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31

Die Maienluft, die lind und leise die Thränen von Helenens Augen küßte und die alte Sprache von Jugendliebe und Hoffnung, wie der Mai sie zu führen weiß, zu ihr redete, diese Maienluft zog fern in der großen Stadt an der Seine auch über die Stirne einer andern Frau, welche eben das Fenster einer dürftigen Kammer aufriß, aber nicht, um die linde Luft einzuathmen, sondern um hinauszustarren und hinauszuhorchen in das dumpfe Gewühl einer durch die Straßen wogenden erregten Menge. Die Lenzluft, die ihr entgegenwehte, war auch nicht danach angethan, friedliche Gedanken zu erwecken. Sie trug den scharfen Geruch des Pulverdampfes herüber, den dumpfen Schall des Geschützdonners und das unheimliche Rasseln ferner Gewehrsalven; aus der Straße aber ertönten die lauten Kommandos vorüberziehender militairischer Abtheilungen, in welche die Lieder und das Gejohle der Volkshaufen sich mischten.

Mai freilich war es auch hier, aber die wild erregte Stadt bemerkte es kaum. Frohsinn und Freude waren aus ihr gewichen. Und doch hatten eben jetzt die Verkündiger des freiesten Lebensgenusses die Herrschaft ergriffen, nach der sie so gierig gestrebt, und ihre Mission der Welt- und Menschenbeglückung begonnen. Seit den Märztagen lag die Gewalt in ihrer Hand. Aber was hatten die Männer, welche Jahre hindurch ihre höhnende Kritik an jeder gesetzmäßigen Gewalt geübt, welche überall Willkür und Tyrannenmacht erblickten, was hatten sie in der kurzen Frist ihrer Herrschaft geschaffen! Ein wüster Terrorismus herrschte; Haß und Habgier traten ungescheut zu Tage. Während der Kampf an den Thoren der Stadt wüthete, füllten sich die Gefängnisse mit Opfern. Die Wuth gegen alles Kirchliche steigerte sich zur Raserei. Beschlagnahmen von Kirchen und Klöstern, Verhaftungen von Priestern drängten sich. Aber schon wandte sich die blinde Volkswuth nicht allein gegen diese, sondern auch gegen alles, was bisher der Stolz des Parisers gewesen: die Vendôme-Säule lag seit einigen Tagen in Trümmern.

Die Frau aber, welche einst die rothe Fahne erwählt und gewähnt hatte, unter ihr an dem großen Werke der Weltbefreiung zu arbeiten: gedachte sie in diesem Augenblicke der Früchte ihres Ringens und Strebens, während ihre dunkeln Augen so finster auf das unheimliche Getümmel da unten blickten? Das Bild glich in nichts mehr jenem heitern, regen Gewimmel, welches einst hier gewogt und den lebhaften Geist der Beschauerin so sehr gefesselt hatte, daß sie nicht mehr sich loszureißen vermochte. Jetzt zeigte ihr Antlitz keine Spur von Befriedigung; selbst jener Hauch des Stolzes und des befriedigten Ehrgeizes, der an dem siegreichen Märztage sich darauf gelegt, war gänzlich geschwunden. Die Tage und Wochen, welche ihrer Partei die Herrschaft gesichert, schienen sie kaum weniger verändert zu haben wie das blühende Antlitz der Stadt. Jeder Schein von Jugend war gewichen. Schärfer als selbst in ihrer Kindheit traten die Züge hervor; unsagbare Bitterkeit preßte die Lippen zusammen, indeß eine tiefe Falte zwischen den dunkeln Brauen sich zeigte, wie nur die schwerste Anstrengung oder schmerzliches Leiden auf jugendliche Stirnen sie einzugraben vermögen. Auch ihre Kleidung erinnerte in nichts mehr an die schöne Künstlerin, an die elegante Weltdame. Vernachlässigt war das Gewand, das sie trug; eine Art polnischer Jacke schien nur der Bequemlichkeit wegen übergeworfen, um die Mühe einer sorgfältigen Toilette zu ersparen. Das einst so wohl gepflegte schwarze Haar war jetzt kurz verschnitten, als sei der Trägerin jeglicher Sinn für weiblichen Schmuck und Zierrath geschwunden. Nicht minder vernachlässigt erschien auch ihre Umgebung; das Zimmer hatte einen entschieden ärmlichen Anstrich.

