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1

Es war im December. Das unwirthliche Wetter des letzten Monats hatte ausgetobt; die ersten Schneeflocken mit ihrem leisen, geheimnißvollen Fall lösten das vorhergehende Regengeplätscher ab.

Das Erscheinen dieses Wintergastes war es wohl, was die Schuljugend der ehrbaren alten Stadt, in welcher zu beginnen unsere Geschichte die Ehre hat, in solche übermüthige Laune versetzte, als sie mit dem Schlag der vierten nachmittägigen Stunde, ihrer Schulhaft entlassen, auf den Domhof hinausströmte und sich in ausgelassenster Stimmung in alle Gassen und Straßen verbreitete.

Es ist eigenthümlich, wie der erste Schnee stets solchen Jubel bei der Kinderwelt hervorruft, solchen Zauber auf sie ausübt – die Neuheit der Erscheinung, der Wechsel, den er in der eintönigen Winterlandschaft hervorbringt, die Aussichten auf Schneeball und Schlittenfahrt mögen die Ursachen davon sein. Zur Freude der übrigen Passanten gereichte die Ausgelassenheit der kleinen Bande, die rücksichtslos jedem entgegen strömte, übrigens nicht. Die Straßen, die ohnedies nicht durch allzu bequemes Pflaster glänzten, waren durch den vorhergegangenen Regen zu gar schlüpfrigen Lebenswegen geworden, und der Schneefall hatte dies eben nicht gebessert. Hier in ihrem Mittelpunkte barg die gute alte Stadt noch die engen Gassen und Gäßchen aus alter Zeit, in welchen Haus an Haus vertraulich sich drängt, wo der Nachbar seinen Nachbar gegenüber ohne Stimm-Aufwand grüßen kann, das Ausweichen seine Schwierigkeiten hat und die Giebel in der Höhe sich nähern, als wollten sie sich gegenseitig an's Herz sinken.

Die Domgasse vor allen konnte dieser Vorzüge sich rühmen. Wie es meistens in alten Städten ist, hatten dabei gerade in dieser Gasse von Alters her Handel und Gewerbe ihr Reich aufgeschlagen. Die kleine Gestalt und das scharfe Profil des Israeliten machten sich daher dort vorzugsweise geltend. Er hat stets einen guten Blick für seinen Vortheil, der Mann des semitischen Stammes: er weiß, wie eben im schmalen Gäßchen ein Händelchen hier und ein Geschäftchen dort so leicht sich anbindet. Eben jetzt bei dem Beginn des jüdischen Ruhetages konnte man sehen, wie viele der Bewohner der Domgasse diesem Geschlechte angehörten, da fast aus jeder Thüre eine oder die andere dieser Gestalten heraustrat. Nach der anstrengenden Arbeit der sechs Wochentage in den düstern Läden suchten sie wohl einen Zug frischer Luft zu gewinnen, trotz des wenig anmuthenden Wetters. Vielleicht auch wollten sie den Glanz ihrer festtäglichen Gewänder der Bewunderung der Welt nicht vorenthalten. Wie wenig Werth der Jude in vorgerücktern Jahren auf sein Aeußeres legt, um so mehr liebt er es in seiner Jugend, damit zu glänzen. Die Vorliebe für leuchtende Farben und in's Auge fallenden Schmuck, die ihn dabei auszeichnet, mag noch aus seiner sonnigen Heimath stammen. Noch mehr aber kennzeichnet ihn eine gewisse Selbstgefälligkeit, mit der er den Putz zur Schau trägt und die leicht etwas komisch Herausforderndes hat.

Die wilde kleine Schaar, welche die Gasse bevölkerte, unterließ es denn auch nicht, diesen geputzten Gruppen ihre Berücksichtigung zu schenken und mit jener, dem Israeliten gegenüber beim Volke nie untergehenden Ironie und der Dreistigkeit edeler Straßenjugend ihre Meinung laut werden zu lassen.

Am meisten erregte ihre Aufmerksamkeit ein Mädchen, welches eben aus einem der schwärzlichsten und ältesten Häuser der Domgasse hervortrat und, obgleich kaum dem Kindesalter entwachsen, doch schon viel von dem Bewußtsein einer Dame zeigte. Ihr Anzug war wohl dazu angethan, die Blicke auf sie zu ziehen. Der noch kurze Rock von leuchtend rother Farbe, über den das Oberkleid sich zierlich bauschte, war von der Mode erst kürzlich heraufbeschworen und hier in der alten Stadt noch nicht oft gesehen worden. Die weiße Pelzgarnitur, welche die elegante kleine Dame trug, und das kecke Hütchen mit dem rothen Reiherbusch auf dem schwarzen Lockenkopf, das alles glänzte und strahlte in solcher Neuheit, daß man unwillkürlich auf sie hinschauen mußte.

Mit der glücklichen, stolzen Miene kleiner Mädchen, die eine neue Toilette spazieren führen und des Staunens aller Welt sicher sind, schritt sie einher. Ihre minder begünstigten Altersgenossen, die erst nur in stummer Neugier sie musterten, würdigte sie keines Blickes und strafte im Vorübergehen ihre sichtliche Bewunderung durch ein sehr ausdrucksvolles, hochmüthiges Abwenden des Hauptes.

Die Empfindlichkeit des kleinen Volkes der Straße ist aber leicht geweckt, und die heute vorherrschend übermüthige Laune machte sich alsbald bemerkbar. Die dreistern und ungezogenern Kinder versuchten sofort, in der engen Gasse ihr den Weg zu sperren und sie zu stets erneutem Ausweichen zu zwingen. Wenig schmeichelhafte Bezeichnungen, wie: Schicksel, Ape, Zierape, wurden dabei in landläufiger Mundart laut, da man eben ihr als Altersgenossin und bei ihrer sehr leicht erkennbaren Abstammung am wenigsten solchen Hochmuth verzieh. Der Gleichmuth der Kleinen war dabei der Situation nicht gewachsen. Bei der unverkennbaren Absicht der Bande, ihr den Weg zu verlegen, gewann ihre Ungeduld und ihr Stolz sogleich die Oberhand.

»Ihr sollt mir aus dem Wege gehen!« rief sie plötzlich, stehen bleibend, in leidenschaftlichstem Tone. »Wenn ihr mir nicht gleich Platz macht, werde ich euch alle bei der Polizei angeben lassen,« fuhr sie hochfahrend fort, indeß sie mit unaussprechlicher Verachtung auf die näher drängende Schar blickte. »Es ist ja entsetzlich, daß man in diesem häßlichen alten Nest nicht ein Mal gehen kann, ohne von schmutzigen, ekeligen Jungen belästigt zu werden,« setzte sie in für ihr Alter komisch altkluger Weise hinzu, indeß sie sich zum Vorwärtsschreiten anschickte, als müsse ihre Rede die vernichtendste Wirkung gehabt haben. Doch hatte sie da falsch gerechnet.

