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20

Was Daniella so erschreckt hatte, als Holdern an jenem Abende von seiner bevorstehenden Abreise sprach, wäre ihr selbst schwer zu sagen gewesen. Sie liebte ihn nicht; sie war sich bewußt, daß ihr Herz noch keine Secunde lang für ihn geschlagen, aber eine große Genugthuung lag für sie darin, ihn zu ihren Füßen zu sehen, ihn in ihrer Macht zu haben. Vielleicht spielte sie das gleiche Spiel wie der Baron; doch in solchen Fällen behält der Mann meist das Uebergewicht.

Ob sie den Asten'schen Kreis noch öfter aufsuchen werde, darüber war sie mit sich nicht im Klaren. »Immer der travatore! poveretta!« hatte Haldern gesagt, und vielleicht hatte er Recht. Sie verhielt sich für die erste Zeit den ferneren Einladungen gegenüber sehr zurückhaltend, wohingegen man von Seiten der Familie Asten nicht nachließ mit Versuchen, sie heranzuziehen.

Das schöne, geistvolle Mädchen hatte viel Interesse erweckt. Helene besonders war seit jener eingehenden Unterhaltung ganz von ihr eingenommen. Die Geistesrichtung, welche Daniella vertrat, war ja gerade die, für welche Helenens Herz stets so manche Entschuldigung fand, während sie dieselbe mit warmem Eifer zu bekämpfen versuchte. Hohenwaldau und Graf Asten fanden ihre Zurückhaltung ganz tactvoll; der Hausherr wurde dadurch nur mehr in dem Wunsche bestärkt, den schönen spröden Gast heranzuziehen. Daniella's Stolz konnte befriedigt sein, als an Stelle der förmlichem Einladungen eines Tages ein fast freundschaftliches Billet von Helene selbst erschien, welches in herzlichster Weise bat, ihr doch einen der nächsten Morgen zu schenken, da sie ja für die Abende stets nur abschlägige Antworten erhalten habe.

Sie stellte ihr dabei eine Ueberraschung in Aussicht, von der sie aber im voraus nicht verrathen werde, welcher Art sie sei, da sie hoffe, die geheimnißvolle Andeutung werde ihr Bundesgenosse sein und ihre Bitte unterstützen. Ungeachtet des Geheimnisses glaubte Daniella die Art der Ueberraschung, die ihr dort bevorstehen könne, zu errathen, und sie kämpfte einige Secunden mit dem Entschluß, die Einladung zurückzuweisen. Holdern's »poveretta« klang ihr abermals in den Ohren. Aber hatte sie dafür Monate lang so geschickt geplant, Eintritt in diese Kreise zu erlangen, daß sie jetzt nutzlos den Faden zerreißen sollte, der so mühsam angesponnen? Sie redete sich ein, daß es Feigheit sei, jetzt zurückzuweichen, und ein Motiv mehr war auch die Gewißheit, daß Holdern's Augen nicht sarkastisch auf ihr ruhen würden. »Er soll nicht meine Handlungen bestimmen!« sagte sie sich trotzig bei der Erinnerung.

Als sie an einem der folgenden Vormittage das Hohenwaldau'sche Hotel aufsuchte, ward sie zu ihrem Staunen nicht in den Empfangssalon, sondern in Helenens Privatzimmer geführt, wo die Comtesse sie sehr herzlich empfing. Im ersten Moment fühlte Daniella sich dennoch herb enttäuscht – wie wenig sie es sich hätte eingestehen mögen –, als sie sich Helenen allein gegenüber sah. Doch vermochte Helene ihre große Neuigkeit nicht lange zurückzuhalten.

»Wie haben Sie es uns schwer gemacht. Sie einmal wieder zu begrüßen!« sagte die Comtesse lebhaft. »Berühmter Persönlichkeiten wie Sie scheint man gar nicht habhaft werden zu können. Beinahe hätten Sie mir aber eine große Freude verdorben,« plauderte sie lustig weiter, indem sie Daniella, noch ehe dieselbe sich zu besinnen vermochte, zu dem nächsten Gemache führte, das ihr Vater bewohnte. Die Thüre zu demselben war geöffnet, so daß Helene nur den schweren dunkeln Vorhang, der es noch von ihrem Zimmer trennte, zu theilen brauchte, um Daniella hineinschauen zu lassen.