Daniella's Vermögen war schon wahrend des Krieges bedeutend zusammengeschmolzen. Sie hatte sich nicht ungestraft an Holdern's Unternehmungen betheiligt; doch war der Verlust nicht so groß gewesen, daß er sich nicht hätte verschmerzen lassen. In der dann folgenden Periode der Belagerung hatte Daniella sich Riesenopfer aufgelegt. Es war ihr nicht zu viel, die Pläne, die sie in's Leben rief, auf das großartigste zu unterstützen; und wenn dabei der Ehrgeiz auch trieb, so waren es wenigstens nicht bloß Phrasen, die sie für das Volkswohl einsetzte.

Aber mit der Zeit hatten die Anforderungen, die in jenen Tagen an den besitzenden Bürger gestellt wurden, und die manchen aus Reichthum und Wohlhabenheit in Dürftigkeit stürzten, auch Daniella's Mittel bedeutend vermindert. Ohne Klage hatte sie sich alles Luxus entäußert; ihr genügte das Bewußtsein, ihn für große Zwecke hingegeben zu haben. Ist das Gefühl der Herrschaft so berauschend, daß es für alles Ersatz bietet? Decret folgte indessen auf Decret; im Namen der Volksrechte, im Namen der Republik, im Namen der Befreier des Vaterlandes wurde bald dieser, bald jener Anspruch an die Bürger erhoben. Als ein neues Decret über alle leerstehenden Wohnungen zu Gunsten des Staates verfügte, hatte auch Daniella ihr glänzendes Hôtel preisgegeben und eine mehr als bescheidene Wohnung bezogen.

Aber weder diese Entbehrungen noch diese Opfer, noch auch die unausgesetzten Anstrengungen, denen sie sich unterzogen, hatten die scharfen Linien in ihr Antlitz gezeichnet.

Schon am ersten Siegestage war sie zurückgeschreckt vor der blutbefleckten Larve, die ihr anstatt des heitern Antlitzes der Freiheitsgöttin entgegengrinste. Sie hatte sich anfangs gesagt, daß Zeiten des Ueberganges stets stürmisch und unklar seien. Aber sie sah, wie der Sturm, anstatt sich wieder zu legen, aus den innersten Tiefen stets wieder hervorbrach, wie die geschaffenen Zustände das Verderben in sich trugen. Der Mangel an Macht, dem Hebel entgegenzutreten, die Wahrnehmung, wie alle diese hochtönenden Phrasen von Freiheit und Beglückung in Wahnsinn oder Niedrigkeit sich auflösten, wie die roheste Willkür um sich griff, all' die gepriesene Menschenwürde in den Staub tretend – das erfüllte sie mit einer Bitterkeit, die nicht zurückzudrängen war. Fühlte sie wieder eine Art von Bewunderung für jenen Geist der Unterwerfung, welcher der Welt den Frieden gebracht, als sie sah, wie chaotisch die Zustände sich da entwickelten, wo jener Geist geschwunden war?

Die Männer, welche wie die Götter hatten sein wollen, schrumpften zu unsäglich niedrigen Gebilden zusammen, jetzt, wo die Stunde da war, in der sie sich hätten bewähren sollen. Und sie selbst, die einst so kühn geglaubt, ihr Leben selbst gestalten zu können, was hatte sie erreicht mit dem klaren Geist, dem festen Willen und der unermüdlichen Thätigkeit? Das Geschick war ihr günstig gewesen und hatte sie mit seinen reichsten Gaben überschüttet. An ihrer Wiege hatten die Musen gestanden; mit allen Errungenschaften menschlichen Wissens hatte sie ihren Geist genährt. Und jetzt fand sie sich den rohesten Elementen beigemischt – ihnen selbst angehörend. Was ihr Herz verlangt, hatte sie nicht erreicht: als sie der Liebe nicht gebieten konnte, hatte sie im Haß ihre Seele erquicken wollen; auch das war ihr kaum gelungen. Hoch erhobenen Hauptes hatte Holdern sie verlassen, und selbst da, wo sie gewähnt hatte, unumschränkte Gebieterin zu sein und zu bleiben, hatte eine stärkere Leidenschaft ihr die Herrschaft entwunden. Dr. Josephson, welcher so oft als Königin und Prophetin der neuen Zeit sie gepriesen, war plötzlich ihr Gegner geworden, da Daniella der Raserei der extremsten Partei sich nicht anheimgeben wollte.