Höhnendes Gelächter und drohende Rufe waren die Antwort.

»Weis' dem Schicksel 'mal, was schmutzige, ekelige Jungen sind! Geh' doch hin und ruf' die Polizei, Schickschen!« tönte es von allen Seiten. Ein dichter Ring hatte das Mädchen rasch umschlossen, und es hagelte Schimpfreden und Insulte auf sie herab. Einen Augenblick hielt ihre Würde und ihr Stolz noch Stand; sie versuchte einige Male kräftig zu antworten, doch dann gewann die Furcht die Oberhand. Aber vergeblich suchte sie dem Ring zu entkommen, indeß die übermüthigen Buben sich an ihrer Angst weideten. Unter Schreien und Jauchzen ward sie die Straße hinabgedrängt, ohne daß sie sich zu helfen wußte. Die Vorübergehenden hatten zu viel auf die Fährlichkeit des Weges und des Wetters zu achten, als daß sie sich hätten um die lärmende Kindergruppe kümmern können.

Zwei junge Leute kamen jedoch jetzt die Gasse herab und wurden durch das Geschrei der Buben aufmerksam gemacht. Sofort erriethen sie den Stand der Dinge. Im selben Augenblicke griffen auch zwei Paar kräftige Arme zu Gunsten der Bedrängten ein, und einige der Unverschämtesten der Bande flogen, sehr unzart geschleudert, nach rechts und links zur Seite. Die Hände der jungen Leute übten dabei ein so schonungsloses Richteramt aus, daß die unbändige Schaar schleunigst das Weite suchte, so gut es in der engen Gasse thunlich war.

Das Mädchen hatte indessen die erste Möglichkeit des Entkommens benutzt und war, vor Schreck und Zorn außer sich, vorangestürzt. Sie war so außer Fassung gebracht, daß sie, nicht achtend auf den warnenden Zuruf, blindlings gegen einen Laternenpfahl anrannte und in der tiefen Gosse, welche die Domgasse hier kreuzte, zu Fall kam, so daß die trübe Lache hoch um sie aufspritzte. Weit dahin flogen bei der Heftigkeit des Falles Pelzmuff und Federhut. Doch ehe sie selbst noch zur Besinnung gekommen, war auch hier schon helfende Hand bereit. Der eine ihrer Retter hatte das fernere Strafamt seinem Kameraden überlassen und war ihr nachgeeilt. Den Fall konnte er zwar nicht mehr hindern; aber er hob sie sofort wieder empor, die zarte Gestalt zu einem der nächsten Häuser tragend, wo er sie auf den Treppenstufen niederließ. Mit freundlichen Worten suchte er sie dann zu beschwichtigen und fragte theilnehmend, ob sie Schaden genommen.

Für's erste schien aber jede Frage erfolglos; ein convulsivisches Schluchzen entstieg der Brust der Kleinen, und wie von Scham bedrückt, barg sie, anscheinend auf nichts hörend, das Gesicht in den Händen.

Es dauerte eine Weile, bis die theilnahmvollen Tröstungsversuche ihr einige Worte zu entlocken vermochten. »Mein Hut! mein Muff!« klang es dann plötzlich hinter den dicht vorgehaltenen Händen undeutlich hervor – Ausrufe, bei denen ihr Retter, trotz aller Theilnahme, eines Lächelns sich nicht erwehren konnte.

»Na, wenn du daran noch denkst, wird es wohl so schlimm nicht sein,« meinte er.

»Hermann,« wandte er sich an seinen jetzt ebenfalls hinzutretenden Gefährten, »sei so gut und rette jene kostbaren Gegenstände weiblichen Schmuckes, die da in der trüben Fluth liegen. So ein heroisches Mädchenherz denkt wahrlich eher an den Hut als an gesunde Glieder!« setzte er lachend hinzu.

Er nahm die übel zugerichteten Kleidungsstücke aus seines Freundes Hand entgegen. »Da sind deine Sachen, aber nun weine auch nicht mehr,« sagte er dann zu dem Mädchen, das er noch immer sorglich umfangen hielt. »Sieh', dein Hut hat den Sturm leidlich überstanden, und hoffentlich du auch. Die Schlingel haben aber ihre Lektion erhalten: du, Hermann, du fuhrst ja wie das jüngste Gericht dazwischen!«

»Aber wie hast du es nur angefangen, die Bande so zu reizen? Du mußt da mit Schuld gehabt haben, denn ganz ohne Grund geschieht so etwas selten,« sagte der als Hermann Angeredete in ziemlich strengem Tone, der aber nur eine Erneuerung des heftigen Schluchzens hervorrief.

»Na, von bösen Buben angegriffen werden, kann allenfalls auch dem Besten passiren!« tröstete der andere gutmüthig. »Aber, Hermann, deines Vormundes Wagen war schon vor zwei Stunden in der Stadt; du solltest dich lieber nicht länger aufhalten, denn du wirst sonst Astens verfehlen. Ich will dem kleinen Fräulein hier schon helfen und werde sie nöthigenfalls heimtragen, wenn sie nicht gehen kann. Komm, nimm jetzt die Hände vom Gesicht und schau' uns ein Mal an!« wandte er sich von neuem zu dem Mädchen. »Wenn du sagst, wohin ich dich tragen soll, thu' ich es ja gern.«

Seine Stimme hatte einen so gewinnend freundlichen Klang, daß die krampfhaft vorgehaltenen Hände sich lösten und ein verweintes Gesichtchen mit einem Paar großer dunkeler Augen zum Vorschein kam. Da es sehr mager war, und Schmutz und Thränen es noch bedeckten, machte es einen fast komischen Eindruck.

Die Kleine wollte zwar die Augen sofort wieder bedecken, als könnte sie nach dem Erlebten den Anblick anderer noch nicht ertragen – aber der junge Mann ließ es nicht zu. »Nein, das gilt nicht,« rief er, die widerstrebenden Hände festhaltend und das tief herabsinkende Köpfchen emporhebend. »Das gilt nicht … Potztausend, so schöne Augen, wie du sie hast, kannst du doch sehen lassen! Weißt du, daß du ein Paar echte Murillo-Augen hast? Die darfst du um so ungezogener Schlingel wegen dir doch nicht vermeinen,« fuhr er fort, unbekümmert um das fast strafende »Aber Anton!«, das sein Gefährte ungeduldig in sein Geplauder warf.