Graf Asten's Zimmer wurde im Hohenwaldau'schen Hause als ein Stück Deutschland angesehen. Ein mächtiger eiserner Ofen und das ausgedehnteste Rauch-Privilegium sollten es ihm möglichst heimisch machen. Nach echt deutscher Sitte schwebten auch in dieser Stunde die bläulichen Wölkchen des narkotischen Dampfes über eine Gruppe Herren, welche um den deutschen Ofen standen und in eifriges Gespräch versunken schienen.

Daniella's Augen unterschieden zunächst nur mehrere schwarze Gestalten, von denen einige unverkennbar das geistliche Kleid trugen. Eine Stimme aber, die lebhaft über alle andern sich erhob, schlug an ihr Ohr – und erbleichend wich sie einen Schritt zurück. Wenn sie auch wohl eine Ahnung gehabt hatte, wen sie finden würde, machte doch jetzt eine dumpfe, unheimliche Angst mehr noch als Freude sich geltend. Wozu hatte man sie hergerufen? Wie sollte sie ihn wiederfinden? – Es dunkelte ihr vor den Augen.

Helene war unterdeß leicht an ihr vorübergeglitten. »Rother! Sie müssen abbrechen,« rief sie heiter, »müssen mitten in Ihrer gelehrten Discussion abbrechen, um jemand zu begrüßen, den Sie wahrscheinlich hier nicht zu finden erwarteten.«

Rother wandte sich sogleich zu ihr, blieb aber betroffen stehen, als er Daniella's ansichtig wurde. Wahrlich, Daniella in Paris und gar in diesem Hause –, das hatte er am wenigsten erwartet! Die Erinnerung an jene letzte Scene, an seine Briefe, Ueberraschung und Freude des Wiedersehens, alles drang auf ihn ein. Aber seine Hand streckte sich ihr freimüthig entgegen. »Daniella, – Fräulein Daniella, Sie hier?« rief er, indeß sie noch regungslos da stand.

Sie fürchtete, zu ihm aufzuschauen; sie wähnte, auch er trage das schwarze Gewand, das eben ihr Blick getroffen. Aber als sie jetzt sich zwang, das Auge auf ihn zu richten, stand er vor ihr, wie sie ihn immer gesehen. Die leichte Röthe, die über seine Stirne flog, wie es bei allem, was ihn bewegte, von Kindheit an ihm eigen gewesen, gab ihm den unveränderten jugendfrischen Ausdruck.

Helenens heiterer Triumph über die gelungene Ueberraschungs-Scene half inzwischen glücklich über die leichte Verlegenheit hinweg, die im ersten Augenblick die beiden zu ergreifen drohte. Die Gegenwart der andern Herren, welche ebenfalls näher traten, gab Daniella die gewohnte gesellschaftliche Haltung zurück.

»Die Hartnäckigkeit, mit der Fräulein Daniella unsern Bitten widerstand, hätte meinen kleinen coup de théatre beinahe vereitelt,« erklärte Helene. »Ich freute mich so darauf, das Wiedersehen gerade hier zu feiern, und war nun von Tag zu Tag in Sorge, daß Rother Ihre Anwesenheit erfahren möchte. Papa und Onkel hatten mir das Wort geben müssen, nichts davon zu erwähnen.«

»Ich konnte mir wohl denken, daß die große Ausstellungs-Epoche auch Sie hierher rufen werde,« sagte Rother; »aber ich hatte nicht geahnt, Sie jetzt noch hier zu finden. Meine Unkenntniß allein kann mich entschuldigen, daß ich Sie noch nicht aufsuchte,« setzte er hinzu.