Paris war mit seinem Aufstande isolirt geblieben. Das Aufflammen gleicher Bewegungen in einigen Städten des Südens konnte der Hauptstadt so wenig von Nutzen sein, wie die phrasenhaften Anerbietungen einiger Helden der extremsten Richtung, welche durch ihre pomphaften Verheißungen die Verblendeten nur noch mehr in ihrem Irrthum bestärkten.

Die in Versailles tagende gesetzgebende Versammlung, welche auch von den Deutschen anerkannt wurde, gewann indessen mehr und mehr an moralischem Ansehen im Lande; ihre Armee, welche mit jedem Tage anwuchs, zog einen immer drohendern Ring um die Hauptstadt. Wie Daniella, so sahen auch noch andere ein, daß es gerathener sein würde, die von der gesetzgebenden Versammlung angebotenen Verhandlungen nicht ganz auszuschlagen. Es hatte sich eine Art Aussöhnungs-Liga gebildet, welche mit der National-Versammlung zu Versailles in Verbindung getreten war. Daniella war stolz darauf, bei diesen Ausgleichsversuchen eine Hauptrolle zu spielen; sie hatte mit Unermüdlichkeit und Anspannung ihrer ganzen Energie dafür gearbeitet, obschon sie fühlte, daß sie durch diese Ausgleichsversuche bedeutend an Einfluß bei ihrer eigenen Partei verloren, da in solchen Fällen immer der rücksichtslosere Theil den gemäßigtern zu verdrängen pflegt.

Heute erwartete sie die Antwort auf eine erneute Anfrage bei der Versailler Regierung, und war bei dem lauten Getöse der Geschütze überrascht aufgesprungen, um zu horchen, da sie fürchtete, daß ein toller Streich der Extremen alle Vermittelungsversuche vereiteln könne. Ihr Blick aus die Menge draußen hatte ihre Besorgniß nur gesteigert, da sie sah, wie man an der Errichtung einer Barricade arbeitete, und daher erkannte, daß man bis zum Aeußersten zu gehen gedenke. Dieses Zerrbild von Vaterlandsliebe hatte sie angewidert.

Ein Individuum, welches eben in prahlerischer Uniform vorbeiritt und das Volk haranguirte, erregte besonders ihren Unwillen. Sie kannte den Menschen nur allzu gut. Als Fälscher einst aus seinem Vaterlande verbannt, war er unter dem Schutze der rothen Fahne nach Paris zurückgekehrt. Sie wußte, wie rücksichtslos seine Habsucht nur auf den eigenen Säckel bedacht sei und wie nur Niederträchtigkeit seine Handlungen leitete; er war nicht der einzige seiner Art.

Mit einer heftigen Bewegung hatte sie das Fenster geschlossen und war an ihren Schreibtisch geeilt, dort wenigstens sich die Genugthuung zu geben, diese Krebsschäden zu entlarven, sie zu geißeln in Wort und Schrift, und das öffentliche Urtheil gegen sie aufzurufen.

Sie hatte aber vergessen, wie in solch' lautem Sturm eines Menschen Wort entweder unnütz verhallt oder den Unfrieden nur noch mehrt. Ueberdies ward sie im selben Augenblicke unterbrochen durch rasche Schritte, welche aus der Treppe laut wurden.

Dr. Josephson war es, der eintrat. Die kriegerischen Verhältnisse hatten auch ihn zu militairischen Würden gebracht. Die Republik war nicht karg mit ihren Ehren für ihre Lieblinge; seit einigen Tagen trug Dr. Josephson die Uniform eines Obersten. Ein eigenthümliches Lächeln schwebte auf seinen Lippen, als er sich Daniella näherte; von seiner frühern Ergebenheit war in seinem jetzigen Auftreten ihr gegenüber nichts mehr zu erkennen. Daniella erbleichte, als sie ihn anstatt des von ihr erwarteten Boten kommen sah.