Die höchst unpädagogische Tröstung hatte indessen die Folge, daß der bis jetzt unversiegbar scheinende Thränenstrom in's Stocken gerieth und die gepriesenen, für das schmale Gesicht fast zu großen Augen sich auf die beiden Befreier richteten. Während sie aber vor dem mißbilligenden Blick des einen fast scheu sich wieder abwandten, blieben sie wie gebannt auf dem Antlitz des andern haften.

Der junge Mann besaß auch eines jener Gesichter, von denen nur ungern des Menschen Blick sich trennt. Ein Künstler würde den Kopf mit den schönen, regelmäßigen Zügen gern zum Typus vollkommener Jugend genommen haben. Dabei lag ein sonniger Glanz darüber ausgebreitet, wie man ihn selten findet in unserm ernsten Lande. Sonnig glänzten die weichen, gelben Locken, lichte Freude lag auf der reinen, weißen Stirne und strahlte aus den großen, klaren Augen. Bei all' dem Frühlingsglanz, den die Züge zeigten, entbehrten sie jedoch der Bedeutung nicht. Der strahlende Sonnenschein dieser ersten Jugend konnte im Sommer des Lebens sich in die Gluth der Begeisterung wandeln.

Er wie sein Kamerad mochten das Alter von siebenzehn bis achtzehn Jahren kaum überschritten haben; sie trugen beide noch die Kopfbedeckung, die sie als Schüler des Gymnasiums kennzeichnete, und gehörten sichtlich den bessern Ständen an.

Die Kleine schien indessen in Folge ihrer Beobachtungen die Fassung einigermaßen wieder erlangt zu haben. Mit einem Anflug von Verlegenheit machte sie sich aus dem Arme ihres Befreiers los und bemühte sich, ihren zerzausten Anzug wieder zu ordnen. Dann richtete sie sich empor und versuchte allein voranzugehen, bei welchem Versuch sie aber mit einem Wehlaut den Arm des jungen Mannes fassen mußte.

»Siehst du, du hast dir doch weh gethan, wahrscheinlich den Fuß verstaucht!« sagte der Blonde. »Nun wirst du mein Anerbieten, dich zu tragen, wohl annehmen müssen. Sage nur, wo du wohnst, damit ich dich heimbringen kann.«

Die Frage wurde augenscheinlich von dem Mädchen nicht gern beantwortet. »Wir wohnen hier in der Domgasse, bei Herrn Daniel Veitel, Banquier,« gab sie zögernd zurück, das Wort Banquier etwas betonend.

»Banquier Daniel Veitel, hier in der Domgasse?« fragte der Blonde, erstaunt seinen Gefährten ansehend.

»Dein vis-à-vis sogar,« gab der andere zurück, ein spöttisches Lächeln nicht unterdrückend. »Du kennst ihn nur nicht unter diesem Titel, obschon er reich genug dazu sein mag. Der Wander-Veitel, wovon dein Vater stets so viel erzählte, ist es,« sagte er flüsternd.

»Was, der alte Daniel in dem Hause mir gegenüber? Der hat so eleganten Besuch!« Durch einen freundschaftlichen Rippenstoß seines Kameraden aufmerksam darauf gemacht, daß die Kleine zuhöre, meinte er: »Das Haus ist ja ganz hier in der Nähe; da bringe ich dich schon hin. Hermann, geh' voraus, wenn du die Astener sehen willst. Ich komme gleich nach und treffe dich sicher noch im Goldbeck'schen Laden.«

»Wie du willst,« sagte Hermann. »Ich gehe also vor; komm' aber bald nach, Anton. Adieu, Fräulein Veitel,« wandte er sich an diese. »Hoffentlich lassen die Buben Sie künftig in Ruhe, und wird der Unfall weiter keinen Nachtheil für Sie haben,« setzte er hinzu, dem Mädchen die Hand bietend.

Mit fast damenhafter Affectation legte die Kleine bloß die Fingerspitzen in dieselbe und lispelte einige Dankesworte, worauf er seinen Weg quer über den Domhof einschlug. Er schien ihr entschieden weniger Vertrauen einzuflößen, als sein Freund. »Mein Name ist gar nicht Veitel,« sagte sie dann, zu letzterm gewandt, in einem Tone, als wiese sie eine Anschuldigung zurück; meine Mutter war nur eine Veitel. Herr Daniel ist mein Großvater. Wir wohnen in Berlin,« setzte sie mit einigem Nachdruck hinzu.

»Ah, du bist aus Berlin,« sagte der junge Mann, amüsirt durch die Betonung, welche die Kleine dem Worte gab, »also ganz fremd hier. Ich habe freilich nie Kinder bei meinem Nachbar bemerkt, und du mußt jedenfalls noch nicht lange hier sein. Nun, ich hoffe, du schreibst unsere alte Stadt nicht gleich in das schwarze Buch um dieses ersten unangenehmen Erlebnisses willen. Sag' mir, was war es, das die Buben so reizte?«

»Sie … sie wollten mich nicht vorüberlassen und spotteten auch über meinen Anzug,« sagte sie etwas kleinlaut. »Aber ich will gar nicht länger hier bleiben in dieser häßlichen Stadt; mein Vater soll mich sogleich nach Hause holen!« fuhr sie heftiger fort. Ihr Blick verdunkelte sich abermals, als sollte der kaum gestillte Thränenstrom von neuem losbrechen.

»Nun, ungezogene Buben wird es bei euch in Berlin auch geben. Deine schönen rothen Federn hatten es ihnen vielleicht angethan; so etwas kennt man hier noch gar nicht,« meinte er, schelmisch das Hütchen betrachtend, das sie eben wieder auf dem Kopfe befestigte. »Du siehst, es thut nicht gut, allzu viel die Blicke auf sich zu ziehen; der vergoldete Spatz im Märchen ward auch gerupft.«

So plauderte er munter weiter, indeß des Mädchens große Augen erstaunt auf ihn geheftet blieben, als wisse sie nicht recht, sollte sie seine Worte gut oder übel aufnehmen.

»Doch jetzt vertraue dich mir an; ich trage dich im Augenblick hinüber,« fuhr er dann fort, ganz bereit, sie gleich einem Kinde auf die Arme zu nehmen. Aber der schwarze Lockenkopf hob sich stolz, und sie ließ es nicht zu.

»Wenn Sie mich nur etwas stützen wollten,« meinte sie, trotz des schmerzenden Fußes mit großer Energie sich aufrichtend. »Es wird schon gehen.«

Der junge Mann mußte die Kraft bewundern, mit der sie bei jedem Schritt den Schmerz überwand, den er ihr vergeblich zu erleichtern suchte.

