelnd. »Doch du hast sehr wohl gethan; ich verstehe seine Mutter nun vollkommen. Die Arbeit, die eine Hand thun kann, ist Müßiggang für den, der zweie hat, – und Vorsicht ist besser als Nachsicht. Das beste Werk verrostet, wenn es nicht in Betrieb bleibt. Ich werde mit ihm reden, es wird ihm nichts schaden, etwas über seine Vorfahren zu hören. Es wird ihm die Mutter nur höher stellen … herrliche Frau das …«

Hermann's Schritt wurde jetzt draußen laut, und Helene huschte mit klopfendem Herzen wieder hinab, etwas getröstet durch ihres Vaters Worte.

Dem Freunde gegenüber fand sie ihre Handlungsweise trotz allem sehr schlecht, ein Gefühl, das sich noch bedeutend steigerte, als sie ihn nach einiger Zeit herabkommen und in sichtlicher Folge des Gespräches den finstersten Winkel des Gemaches aussuchen sah.

Bei dem Gefühl ihrer Mitschuld ging es über ihre Kräfte, ihn so verstimmt zu sehen. Mit der geschwisterlichen Vertraulichkeit, die stets zwischen ihnen geherrscht, stand sie alsbald neben ihm, und ihre Hand berührte leicht seine Schulter. Hermann sah auf – mehr wie Verstimmung, ernstes Leid lag in seinem jungen Antlitz.

»Sie werden sich alle irren; ich habe gar keine Fähigkeiten für den Weg, den sie mir octroyiren wollen,« begann er grollend, gleichsam als Antwort auf ihre stumme Frage. »Warum wollen sie mir meine Freiheit auf meiner Scholle nicht lassen? Mehr will ich nicht vom Leben!« setzte er finster hinzu, sich heftig durch das Haar streichend.

»Aber wir wollen davon mehr für dich,« gab Helene zurück. »Ich bin froh, daß Papa deiner Mutter Ansicht … Oder meinst du, es wäre etwas Besonderes, dich als Bauer dahin leben zu sehen, wie du es auf Burghof thun würdest?«

»Als ob das nicht ehrenvoll wäre,« murrte Hermann.

»Ja, aber doch für dich nicht,« eiferte Helene in hellem Zorne. »Alle unsere Ahnen haben auch erst für das Große und Ganze gewirkt, wie ihre Zeit es von ihnen forderte. Wie hätten sie denn sonst Ruhm und Ansehen im Volke erlangt? Und du sollst, du mußt es auch thun, du mußt dir auch einen ehrenvollen Platz erringen,« fuhr die junge Rednerin fort. Ihre Augen blitzten ihren Ritter dabei an, ihn so energisch in den Kampf seiner Zeit weisend, wie nur je eine Schöne im Mittelalter ihren Helden zu Fehde und Turnier gesandt.

Die Macht der Augen schien auch heute noch so wenig zu versagen wie damals. »Ja, wenn du es so auffassest,« meinte Hermann, den Kopf etwas höher hebend. »Aber ich weiß, ich werde nichts leisten,« schloß er mit dem Mißtrauen in sich selbst, das Naturen, wie der seinigen, eigen ist.

»Was du glaubst, darauf kommt es gar nicht an,« versetzte Helene munter. »Deine Mutter glaubt es, Papa glaubt es, und ich weiß es ganz bestimmt, daß du einmal sehr viel leisten wirst, und wir sehr stolz auf dich sein werden.«

Nun war es keine Kleinigkeit, so von den Lippen seiner Herzensdame zu hören, welches Vertrauen sie in ihn setze, und die Zuversicht, dies Vertrauen zu rechtfertigen, ließ sein junges Herz doch höher schlagen. Er versöhnte sich fast mit den Absichten seiner Mutter.

»Sie haben ihm wohl auch klar gemacht, Comtesse,« sprach Rother, der das Thema ihres Gespräches richtig errathen, jetzt dazwischen, »daß es ein entsetzlich Ding wäre, wollte er so früh schon sich in seine Felder und Wälder vergraben und nur einem Fleck angehören, wie er so hartnäckig verlangt.«

»Wenn es genug dort zu leisten gibt – warum nicht?« äußerte Helene einlenkend. »Hermann soll seiner Scholle gewiß nicht untreu werden, und später als Burgtyrann in des Wortes schönster Bedeutung auf Burghof hausen. Aber wie wird es mit Ihren Plänen, Rother?«

»O, meine Pläne!« erwiderte er lachend, aber doch eigenthümlich berührt, daß ihm hier diese Frage wieder begegnete. »Meine Pläne haben, glaube ich, die Gymnasial-Raupe noch nicht abgestreift. Was später aus mir wird …« Er brach ab, indem ein Zug des Nachdenkens sich plötzlich auf sein Gesicht legte.

»Hoffentlich doch kein Schmetterling?« gab Hermann, an das Gleichniß anknüpfend, zurück, erstaunt über das Zögern des Freundes. »Ich meine, du seiest längst klar darüber.«

»Jedenfalls etwas zum Himmel Strebendes!« sagte Helene, freundlich Rother anblickend, in dessen Kopf seltsam unruhige Gedanken sich zu kreuzen schienen.

Bei dieser hübschen Auslegung beugte der junge Mann sich über ihre Hand und führte sie dankbar an die Lippen.


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