»Ihre sehr menschenfreundlichen Bestrebungen, uns den Pfaffen und Tyrannenknechten zu verkaufen, sind gescheitert, Bürgerin«, begann er rauh und fast ohne Gruß, indem er ein Convolut Papiere auf den Tisch warf. »Ihre so heimlich entsendeten Boten sind unverrichteter Sache zurückgekehrt. Die Söldlinge, mit denen Sie zu conspiriren gedachten, wollen sich die Gelegenheit nicht nehmen lassen, in unserem Blute zu schwelgen!« fuhr er höhnisch fort, den Blick fast drohend auf Daniella gerichtet, welche bei seinen Worten noch tiefer erbleichte und keiner Antwort fähig schien. »Danken Sie einem gütigen Geschicke, Bürgerin, daß es so kam. Beim Namen der geheiligten Freiheit! Wir hätten zu rächen gewußt, wenn einer gewagt hätte, uns das Schwert in die Scheide zurückzustoßen, wenn einer gewagt hätte, den Arm aufzuhalten, der unsere Feinde zerschmettern soll! Mag Paris eher untergehen, als sich ihnen ergeben! Wir werden einen Scheiterhaufen entzünden, der über ihren und unsern Häuptern zusammenschlagen wird. Auch Moskau hat einst unterzugehen gewußt, als der Feind ihm den Fuß auf den Nacken setzte. Das Volk ist auf seinem Platze, ganz Paris bedeckt sich mit Barricaden, jeden Fuß breit werden wir den Verräthern streitig machen. Bei dem ersten Schritt über den Wall stirbt einer ihrer Genossen für jeden Sohn der Freiheit, der dort streitend fallt – und die Köpfe ihrer Pfaffen und Mönche werden wir ihnen entgegenschleudern!« Mit immer mehr steigernder Exaltation hatte Dr. Josephson geredet, und mit einem so fanatisch wilden Ausdruck, daß man an seiner Zurechnungsfähigkeit hätte zweifeln können; hoch erhobenen Hauptes stand er da, als richte er seine Worte an ein unsichtbares Publicum.

Dennoch war es sehr fraglich, ob seine einzige Zuhörerin dem Sinn seiner Worte gefolgt war; schweigend hatte sie zugehört. Mit dem Scheitern der Vermittelungsvorschläge sah sie das Unglück vor Augen, das in seiner Unermeßlichkeit jetzt hereinbrechen mußte, und zum ersten Male im Leben fühlte sie sich hoffnungslos. Es lag etwas so Niedergedrücktes in ihrem Antlitz, daß es selbst Dr. Josephson auffiel und einen Funken Mitleid in ihm erweckte. Er war aber in der Stimmung eines Brutus und hätte den Dolch in die liebste Brust gestoßen, um seine Principien zu retten.

»Deine Mitverschworenen,« fuhr er daher nach einer kleinen Pause fort, während Daniella wie in sich versunken blieb, »sind natürlich der Strafe nicht entgangen und haben die Zügel der Regierung niederlegen müssen. Für dich habe ich mit meinem Kopf eingestanden, Bürgerin, und die Papiere deines Agenten aus Vorsicht alle an mich genommen. Laß die Politik lieber gut sein – du bist zu weichherzig. Die neue Regierung hat sich constituirt und wird noch in der Nacht eine Sitzung halten, um die nöthigen Entschlüsse zu fassen. Jeder muß jetzt am Platze sein; die edelsten aller Nationen haben uns ihr Schwert angeboten, mit uns zu siegen oder uns zu rächen. Mir ist die Bewachung eines Theiles der Geiseln geworden. Blut für Blut – wir werden den Versailler Söldlingen den Eingang schon erschweren. Da du in so friedlicher Stimmung bist, wirst du am besten thun, dich hier in seinen Räumen aufzuhalten, bis ich morgen komme, dich abzuholen. Du wirst deinen Muth dann hoffentlich wieder gefunden haben,« schloß er, indem er sich zum Gehen anschickte.