Baron Hohenwaldau bemerkte galant, selbst in Paris gäbe es solcher liebenswürdigen Erscheinungen nicht so viele, daß man dieselben nicht möglichst dort festzuhalten suche. Er bat dann Daniella um Erlaubniß, sie auch mit den übrigen Herren bekannt zu machen. Sie kannte von ihnen nur Gaston de Bussy, dessen Gruß etwas steif und zurückhaltend war. Außer Herbert Asten bestand die kleine Gesellschaft noch aus zwei Geistlichen, welche zu dem intimern Umgang des Barons Hohenwaldau gehörten; ihr schwarzes Gewand war es, wodurch Daniella eine so unheimliche Angst eingejagt worden war. Baron Hohenwaldau stellte sie vor als Männer, die trotz ihres ernsten Berufes den Kunstgenüssen durchaus nicht abhold seien; der eine, versicherte er, verehre besonders die Frau Musica in hohem Maße und gehöre zu ihren eifrigsten Jüngern. Der Geistliche gab das vollkommen zu und bemerkte, er habe Fräulein Daniella's wundervolle Leistungen schon bei Frau d'Anvers bewundert. Als man sich nun behaglich in Helenens Boudoir niederließ, nahm er Platz neben Daniella und sprach den Wunsch aus, etwas Eingehenderes über die neue deutsche Musik von ihr zu hören. Rother ließ sich an ihrer andern Seite nieder, sich lebhaft an dem Gespräch betheiligend.

»Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten,« citirte lachend Graf Asten, während Helene meinte, der Prophete links sei doch zweifelhaft. Rother wollte auch die Bezeichnung Daniella's als Weltkind nicht gelten lassen. Er sah sie dabei an, als könne er kaum glauben, sie habe nicht einen Schritt weiter gethan, seit er sie zuletzt gesehen.

Daniella gab ihm den Blick etwas hochmüthig zurück; doch war es ihr selbst in diesem Augenblicke, als sei sie diesem Kreise schon ganz angehörig. Die zutrauliche Art, wie das Wiedersehen eingeleitet worden, trug viel dazu bei. Außer daß sie etwas bleicher geworden war, was bei ihr stets statt des Erröthens eintrat, hatte sie jetzt ihre Fassung vollkommen wieder gewonnen. Sie ging leicht, wie immer, auf jedes Thema ein, das angeschlagen wurde, und kam auch gern den Bitten des musikschwärmenden Geistlichen nach, mit Rother zu spielen. Dieser erklärte sich sofort bereit; er freute sich, seine Geige einmal wieder mit ihrem Clavierspiel zu vereinen. Trotz der langen Unterbrechung fand das gegenseitige Verständniß sich gleich wieder.

»Wie ein einziger Ton, zusammengehörend wie ein Accord, ineinandergreifend wie ein Paar gefaltete Hände!« rief Hohenwaldau ganz entzückt. Wohl jeder dachte Aehnliches.

Daniella hatte seit langer Zeit nicht so warm empfunden. Jegliche Kluft schien geschwunden, alles Trennende vergessen, als sie in den Tönen wie in ihrem ureigensten Element sich mit Rother von neuem vereint fühlte. Ihre Seelen schienen zusammenzufließen. Auch er versicherte, bei niemand eine so vollkommene Einheit und ein gleiches Verständniß der Kunst gefunden zu haben; er behauptete, ohne ihre Mitwirkung sei sein Spiel stets mangelhaft. Dabei erzählte er von den Kunstgenüssen, die ihm auf seinen Reisen geworden, und von seinem Aufenthalt in Italien, wo des Grafen Empfehlungen ihm einige hohe Gönner verschafft, welche ihm wiederum den Zutritt zu Künstlerkreisen ermöglicht hatten. Er schilderte sein Auftreten vor kleinen, doch um so gewähltern Zuhörerkreisen und die Gelegenheiten zur Fortbildung, die er gefunden.