»Aber deinen Namen mußt du mir doch sagen,« bemerkte er, indem sie langsam den Weg zurücklegten, »und was dich aus dem großen Berlin hierhergeführt hat.«

»Ella Hirsch heiße ich,« gab sie zurück. »Mein Vater hat ein Bankgeschäft zu Berlin; meine Mutter war die Tochter des Herrn Veitel. Sie ist schon lange todt, und ich soll einige Zeit beim Großvater bleiben wegen der bessern Luft hier.«

Vielleicht hatte betreffs der bessern Luft in der Domgasse der junge Mann einige Zweifel; doch wollte er Fräulein Hirsch nicht enttäuschen und hielt sich mehr an den Vordersatz. »Ella?« wiederholte er, »Ella? Das ist nur ein halber Name … Gabriella … Isabella … Petronella … oder was für eine Ella bist du eigentlich?« fuhr er lustig fort, als er einige Verlegenheit bei ihr entdeckte, die ihn wittern ließ, daß der Name Ella wohl einen andern verdecken solle, der israelitischen Ursprung verrathe. Er hatte auch nicht geirrt; die Kleine war sichtlich verlegen bei seiner directen Frage.

»Daniella heißt es eigentlich,« sagte sie endlich mit einiger Ueberwindung. Sein Erstaunen bemerkend, fuhr sie dann wie erklärend fort: »Ich habe den … den komischen Namen von meinem Großvater, weil ich dessen einzige Enkelin bin. Aber in Berlin haben sie mich immer nur Ella genannt.«

»Das würde ich durchaus nicht dulden,« gab der junge Mann mit angenommenem Ernst zurück. »Der Name klingt weich und eigenthümlich. Ella kann jeder heißen; aber Daniella, das ist wie für dich gemacht, das paßt zu deinen schwarzen Augen.« Wieder sahen die schwarzen Augen so ungewiß fragend zu ihm auf, als zweifelte sie an seinen Worten. Aber des jungen Mannes Ausdruck war vollkommen aufrichtig. »Daniella!« wiederholte er noch ein Mal; »der Name klingt wirklich wie Musik und wie eine echt hebräische Erinnerung: den mußt du dir nicht verstümmeln lassen.«

»Großvater nennt mich auch stets so,« sagte das Mädchen, sichtlich überrascht und geschmeichelt von der Bewunderung, die er dem Namen widmete; und von ihm ausgesprochen, klang derselbe ihr plötzlich ganz melodisch. Eine Art von reuiger Empfindung erfaßte sie dabei, weil sie gerade am meisten auf dessen Abkürzung bestanden, vielleicht eben des hebräischen Klanges wegen; sie hütete sich aber, es einzugestehen und schritt, nachdenklich schweigend, neben ihrem Begleiter her.

»Hier wären wir ja schon angelangt, Daniella,« bemerkte der junge Mann jetzt. »Das schwarze Haus da ist ja das des Großpapas, nicht wahr? Ich werde wohl weise thun, dich hinein zu begleiten, um zu erklären, wie all' die schönen Sachen so ohne deine Schuld verdorben sind,« setzte er hinzu, sie sorglich bis zur Schwelle leitend.

Das Mädchen aber blieb zaudernd stehen, als wäre sein Eintritt ihr nicht ganz genehm. »O, um der paar Sachen willen, das ist nichts,« meinte sie wegwerfend, als wolle sie andeuten, daß weder für sie noch für Herrn Banquier Veitel solche Kleinigkeiten von Belang seien. »Ich kann schon allein eintreten. Sie werden ja auch von Ihrem Freunde erwartet,« setzte sie wie abweisend hinzu. Während sie das sagte, lehnte sie erschöpft an der Thüre, und die Blässe des Antlitzes deutete an, daß sie noch viel Schmerz erduldete.

»Jedenfalls darfst du noch nicht lange stehen,« sagte der junge Mann. »Wir wollen also hier Abschied nehmen. Hoffentlich geht es dir bald wieder gut, und wir begegnen uns wohl noch. Darf ich kommen und fragen, wie es dir geht?«

Das Mädchen hob den Blick abermals zu ihm empor – ein Wort schien auf ihren Lippen zu schweben – aber plötzlich, als sei sie der Sprache nicht mächtig, beugte sie sich über seine Hand und führte sie hastig an die Lippen, im selben Augenblicke aber auch in der Thüre verschwindend.

»Diese Wetterhexe!« sagte der junge Mann, der bei dem unvermutheten Dank fast erschrocken und unmuthig seine Hand zurückgezogen hatte. »Ist das orientalische Gluth in den Augen! Und will sich dabei zieren, Daniella zu heißen! Aber in den Augen steckt etwas,« fügte er bei, noch ein Mal auf das schwarze Haus einen Blick werfend, ehe er den Weg einschlug, den sein Gefährte vorhin genommen.

Dieser hatte, nachdem er sich von ihm getrennt, kaum den Domplatz überschritten gehabt, als ihm die Equipage begegnet war. Kutscher und Bediente hatten vom Bock herab ehrfurchtsvoll den jungen Mann gegrüßt, der vertraulich ihnen zunickte. »Bei Goldbecks?« hatte er, alle Vorreden sich sparend, gefragt. »Jawohl, Herr Baron!« war die eben so lakonische Antwort gewesen.

»Aber die Damen sind doch mitgekommen?« hatte der junge Mann dann weiter gefragt, einen etwas mißtrauischen Blick auf den offenen Wagen werfend.

»Die Comtessen haben den Herrn Grafen begleitet,« war des alten Dieners Bescheid. »Der Herr Graf befahlen den offenen Wagen, da die Wege so schlecht sind nach dem Wetter der letzten Wochen.«

»Na, es ist auch heute noch nicht sehr zu loben,« meinte der junge Mann, sichtlich befriedigt von des Dieners Antwort. »Ich will euch nicht länger aufhalten, ihr werdet froh sein, unter Dach zu kommen,« setzte er hinzu, freundlich den Leuten noch ein Mal zunickend, indeß er weiter schritt.

Sein Gang war schon der des Mannes, so ebenmäßig und fest, obgleich er in seinem Wesen, mehr noch als sein Freund, in der Uebergangsperiode vom Knaben zum Jünglinge stand. Diesen Schultern und Gliedern sah man an, daß sie noch mächtig sich recken und dehnen müßten, ehe sie ihre Vollendung erreichten, und auch die Gesichtszüge zeigten noch die hagere Unfertigkeit des Heranwachsenden.

Er konnte bedeutend weniger Anspruch auf Schönheit machen als sein Freund. Aber aus den festen Zügen, aus den ernsten grauen Augen sprach eine Ruhe und Kraft, die etwas sehr Wohlthuendes hatte, und in seiner Haltung und der Sicherheit des Auftretens trug er unverkennbar den Stempel der Vornehmheit, die ganz unabhängig von Schönheit ist.