Daniella machte keine Bewegung, ihn zurückzuhalten; ehe er aber die Thür erreichte, wandte er sich um. »Ich habe auch einen Brief deinem Agenten abgenommen,« sagte er, »der für dich bestimmt war. Ich fürchtete noch neue Konspirationen, aber es ist nur eine Bitte wegen eines Pfaffen. Du hast ja früher diese Kreise frequentirt. Sie fürchten unsere Macht!« setzte er triumphirend hinzu, den Brief gleichgültig auf den Tisch werfend. »Es würde dir aber schwer werden, jetzt etwas für deinen Freund zu thun, da es andere Arbeiten gibt, als unsere Gefangenen zu zählen.« Wild auflachend verließ er das Zimmer ohne weitern Gruß für Daniella. Sie bemerkte es kaum.

Jener Ausgleichsversuch war ihr letzter Halt gewesen; nun sah sie ihn nicht allein vereitelt, sondern sie wußte auch, daß sie damit den letzten Rest von Macht und Einfluß verloren hatte. Einen Augenblick sah sie sich in dem Gemach um, das mit seinen nackten Wänden den Ausdruck der Oede zu tragen schien, die sie selbst empfand. Lange blieb sie versunken in starrer Unthätigkeit, die sich nach dem fieberhaften Ringen und Streben wie bleiern auf sie legte. Mechanisch streckte sie endlich die Hand aus nach dem Briefe, den Dr. Josephson ihr hingeworfen. Sie hatte kaum verstanden, was er darüber gesagt. Die Handschrift schien ihr unbekannt; die Unterschrift zeigte nur einen weiblichen Taufnamen. Doch waren in ihren Correspondenzen solche Pseudonyme nicht selten, und die äußere Adresse war diejenige, unter welcher ihre geheimsten Briefe gingen. Der Brief kam aber aus Deutschland, und nur einer Person dort hatte sie diese Adresse mitgetheilt.

»Helene« lautete die Unterschrift. Ein Lichtstrahl schien ihr aufzugehen. Sie kannte nur eine Trägerin dieses Namens – aber was konnte die fromme, stolze Aristokratin von ihr wollen? – vielleicht wieder einen Bekehrungsversuch wagen? Die Kirche konnte nicht viel mehr an ihr gewinnen, dachte Daniella, einen Blick auf ihre ärmliche Umgebung werfend, mit jener Selbstironie, die selbst in diesem Augenblicke ein Lächeln auf ihre Lippen legte.

Aber das Lächeln erstarb, sobald sie den Inhalt des Briefes ersah. Der Brief enthielt eine Bitte, wie Dr. Josephson gesagt. Helene bat für einen Freund, dessen Namen sie aus Vorsicht nicht nannte, den Daniella aber wohl errathen werde, wenn sie sage, daß er der Freund ihrer Kindheit sei. Sie sagte, daß dieser gewissermaßen in Danielles Gewalt sich befinde, und gab die nöthigen Aufschlüsse, warum er in der französischen Hauptstadt sich aufgehalten, was ihn dort festgehalten habe und in welcher Sorge man sich um ihn befinde. Der Zeitungsbericht, den sie anführte, habe sie besonders erschreckt, und sie wende sich an Fräulein Hirsch, sie zu bitten, ihn in ihren Schutz zu nehmen.

»Ich weiß, Sie werden nichts unterlassen,« fuhr die Schreiberin fort, »was in der Möglichkeit steht: ich habe mich nicht geirrt, als ich erkannte, wie warm Ihr Herz zu empfinden vermag. Unsere Wege haben sich seit jenen Tagen so weit getrennt, wie ich kaum für möglich gehalten. Aber was auch immer der Grund gewesen sein mag – ein Irrthum nur konnte es sein: Ihr Geist, der alles Edele erkennt und würdigt, hat gewiß stets das beste gewollt. O, der Mensch irrt so leicht! Wenn jetzt vielleicht Ihr Herz schon unter der Enttäuschung leidet, o, so lassen Sie einen Schritt zur Umkehr, eine Sühne der Schuld sein, daß Sie denjenigen retten, der Ihre Seele so gern zum Höchsten geführt hätte.« Das war vielleicht ein Bekehrungsversuch, deutlich, wie ihn Helene früher nie ausgesprochen, – aber Daniella lächelte jetzt nicht, denn mit eigentümlicher Gewalt hatten gerade diese Worte sie getroffen.