Herbert ergänzte seine Erzählung, indem er trotz Rother's Widerstreben anführte, wie viel Anerkennung dem jungen Künstler geworden, und wie man ihm die glänzendsten Anerbietungen für die Zukunft gemacht habe.

Das klang freilich anders wie die Auffassung, welche Daniella von dieser Reise sich gebildet hatte. Sie mußte eingestehen, daß Rother's Spiel unter den fremden Einflüssen sich vervollkommnet und daß seine Liebe zur Kunst jedenfalls nicht abgenommen hatte. Die Herzlichkeit, welche die Familie Asten ihm zeigte, bewies genugsam, daß er unbestritten den Rang eines Freundes einnahm.

Je mehr sie Rother betrachtete, desto weniger verändert erschien er ihr. Wohl hatte die südliche Sonne seine Züge etwas schärfer ausgearbeitet, und die weichen, blonden Locken waren der Reisebequemlichkeit zum Opfer gefallen. Doch die schöne Form des Kopfes trat dadurch um so mehr hervor, und er hatte einen männlichen Ausdruck gewonnen, welcher seiner Schönheit keinen Eintrag that.

Daniella dachte nicht, daß auch sie indessen beobachtet worden war. Helene wollte ihre kleine Scene nicht umsonst aufgeführt haben. Echt mädchenhaft hatte sie es als eine wichtige Angelegenheit betrachtet, die Art der Beziehungen zwischen Rother und Daniella zu erforschen, und es wurde ihr nicht schwer, die Wahrheit zu erkennen. Sie war jetzt zu kundig in Herzens-Angelegenheiten, um nicht auch bei Daniella die angenommene Gleichgültigkeit und das hochmüthige Verbergen ihrer wahren Gesinnung zu durchschauen. Sie war darüber erstaunt; denn sie hatte gewähnt, Rother allein liege in Banden. Daß sie in Daniella's Blick die heimliche Flamme las, brachte ihr dieselbe jedoch nur näher. Welches Mädchenherz sympathisirt nicht mit einer heimlichen Liebe, – welcher Mädchenkopf spinnt nicht gern einen kleinen Roman weiter! Bei Daniella fehlte ja nichts, als die eine große Erkenntniß, und Helene konnte sich gar nicht denken, daß die ihr fern liegen sollte. Wie oft hatte Rother erzählt, daß sie schon als Kind großes Interesse und Verständniß für die christliche Religion gezeigt habe! Helene meinte, Daniella werde um so leichter in der Erkenntniß fortschreiten, je mehr sie mit christlichen Kreisen in Berührung komme, je liebevoller man ihr entgegentrete; und sie schöpfte aus diesem, dem ihrigen in etwa analogen Falle die leise Hoffnung, daß die Kluft zwischen entgegenstehenden religiösen Ueberzeugungen sich doch überbrücken lasse.

Daniella widerstrebte jedenfalls ihrem freundlichen Entgegenkommen jetzt nicht mehr, wie von Anfang. Sie erschien wiederholt in den traulichen Morgen-Gesellschaften bei Baron Hohenwaldau. Der Zauber von Rother's Gegenwart mochte es nicht einmal allein sein, der sie dort fesselte. Es lag etwas in der Art und Weise dieses Kreises, was ihr neu war und sie doch anheimelte, was beruhigend auf sie wirkte. Helene selbst übte eine Anziehungskraft auf sie aus, die sie kaum hätte eingestehen mögen. Daniella hatte noch nie einem weiblichen Wesen näher gestanden. Die Frauenwelt fühlte sich nicht angezogen von ihr, deren Fehler vielleicht zu unvermittelt zu Tage traten, um bei Frauen Duldung zu finden. Daniella ihrerseits kümmerte sich nicht viel um ihr eigenes Geschlecht. Die meisten Frauen dünkten ihr in geistiger Beziehung zu untergeordnet, und bei andern stieß die Gleichartigkeit des Naturells sie ab. Auch auf Helene hätte sie hinabblicken mögen; die geistigen Schranken, in die sie dieselbe gebannt wußte, erschienen ihr wie Unfreiheit und Schwäche. Sie mußte aber bekennen, daß bei Helene ein ernster Verstand, ein tüchtiges Wissen vorwalte, und daß ein gewisses Etwas, was Daniella nicht zu ergründen vermochte, ihrem ganzen Wesen eine unendliche Harmonie gab. In jedem Menschen erwacht zu Zeiten das Bedürfniß der Aussprache mit andern Personen des eigenen Geschlechts, da nur das Gleichartige sich vollkommen zu verstehen mag.