Sein Ziel, der Goldbeck'sche Laden, war bald erreicht. Herr Goldbeck gehörte einigermaßen zu den Berühmtheiten der Stadt. Mit viel Glück vermittelte er nämlich der Provinz die Mode und die Novitäten der verschiedensten Länder und Residenzen in jenen Nützlichkeiten und Nichtigkeiten, wie die vornehme Welt sie liebt. Er wußte durch sein Verständniß für den exclusiven Geschmack dieses Publicums und durch die Manchfaltigkeit, die er bot, stets zu fesseln, selbst wenn er sich durch einige Exclusivität der Preise dafür entschädigte. Der umwohnende Landadel pflegte daher auch mit Vorliebe ihn aufzusuchen, wenn seine Einkäufe ihn in die Stadt riefen, und jetzt, kurz vor dem Feste, war sein Laden besonders stark besucht.

Schon beim Eintreten erkannte Hermann den Gesuchten, einen altern Herrn, der mit dem Inhaber des Geschäfts im eifrigsten Handel begriffen war.

»Ah! du, Hermann!« sagte derselbe, sichtlich erfreut bei der Begrüßung des jungen Mannes, und ihm herzlich die Hand schüttelnd. »Gut, daß du hierher kommst; Ebert suchte dich umsonst in deinem Quartier. Wie erfuhrst du, daß wir in der Stadt seien?«

»Rother sah die Equipage hereinfahren. Wir kamen direct aus der Klasse hierher, wo wir euch sicher zu treffen dachten, und wir hatten unterwegs nur einigen Aufenthalt. Uebrigens begegnete mir eben dein Wagen. Wo sind deine Töchter, Onkel?« setzte er gedehnter hinzu, vergeblich sich nach ihnen umschauend.

»Sie stecken dort hinten in einem der andern Säle, meinen Beutel und Herrn Goldbeck's Laden leer kaufend,« gab der alte Herr gut gelaunt zurück. »Geh' zu ihnen, Hermann, und halte sie dort noch etwas auf, damit sie mir hier nicht zu früh über den Hals kommen.«

»Für Helene oder für Henny?« frug Hermann, noch einen prüfenden Blick auf die Damensättel werfend, die den Gegenstand des Handels bildeten.

»Für beide; die kleine Hexe wird aber wohl den größten Spaß daran haben. Du kannst später den liebenswürdigen Ritter bei ihnen spielen! Aber nun mach' dich fort, mein Junge, und halte sie hübsch drinnen, bis ich komme.«

Dieser Befehl schien Hermann durchaus nicht unangenehm.

»Die Comtessen sind im dritten Saale bei den Bronzegruppen,« ergänzte Herr Goldbeck dienstbeflissen.

Noch ehe der junge Mann aber dort eintrat, war er schon von den scharfen Augen einer vierzehnjährigen Schönen entdeckt, die sich nur mit dem Beschauen der im Laden aufgehäuften Herrlichkeiten abzugeben schien. »Helene, Hermann ist da!« rief sie, mit voller kindlicher Freiheit an den jungen Mann heranspringend, während ein zweites junges Mädchen, das anscheinend in sehr ernste Ueberlegung vertieft war, bei dem Ruf aufsah und, wenn auch weniger stürmisch, doch nicht minder herzlich seinen Gruß erwiderte.

»Ich hoffe, du errettest Helene aus der Qual dieser Wahl,« rief die Kleine neckend, indem sie ihn ungenirt an der Hand herbeizog. »Seit einer Viertelstunde schwankt ihr Entschluß, ob der Rauchapparat in Form einer Affengruppe, oder jener, welcher landwirthschaftliche Gegenstände darstellt, Papa gewidmet werden soll. Ich stimme für die Aefflein, da Papa dann doch eine Erinnerung an mein holdes Profil hat,« meinte sie, ihr keckes Stumpfnäschen in die Luft reckend, »aber Helene kann sich noch nicht entscheiden.«

»Helene nimmt nichts oberflächlich,« sagte Hermann, sich aus die Seite der ältern Schwester schlagend.

Mit einem freundlichen »Ja, sag' du, Hermann, was ich nehmen soll«, wandte diese sich an ihn und sah mit den hübschen nußbraunen Augen vertrauensvoll zu ihm auf. Auch sie war noch in dem Alter, das man die Backfischjahre zu nennen pflegt, und das feine, blasse Gesichtchen, das unter dem einfachen grauen Filzhut hervorsah, erschien noch durchaus kindlich, obgleich die Gestalt schon schlank und hoch emporgeschossen war.

»Nun, wenn ich etwas sagen soll, obgleich du weißt, daß ich wenig Verständniß für so etwas habe, so stimme ich für die Affengruppe,« sagte Hermann. »Es steht doch in etwa im Einklang mit der Sache und erinnert an Havanna und Aehnliches: das Aefflein, welches da die Blätter rollt, und das, welches sie so eifrig verpackt, – ganz abgesehen von Henny's wichtigem Grunde.«

»Ganz abgesehen davon, daß du ein großes Wort da gelassen aussprichst,« sagte Rother's muntere Stimme in diesem Augenblick, und seine Hand legte sich auf des Freundes Schulter. »Da bin ich schon! Ich hatte also nicht falsch gerechnet, daß Herr Goldbeck sicher Sie alle hier festhalten würde,« fuhr er fort, indem er sich zu den jungen Mädchen wandte, die ihn kaum minder zutraulich als vorhin seinen Freund begrüßten.

»Finden Sie nicht auch, Comtesse Helene,« fuhr er dann eifrig fort, »daß Hermann so in aller Ruhe mit seinem Urtheile stets das Rechte trifft? Habe ich mir doch schon oft den Kopf darüber zerbrochen, was in solchen Dingen guter Geschmack oder Geschmacksverirrung sei, – und er löst die Frage so einfach. Es muß mit dem Sinne der Sache im Einklang bleiben – ich glaube sicher, das ist das Rechte. Du solltest wirklich zu Nutz und Frommen unseres Kunsthandwerks eine Broschüre darüber schreiben,« plauderte der Blonde lebhaft weiter, des Freundes weisen Ausspruch in's hellste Licht setzend. Die jungen Damen stimmten eifrig bei.

»Ihr geistreichen Leute seht oft vor lauter Bäumen den Wald nicht. Uebrigens ist mein Ausspruch wohl noch sehr bestreitbar,« wehrte Hermann das Lob ab. »Aber was hast du mit unserer Heldin angefangen, – dein Abenteuer glücklich zu Ende gebracht?«

»Was für eine Heldin, was für ein Abenteuer?« rief Henny dazwischen. Sie war eines jener Wesen, die weder mit Augen noch mit Ohren etwas unbeachtet lassen.