Helene hatte geschrieben, wie es ihr in jener Stunde um das Herz war; der Gedanke, daß Daniella hochsinnig genug sei, sie zu verstehen, hatte sie dabei geleitet. Sie hatte darin auch nicht geirrt; das Zutrauen und die Milde übten die mächtigste Wirkung. Ein bitteres Gefühl aber zog dabei durch Daniella's Seele und ließ für's erste alles andere schweigen – jenes Gefühl demüthigender Erkenntniß, daß wir das nicht sind, wofür wir gehalten werden. Nein, so wie Helene sie geschildert, war sie nicht; ihre Aufrichtigkeit sagte ihr das. Nicht nach höherer Erleuchtung hatte sie dürstend gesucht, sondern in Verfolgung ihrer persönlichen Wünsche hatte sie das Höchste in den Staub gezogen. Nicht eine falsche Auffassung menschlicher Verhältnisse, sondern Rache und Zorn hatten sie dahin getrieben, wo sie stand. Nicht das Streben, andere zu erheben, sondern der Wunsch, andere zu vernichten, war das Motiv ihres Handelns gewesen. Sie, welche die Möglichkeit einer Schuld einst stolz geleugnet, schauderte nun, denn überall schien ihr dieselbe strafend in's Antlitz zu schauen: ob sie hinausschaute aus das schreckenvolle Treiben da draußen, ob sie in ihr Inneres hineinblickte.

Sie vergaß fast den eigentlichen Zweck des Briefes, so fühlte sie sich erdrückt von diesem Bewußtsein. Sie hatte gewähnt, an dem stolzen Aufbau der Vernunftherrschaft zu arbeiten, die das göttliche Wort ersetzen sollte, und wie höhnend traten ihr die beiden Vertreter des Princips, die sie vorhin gesehen, vor Augen: Niedrigkeit und Wahnsinn, welche in die Herrschaft sich theilten. Aus Dr. Josephsons Blicken hatte wirklich Wahnsinn geleuchtet, Wahnsinn, der nach Blut und Mord verlangt.

Plötzlich sprang Daniella empor, mit ihrer kalten Hand die Stirne berührend … Was hatte Dr. Josephson eben Schreckliches gesagt? Wie hatte sein Ausspruch gelautet? Für jeden Sohn der Freiheit sollte einer der Geiseln fallen! Die Köpfe der Pfaffen wollten sie den Feinden entgegenschleudern! Und da in dem Briefe stand es ja, daß er zu den Gefangenen zähle, daß er einer der Geiseln sei. Er, Rother! Ein heftiger, körperlich empfundener Schmerz ergriff sie. Sie sah ihn, wie sein Bild unauslöschlich ihr eingeprägt war: den begeisterten Blick im Auge, den frohen, strahlenden Ausdruck im Antlitz, die goldenen Locken die weiße Stirne umrahmend … ein Zittern ergriff sie – auf der Stirne meinte sie eine rothe, brennende Wunde zu sehen … und dann wieder sah sie die schlanke Gestalt am Boden liegend, den Mund fest geschlossen, die Locken so wirr und blutig! War es das, was Dr. Josephson gemeint? War das die Gefahr, von welcher der Brief redete? O, sie kannte die Gefahr nur allzu wohl: hatte sie selbst nicht dazu gethan, was in eines Menschen Macht steht, den wildesten Haß wachzurufen? Ein Ausruf, den sie in ihrer Kindheit stets von der alten Jetta gehört, ging unwillkürlich wie ein Angstschrei über ihre Lippen: »Jesus, Maria, Joseph!« Was sollte sie beginnen?

War es ein Act der Ohnmacht oder der Verzweiflung, der sie erfaßte, daß sie das that, was sie nur ein einziges Mal in ihrem Leben gethan, daß sie auf die Kniee niedersank? Aber die Zeit war wohl vorüber, wo die Gnade leise wie der Hauch des Zephirs zu ihr sprach, – jetzt war Sturm, wilder Sturm – innen und außen.

Sie sprang wieder empor; ihre Hände preßten sich fest an die Schläfen. O, wo war ihr klarer Geist, wo ihr ruhiger Verstand, ihr fester Wille! Was mußte und konnte geschehen?