Helene verstand Daniella in ihrem Gefühl für Rother, und doch wußte ihr Zartgefühl den Punkt so schonend zu behandeln, daß diese kaum etwas davon ahnte. In ihrer innigen Sehnsucht, Daniella möge den entscheidenden Schritt für das Leben thun, breitete sie ihren Schutz über sie aus, damit nicht ein zu herbes Wort, eine zu schroffe Ansicht sie zurückstoßen möchte.

Mit mißtrauischem Blick sah trotzdem Daniella oft zu Helene empor, als wolle sie errathen, weshalb dieselbe ihr so freundlich entgegen komme. Sie konnte sich nicht von dem Gedanken losmachen, als müsse eine geheime Absicht dem zu Grunde liegen. Menschen, die selbst stets geplant haben, verstehen schwer einen andern, der nur sein eigenes Ich einfach auslebt.

Hätte die Gelegenheit sich geboten, so würde Helene der neuen Freundin offen gesagt haben, was sie so innig für sie wünsche. Aber Daniella hielt sich stets auf allgemeinern Gebieten. Ihrerseits hatte sie in Bezug aus Rother Helene sehr genau beobachtet, aber bisher nichts zu entdecken vermocht, als freundliche, fast geschwisterliche Vertraulichkeit, deren Erwiderung auf Rothens Seite in sehr ehrfurchtsvollen Grenzen blieb. Nur Helenens gänzliches Ausweichen gegenüber den Bewerbungen Gaston de Bussy's schien Daniella in etwa auffallend, da er doch in so vielem mit ihr übereinstimmend dachte. Sie selbst fand Gaston äußerst unsympathisch; vielleicht weil er der einzige in dem Kreise war, der ihr eine gewisse kalte Zurückhaltung zeigte und sie fühlen ließ, daß seine exclusiv aristokratischen wie kirchlichen Ansichten dem Umgange mit der schönen ungläubigen Künstlerin widerstrebten. Er hatte sogar leise Bemerkungen bei der Comtesse gewagt, stand aber selbst Helenens Gefühlen zu fern, als daß diese die Mahnung anders wie abweisend aufnehmen konnte. Um so schärfer sprach seitdem de Bussy seine Meinung über Tagesfragen in Gegenwart Daniella's aus.