»Eine junge Dame, die wir ritterlich aus den Händen tückischer Angreifer befreiten,« sagte Hermann ganz aufgeräumt, »und die Freund Rother dann heimwärts geleitete, wofür er sich ewig Dankbarkeit wird erworben haben.«

»Und du nicht minder,« meinte Rother; »die arme Kleine hat Angst genug ausgestanden.«

»Wer war sie denn?« fragte Henny, neugierig gemacht durch die Erzählung der jungen Leute.

»Freund Rother sah ein Paar schöner Murillo-Augen; ich gestehe, ich fand nur ein häßliches kleines Judenmädchen, das sich mächtig herausgeputzt hatte und, von den Gassenbuben gehetzt, in den Schmutz gefallen war,« sagte Hermann.

»O, nichts weiter?« meinte Henny, etwas enttäuscht über diese Erklärung des Abenteuers. »Aber, Helene, wir sehen auch den Wald vor lauter Bäumen nicht,« unterbrach sie sich lebhaft. »Da kommt Papa schon und wird alles sehen!« setzte sie ängstlich hinzu mit der Wichtigkeit, die man in ihren Jahren auf die Weihnachts-Ueberraschung legt. Hermann, Helenens ängstliches Bemühen, die Gruppe mit dem Muff zu verbergen, bemerkend, setzte dieselbe rasch entschlossen wieder an ihren Platz und raunte ihr beschwichtigend zu: »Ich hole sie später ab und übergebe sie an Ebert.« Ein dankbarer Blick und die Worte: »Du weißt doch wirklich stets zu helfen,« lohnten ihm dafür, was den jungen Mann sehr zu beglücken schien.

Der Vater hatte inzwischen gethan, was vierzehn Tage vor Weihnachten ehrlicher Leute Pflicht ist, und kam jetzt, nachdem er sich durch Husten und Räuspern bemerkbar gemacht, langsamen Schrittes näher. »Noch nicht fertig, Kinderchen?« rief er schon von weitem. »Seid wohl gut bei Kasse, daß ihr so viel Zeit braucht!« scherzte er, das jüngste Töchterchen, das ihm entgegensprang, um ihn noch etwas aufzuhalten, an der blonden Mähne fassend.

»Nein, so viel Zeit nothwendig, weil bei Herrn Goldbeck schwer etwas Billiges zu finden ist,« gab die Kleine gewandt zurück.

»Hab' das auch bemerkt,« lachte der Graf. »Ich rathe euch, sehr bescheidene Wünsche zu hegen für diese Weihnachten,« fuhr er fort, ihr scherzend die Locken zausend.

»Ach, Papa, wir sind nicht bange; Herr Goldbeck sieht sehr zufrieden aus; du hast gewiß das Schönste und Theuerste genommen,« sagte sie zuversichtlich.

»Hermann und Rother sind hier,« plauderte sie dann weiter, dem Papa den Weg jetzt frei gebend.

»Weiß schon, weiß schon,« sagte der Graf. »Ah, da sind Sie, Rother. Nun, wie geht's und steht's mit den Studien und der Musica?« wandte er sich an den jungen Mann, der ihn ehrfurchtsvoll grüßte.

»Aber, Kinderchen,« fuhr er fort, »ich hoffe, ihr seit jetzt hier fertig und habt weiter keine allzu lange Commissionsliste mehr. Wohin müßt ihr noch?«

»Nothwendig noch in die Domgasse, Papa,« meinte Helene, ganz hausfraulich ihr Notizbuch einsehend, das eine lange Reihe von Bemerkungen zu enthalten schien.

»In die Domgasse?« sagte der Vater, sichtlich nicht angenehm überrascht. »Das ist noch weit hinauf, und Philipp Werthern war eben hier, mich in das Gasthaus zu bitten.«

»O Papa, Baron Werthern ist hier mit seinem neuen Zug?« fiel Henny eifrig dazwischen. »Fragte er nicht nach uns?«

»Beruhige dich, Herzchen; er hofft, auch euch im Gasthofe zu sehen. Aber wenn wir in die Domgasse müssen –«

»Onkel, wenn du es erlaubst, könnten wir deine Töchter dort hingeleiten,« meinte Hermann, »und damit sie den weiten Weg nicht zwei Mal machen müssen, kannst du sie mit dem Wagen abholen.«

»Ein weiser Vorschlag, mein Junge, der angenommen werden soll,« meinte der Alte. »Ihr wandert mit den Mädels da hinauf, und ich komme mit dem Wagen nach. Aber noch eins, Hermann: Weihnachten kommst du zu uns. Ich schrieb es deiner Mutter schon,« beantwortete er den fragenden Blick des jungen Mannes. »Es wird ihr besser sein, die Tage mit uns zu verbringen, als daheim mit all' den trüben Erinnerungen,« setzte er leise hinzu, indeß ein Schatten von Trauer über das Antlitz Hermanns zog.

»Sie, Rother, kommen selbstverständlich auch,« sagte er zu diesem; »ich werde es Ihrem Großvater schon bestellen. Ich schicke euch natürlich den Wagen herein,« setzte er hinzu und wehrte den Dank der jungen Leute ab. »Ich hoffe aber, Rother, Sie machen sich dann nicht rar auf dem Schloß, – meine Schwägerin freut sich schon auf Ihr schönes Talent.«

»Wenn Sie erlauben, Herr Graf,« sagte Rother mit dem vergnügtesten Ausdruck.

»Aber nun auch voran, Kinder, daß jeder seiner Wege zieht,« drängte der Graf, indem er selbst frisch in das Schneegestöber hineintrat; »sonst gibt es eine nächtliche Partie.«

»Vergiß nicht, Baron Werthern einzuladen,« rief Henny dem Vater noch zu, der lachend nickte, indeß die junge Gesellschaft ihren Weg über den Domplatz einschlug.

»Henny scheint Herrn von Werthern als ihr Privat-Eigenthum anzusehen,« sagte Hermann, der an Helenens Seite getreten war.