Der Wille, der so oft ihrem Stolze gedient, hatte aber nicht ganz seine Kraft verloren; sie nahm den Brief noch einmal zur Hand, ihn mit ruhigerm Nachdenken zu lesen. Das Nothwendigste war, sofort zu constatiren, wo Rother als Gefangener weilte. Es war weise Vorsicht von Helene gewesen, jenes Decret in Abschrift beizufügen; danach ließ sich viel ermitteln. Jene Genossenschaft hatte sich in der Pflege der Krieger ausgezeichnet, vielleicht konnte das in wirksamer Weise geltend gemacht werden. Aber der Haß des Pöbels gegen alles Geistliche war kaum zu zähmen. Doch Rother war Deutscher, und Paris mußte fürchten, die stolzen Sieger zu erbittern. Gewehr bei Fuß standen sie zwar jetzt als stumme Zuschauer da, doch immer in der bedrohlichsten Nähe. Rother als Deutschen zu reclamiren, die Regierung auf die Gefahr aufmerksam zu machen, einen Deutschen völkerrechtswidrig zu behandeln, blieb das einzige Rettungsmittel. O, daß sie jetzt noch ihre frühere Macht, ihren alten Einfluß hätte! Aber sie wußte leider allzu gut, wie sehr beides schon geschwunden. Dr. Josephson hatte gesagt, er habe den Befehl über die Gefangenen erhalten – sie kannte dessen wilde Energie, doch sie hoffte noch etwas von ihrem persönlichen Einfluß auf ihn.

Sie wußte außerdem, daß die in Paris weilenden Deutschen unter den Schutz des americanischen Gesandten gestellt worden waren. Es blieb nichts übrig, als diesen zu sprechen, damit er zu Gunsten Rother's einschreite. Dann wollte sie Dr. Josephson aufsuchen und noch einmal versuchen, was sie über ihn vermöge. Mit dem Entschluß erwachte ihre alte Energie.

Wenige Augenblicke brauchte sie nur, ihre Kleidung zu ordnen, ehe sie auf den Weg zum americanischen Gesandten sich begab. Als sie ihren Anzug vollendet hatte, zauderte sie einen Moment; ihr Blick ruhte auf der rothen Schärpe; es graute ihr vor derselben, sie dünkte ihr wie in Blut getaucht; aber auf diesem Gange konnte sie dieselbe nicht entbehren.

Pferde und Wagen waren seit einiger Zeit nicht mehr in Paris zu finden; sie mußte also den Weg zu Fuß zurücklegen. Das widrigste Bild der Zerstörung und Vernichtung trat ihr überall entgegen. Sie war oft gezwungen, große Umwege zu machen, da viele Hauptstraßen durch Barricaden gesperrt waren, und überall wüste Volkshaufen ihr entgegentraten, durch die sie sich Bahn machen mußte.

Eigenthümlich war es, wie dabei in die Bilder der Gegenwart sich die Erinnerungen ihrer Kindheit mischten. Sie glaubte sich in die enge Domgasse versetzt, sie sah die wilde Bubenschaar sie umdrängen und ängstigen. Aber es war nicht Rother's Antlitz, was sie dabei sah, sondern jenes strengere ernstere, was ihr gesagt, sie habe Schuld.

Schuld! Schuld! Verfolgte sie das Wort überall? Doch sie mußte jetzt ruhig sein zum Handeln! Die Zeit drängte.