»Die Freundschaft ist groß und neulich noch durch zwei schöne Windspiele besiegelt worden,« gab Helene zurück. »Henny, Stips und Schnips, das ist setzt ein Trio, das nur bei Baron Werthern schwört.«

»Ich hatte Baron Werthern schon längst gern,« schmollte die Kleine; »er sieht einen doch nicht über die Schulter an bloß weil man ein Kind ist. Drum habe ich ihn lieber als alle meine übrigen Onkels.«

»Ob es ihm recht wäre, daß du ihn dazu rechnest?« meinte Hermann lachend – »wenn er auch füglich bald zu den alten Onkels zählen kann,« setzte er hinzu, mit der gründlichen Verachtung des reifem Alters, welche die erste Jugend stets hat. »Aber sieh', Rother, hier ist ja der Schauplatz unserer Thaten – das arme Ding lag kläglich dort in seiner hochrothen Pracht. Die ungezogenen Burschen hatten die Arme schrecklich geängstigt. Fräulein Veitel schien es auch übel genug vermerkt zu haben.«

»Sie heißt gar nicht Veitel, Daniella Hirsch ist ihr Name,« sagte Rother. »Sie ist eine kleine Berlinerin und nur hier bei ihrem Großvater auf Besuch.«

»Daniella, das ist ein hübscher, seltsam klingender Name; der paßt zu den Murillo-Augen,« meinte Helene. »War sie wirklich hübsch, Rother?«

»Sie kann es jedenfalls noch ein Mal werden,« sagte dieser. »Jetzt ist sie ein merkwürdiges kleines Ding mit den größten Augen, die mir noch begegnet sind,« fügte er hinzu, wohl in Erinnerung des Abschiedes von ihr. Lange hatte er gemeint, die dunkeln Augen noch auf sich geheftet zu fühlen.

»Ja, unheimlich grelle Augen in einem gelben, magern Gesicht,« beharrte Hermann. »Ich begreife nicht, was du daran schön finden konntest, und noch weniger, daß du es dem eiteln Ding sagtest.«

»Sie hat Sie am Ende ganz verzaubert, Rother,« lachte Henny lustig. »Aber ich bin überzeugt, Hermann hat recht, daß sie nichts weiter ist, als ein häßliches kleines Judenmädchen, und daß Ihre Künstler-Phantasie alles hinzuthut.«

»Nein, ich vertraue Rother's Blick darin,« sagte Helene. »Aber hier müssen wir hineingehen, Henny,« fuhr sie fort, in die Flur eines Geschäftshauses tretend; »hier haben wir alle unsere Besorgungen abzumachen. Wenn es euch nur nicht langweilig, wird!« sagte sie freundlich, zu den jungen Leuten gewandt, was aber besonders Hermann eifrig bestritt.

»Und hier,« sagte Rother, »können Sie auch die Wohnung unserer kleinen Heldin sehen, dort, wo die schwärzliche Thüre ist – eine düstere Behausung für eine so strahlende Bewohnerin. Ich wohne direct gegenüber – oben in dem Giebelstübchen. Sehen Sie, Comtesse Henny, daß Sie recht haben mit der Verzauberung; selbst unsere beiden Häuser sind nahe daran, sich gegenseitig in die Arme zu sinken.«

Beide Mädchen waren noch Kind genug, erst das interessante Haus in Augenschein zu nehmen, ehe sie sich in ihre Kaufangelegenheiten stürzten. Aber wie sie auf die hell erleuchtete Flur traten, die grell abstach gegen die schon eingetretene Dunkelheit, ahnten sie nicht, daß die besprochenen schwarzen Augen gerade in dem Augenblick fest auf sie gerichtet waren.

Daniella war still und kleinlaut geworden nach ihrem mißlungenen Ausgang. War ihr Zorn verflogen, oder drückte die Schmach sie allzu sehr nieder, oder hatte der letzte Eindruck alles Uebrige verwischt, daß sie so wenig darüber äußerte? Die Klagen, welche Jetta, des alten Veitel langjähriges Hausfactotum, wegen der ruinirten Sachen laut werden ließ, sowie deren Theilnahme für den Unfall am Fuße beachtete sie gar nicht.

In Gedanken versunken saß sie am Fenster, das doch keine sehr reizvolle Aussicht für die kleine Großstädterin zu bieten vermochte, ihre Augen träumerisch auf das gegenüberliegende Haus gerichtet, indeß ihr Großvater in behaglicher Schabbesruhe am Ofen stand, und die Dienerin die Vorbereitungen zum späten Mittagsmahl, wie es bei den Juden üblich, traf.

Aber plötzlich fuhr das Mädchen am Fenster empor. »Großvater, komm' und sieh', was da ist,« heischte sie fast gebieterisch, trotz des schmerzenden Fußes sich aufrichtend. »Komm' und sieh', wer die Herren sind und die Damen, die bei Levi in der Handlung stehen.«

»Nun, wen soll ich sehen?« meinte der Alte, so bedächtig näher tretend, daß er nur noch für einen Moment jene Gruppe erhaschte. »Täuschen mich meine Sinne nicht, sind's die jungen Herrschaften von Asten gewesen, und der eine Herr der Baron von Velden, den man gleich kennen kann an seiner Länge.«

»Der Baron von Velden und die Herrschaften von Asten,« wiederholte das Mädchen, nur um so gespannter hinausschauend. »Sind die von Asten auch Barone?«

»Nein, Grafen sind's,« sagte der Großvater; »und sie wohnen hier in der Nähe auf einem schönen Schloß. Sie können's machen, die Astens; reiche Leute sind's, vornehme Leute sind's, feine, gebildete Leute sind's!«

»Nein, die Damen waren gar nicht fein,« gab das Mädchen fast trotzig zurück; »ich habe sie eben gut gesehen: sie hatten häßliche Mäntel und ganz häßliche graue Hüte.«

»Das macht's nicht,« sagte der alte Jude, seiner mächtigen Nase ein Prieschen zuführend. »Machen's oft so, die vornehme Leut'; wissen doch, daß die Menschen den Hut für sie ziehen. Die Bildung thut's. Die geben nicht viel auf das bunte Geplunder; einfach sieht's aus – aber Geld hat's doch gekostet … Aber schau', daß ich recht hatte, daß es die Asten'schen sind,« fuhr er fort; »kommt da doch ihre Equipage die Gasse herauf, um sie abzuholen drüben bei Levis.«

»Schöne Equipage, seine Pferde! können's machen, die Astens,« wiederholte er, wohlgefällig Wagen und Rosse musternd, die in der engen Gasse fast unmittelbar vor seinem Fenster hielten.

»Wer ist der Blonde da, Großvater, der die Hand noch in den Wagen reicht; ist das der junge Graf?« frug das Mädchen, indem es die Augen nicht von der Gruppe wandte, wo die jungen Leute den Damen in den Wagen halfen, den Graf Asten schon bestiegen hatte.

»Nein, das ist kein Asten'scher,« sagte der Großvater; »der junge Graf ist noch ein Kind – –«

»Der da, der Blonde?« rief die alte Jetta dazwischen, die bei dem Gespräch der beiden ebenfalls an das Fenster getreten war. »Was willst du mit dem?«

»Nun, der ist's, der mir heute geholfen hat und der mich hierherbrachte,« gab das Mädchen ganz erregt zurück. »Der und der Baron von Velden. Aber der Blonde ist der Schönste, – kennst du ihn? … Er hat auch versprochen, er wolle kommen und nach mir fragen,« setzte sie noch hinzu.