Es war schon nächtliche Stunde, als sie auf der Gesandtschaft anlangte; trotzdem wurde sie sogleich empfangen, ihr Name hatte Gewicht genug, ihr Einlaß zu verschaffen; der Gesandte kannte denselben, da er während der Belagerung durch die Deutschen ihr öfter die Gaben der Americaner übermittelt hatte. Auch ihre jüngsten Versuche zu einer Vermittelung waren ihm bekannt, und er wußte, daß sie zu den Bessern oder Gemäßigtern der Partei zählte. Dennoch war es fast ein unwilliger Blick, den er auf sie heftete; den Gedanken, daß auch sie zu jenen gehöre, welche die Schreckenssaat gesäet, vermochte er nicht zu überwinden. Daß sie ihm von Rother sprach, schien ihn zu überraschen, und er bemerkte, derselbe junge Priester sei vor wenigen Tagen schon durch einen Offizier der deutschen Armee seinem Schutze empfohlen worden. Er habe bereits versucht, ihn ausfindig zu machen, fügte er hinzu; aber bei der Menge der Gefangenen und dem öftern Wechsel der Gefängnisse finde er große Schwierigkeiten. Durch einen Dr. Roussillon, welcher auch zur gemäßigten Partei gehöre, habe er einige Nachricht über ihn erhalten. Dieser kenne den jungen Priester von früher und habe ihn unter den Pflegern der Verwundeten getroffen. Dr. Roussillon vermuthe, daß er mit den Ignorantiner-Brüdern zusammen in Haft genommen sei, da er ihn in den letzten Wochen nicht mehr gesehen. Ferner versicherte der Gesandte, er habe den Mitgliedern der Regierung auf das dringendste die Mahnung an das Herz gelegt, man möge einen unnützen Mord vermeiden, der gewiß von deutscher Seite streng geahndet werden würde. Er rieth Daniella, sie möge sich möglichst rasch ein Freilassungs-Decret verschaffen und den jungen Mann dann bei ihm in Sicherheit bringen. Jenen Dr. Roussillon versprach er sofort rufen zu lassen und ihr als Begleiter mitzugeben. Ihre Erschöpfung bemerkend, schlug der Gesandte ihr vor, sich mit Speise und Trank zu erfrischen, bis der Genannte zur Stelle sein werde. Doch Daniella wollte keine Minute der Ruhe sich gönnen. Doppelt dankbar nahm sie aber das Anerbieten an, sie durch Dr. Roussillon zum Stadthause und bis zu dem betreffenden Gefängnisse begleiten zu lassen.

Unmöglich konnte der kleine Dr. Roussillon, als er neben der blassen, dunkeln Dame durch die Straßen der Stadt schritt, ahnen, daß sie mit jener schönen Deutschen, die er in dem Curorte im Süden gekannt, und diese wiederum mit dem Gefangenen in Beziehung stand.

Dr. Roussillon hatte übrigens auch Enttäuschungen erlebt, seitdem er mit seinen Freiheits-Principien auf den größern Schauplatz der Hauptstadt sich versetzt sah und dort seinen glühenden Patriotismus hatte ausleben können. Deßungeachtet hatte er in der Ausübung seines Berufes seine Vaterlandsliebe zu bethätigen gesucht. Seine rasche Zunge war trotz aller Kriegsschrecken dieselbe geblieben, und mit der ihm eigenen Redseligkeit gab er seiner Begleiterin den genauesten Aufschluß, wann und wo er den Gefangenen vor mehrern Jahren als Begleiter des jungen Grafen Asten kennen gelernt. Daniella war zu sehr von dem einen, alles überwältigenden Gedanken erfüllt, um anders als halb traumhaft auf diese bekannten Namen zu lauschen, die in Folge einer seltsamen Verkettung der Umstände jetzt von neuem an ihr Ohr schlugen. Dr. Roussillon, der die Abspannung in ihren Zügen las, äußerte die Meinung, daß, trotz der gepriesenen Gleichheit der Rechte, doch Damen sich solchen Schrecken nicht aussetzen sollten, da diese stärkere Nerven erheischten. Er erzählte, wie er nur ein einziges Mal eine junge Dame gesehen, die in furchtbarer Lage ihren vollen Muth bewahrt, eben jene Comtesse Asten, die dem erregten Volke furchtlos entgegengetreten sei. Ein eigenthümliches Lächeln schwebte bei dieser Erzählung um Daniella's Lippen. Helene, über welche sie in stolzem Selbstbewußtsein sich geistig so erhaben gedünkt, hatte das Wort gefunden, womit eine wüthende Menge sich beschwichtigen ließ – und sie selbst, die deren so viele gewußt, um das Volk aufzureizen, wußte nun nichts, womit sie die Menge an jenes Band der Liebe mahnen sollte, das von oben stammt, und an jene Verantwortlichkeit, vor der auch das wildeste Herz sich beugt.

Auf diesem Wege machte Dr. Roussillon zum zweiten Male die Erfahrung, daß auch Damen sehr schweigsam sein können.


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