»Sollt' ich ihn nicht kennen,« meinte Jetta. »Der Anton Rother ist es, der uns gerade gegenüber wohnt, weil er hier auf Schulen ist mit dem Baron Velden.«

»Ja, er sagte, daß er uns gegenüber wohne. Ist er auch ein Graf?« frug die Kleine gespannt, noch immer Rother nachschauend, wie er jetzt mit dem Freunde in seine Wohnung ging.

»Der Rother?« sagte Jetta lachend. »Du lieber Gott, er ist noch mein ander Geschwisterkind von seines Vaters Seite her. Sein Vater war kleiner Leute Sohn aus Asten und nachher Rentmeister bei den Veldens, weshalb der Anton so gut freund mit dem jungen Baron ist, mit dem er aufgewachsen.«

»Aber sie sind ganz mit ihm wie ihres Gleichen!« warf das Mädchen ungeduldig ein.

»Nun, wie man's so nimmt,« meinte die Alte. »Er weiß, wie sich's schickt und was jedem zukommt; die Bildung thut's ja, wie dein Großvater sagt. Er soll sehr gescheidt sein und zuweilen noch über den jungen Baron. Alltäglich kannst du ihn hören, wenn du willst; denn er spielt gar schön die Geige und 's Clavier, und soll singen wie ein Engel. Ich freue mich immer, wenn ich ihn vorübergehen sehe, so fein und hübsch wie er ist. Aber nun komm', Kind, guck' nicht mehr so in die Finsterniß. Laß es einerlei sein, ob dir ein Graf oder ein ander Menschenkind geholfen,« setzte die Alte hinzu, das enttäuschte Gesicht des Mädchens richtig deutend. »Der Rother ist so viel bei den Astens und all' den feinen, vornehmen Leuten, daß er sich wenig um uns kümmern wird, wenn er auch gar nicht stolz ist, wie du gesehen.«

»Aber ich soll auch ganz fein und vornehm erzogen werden,« rief das Mädchen plötzlich. »Ich kann gerade so fein gebildet sein wie die Comtessen Asten; mein Vater ist reich genug dazu, und kann's auch und will's auch. Alle haben gesagt, ich wär' schon eine Künstlerin auf dem Clavier,« fuhr sie gereizt fort, vielleicht das etwas spöttische Gesicht der Alten bemerkend.

»Nun ja, Ellchen!«

»Du sollst mich nicht mehr so nennen; nenne mich Daniella,« unterbrach das Mädchen sie herrisch. »Ellchen klingt so häßlich.«

»Gestern hast du nicht Daniella heißen wollen,« gab die Alte ihr zurück. »Aber meinetwegen, wenn du's willst. Schau' nur, daß du was rechtes lernst – der Großvater kann dich hier in die Stadtschule schicken, sobald dein Fuß wieder gut ist. Das Müßiggehen wird dir doch die Zeit lang machen.«

»In die Stadtschule?« rief sie empört.

»Nun, da gehen viele ordentliche Bürgerkinder 'nein; was willst du mehr?« bemerkte Jetta kaltblütig und wohl in der Absicht, Daniella's Hochmuth etwas zu dämpfen. Aber das Mädchen schien das höchst übel zu nehmen.

»Großvater, hier in die Stadtschule gehe ich nicht, da brauchst du mich gar nicht hinzuschicken,« wandte sie sich an diesen. »Sonst reise ich lieber gleich ab, oder Vater soll mich heim holen – ich will nicht sein wie all' die gewöhnlichen Kinder, die mich obendrein ausgelacht haben.«

»Wer hat denn gesagt, daß du's sein sollst?« tröstete der Alte, der, ganz erschrocken von des Mädchens Heftigkeit, in seinem Spaziergang innehielt. »Wer hat denn geredet von der Stadtschule? Sollst ja eine Zeit lang hier gar nichts thun, haben die Doctors gesagt, und nachher kannst du Lehrers haben so viel du willst. Hast recht: die Bildung thut's in unserer Zeit. Du kannst erzogen werden wie 'ne Prinzeß – wie du willst, Kindchen. Dein Vater kann's und der alte Veitel kann's,« setzte er hinzu, den schwarzen Lockenkopf zärtlich streichelnd.

Das Mädchen warf einen triumphirenden Blick auf die alte Jetta, die aber achselzuckend das Zimmer verließ. »Juden sind's und Juden bleiben's,« brummte sie, als sie in der Küche ihren Kaffee schlürfte. »Ist das ein hoffärtig Kind! Wär's mein Kind, sollt' es mir gerade in die Stadtschule, daß ihm der Hochmuth aus dem Kopfe ging. Aber der Veitel, der sonst kein unrechter Mann ist, darin muß er sie noch bestärken! Das Geld und die Vornehmheit, die stecken ihnen im Kopf, und von der Demuth wissen die besten von ihnen so viel wie die Katze vom Sonntag! – Hat doch der Hochmuth sie heute schon mit ihrem Staat in's Unheil gebracht; und daß es kein Graf war, der ihr geholfen, hat sie wahrhaftig geärgert. Jesu, Maria, was ein hoffärtig Kind!« schloß sie, trotz zwanzigjährigen Dienstes im Judenhause mit Vorliebe des christlichen Ausrufes sich bedienend.

Sie würde ihren Ausspruch gewiß wiederholt haben, hätte sie an demselben Abend das Gebahren Daniella's gesehen, wie die Kleine, ehe sie sich schlafen legte, noch mit Beschwer die Commode erkletterte, um zu dem hoch aufgehängten Spiegel zu gelangen und dort ihre heute so belobten Sterne gründlich zu betrachten.

Daß ihr Beschützer kein Graf und kein Baron war, sondern sogar Jetta's Verwandter, war ihr wirklich eine arge Enttäuschung gewesen, wie sehr seine ganze Erscheinung auch Eindruck auf sie gemacht hatte.

Bald aber wurde Daniella in ihrer Betrachtung gestört durch die von Jetta verheißenen Töne, welche in der nächtlichen Stille laut aus dem Nachbarhause herüberklangen.

Auf ihrem improvisirten Throne knieend, lauschte sie mit einer gewissen Kennermiene, die bald in Bewunderung überging. »Nun weiß ich, was er ist, wenn auch kein Graf oder Baron,« meinte sie endlich, energisch ihr Köpfchen erhebend. »Er ist doch etwas: ein Künstler ist er. Jetzt lasse ich mir von meinem Vater mein schönes neues Instrument hierher schicken – und spiele hier doch, wenn auch die Doctoren es nicht haben wollen. Ich will schon beweisen, daß ich gerade so fein gebildet sein kann, wie die Comtessen Asten. Und er soll sich auch um mich kümmern!« rief sie mit einem entschlossenen Blick auf das Nachbarhaus.


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