Daniella mußte sich übrigens gestehen, daß die großen Probleme der Zeit in diesem Kreise nicht minder eingehend behandelt, nicht minder ernst in's Auge gefaßt wurden, als in den Kreisen, denen sie bisher angehört hatte. Meist verhielt sie sich schweigend, die Analogieen und Gegensätze erwägend, die ihr entgegentraten. Was man dort mit Haß anfeindete, wurde hier mit Liebe und Verehrung betrachtet; was dort als nichtig kaum der Beachtung gewürdigt wurde, war hier ein Ereigniß; was man dort als überwundenen Standpunkt betrachtete, das sah man hier als unerschütterlichen Pfeiler an, auf den man alle Hoffnungen gründete. Dieselben Schlagworte von Weltverbesserung und Weltbeglückung klangen auch hier an; doch wenn man dort eine Umwälzung erstrebte, nach neuen Formen für die Ordnung der gesellschaftlichen Zustände suchte oder den pessimistischen Grundsatz der Unzulänglichkeit jedes menschlichen Looses vertrat, so galt hier die Anschauung, daß die christliche Weltverbesserung die Welt schon aus den Höhepunkt gehoben habe, auf den die arme gebrechliche Welt überhaupt gelangen kann, – einen Höhepunkt, von dem es unendlich viele Schritte rückwärts gibt, aber kaum einen zu höherer Vollendung. Man nahm die Welt, wie sie war, mit ihrem Leid, mit ihrer Unvollkommenheit, mit den tausend Schattirungen von Ungleichheit, – das richtige Gegengewicht und jegliche Lösung irdischen Leides findend in den Lehren der ewigen Gerechtigkeit und jener Gleichheit, die nur ein Ziel des Lebens kennt. Die noch mögliche Vervollkommnung suchte man nicht in der Vervollkommnung der Welt oder dieser Grundsätze, sondern in der Vervollkommnung des einzelnen durch Erfüllung der ihm auferlegten Pflichten. Man gab sich auch darin keinen idealen Träumereien hin, an das göttliche Wort sich haltend, daß viele berufen und wenige auserwählt sind. Es galt nur, die Menschen möglichst zu befähigen zu dem ewigen Ziel, das ihnen vorbehalten, und das Erdenleid möglichst zu lindern. Daniella's praktischem Verstande leuchtet diese Art der Weltauffassung als natürlicher ein - vielleicht fand sie darin eine bessere Antwort aus all' die brennenden socialen Fragen, die in letzter Zeit sie so beschäftigt hatten, für die sie mitwirkend eintreten sollte. Zum ersten Mal wohl horchte sie dabei mehr auf die Rede, als auf den Redner. Die Grundsätze fesselten sie, einerlei, wer sie vortrug, selbst wenn es die beiden schwarzgekleideten Herren waren, welche nach Dr. Josephson zu der Kaste der schlimmsten Volksbedrücker zählten. Beide waren einfache, liebenswürdige Leute, wie Daniella eingestehen mußte. Der eine hatte seine Jugend als Landpfarrer inmitten des Volkes verlebt und kannte dessen Schäden und Leiden genau, und auch jetzt verkehrte er als Hülfsgeistlicher in einer Pariser Pfarre großentheils mit den niedrigen Schichten der Bevölkerung. Der andere gehörte einem Orden an, der über Land und Meer den Christenglauben verbreitete; er hatte selbst schon in den entferntesten Missionen gearbeitet, und sein welterfahrener Blick war kaum anzuzweifeln.

Helene errieth indessen mit Frauensinn, daß Thatsachen am klarsten zu Daniella's Herzen sprechen würden und machte sich eine Freude daraus, sie mit den tatsächlichen Leistungen der christlichen Charitas allmälig bekannt zu machen, ihr zu zeigen, wie alle Liebeswerke, diesen Grundsätzen entspringend, die Heilung der socialen Schäden im Auge haben. Die Seine-Stadt ist ja in Wahrheit das große Schlachtfeld des Guten und Bösen, wie eine geistreiche englische Schriftstellerin sie genannt hat, und vermag wie kaum eine andere neben der ausgebildetsten Eigenliebe und Genußsucht die schönsten Blüthen christlicher Liebe und Opferfähigkeit als Früchte des echten christlichen Glaubens aufzuweisen.

Morgen-Ausflüge zum Besuche all' der großartigen Werke, die zur Erleichterung der Leiden der Mitbrüder, zur Verbesserung ihrer Lage in Paris gegründet sind, kamen bald bei der kleinen Gesellschaft sehr in Aufnahme. Sie eröffneten Daniella eine ihr bis dahin ganz unbekannt gebliebene Seite der Weltstadt und erregten zuerst bei ihr nur Staunen über die Großartigkeit dieser Bestrebungen und Einrichtungen, die sie bisher nur wie veraltete schwächliche Auswüchse der Frömmelei betrachtet, kaum einer Beachtung würdig gehalten hatte.

Rother machte zumeist den Cicerone bei diesen Ausflügen, die auch für ihn persönlich immer größeres Interesse zu gewinnen schienen. Helene wähnte, es sei um Daniella's willen; aber Daniella war wohl abermals nur die unwillkürliche Ursache, seinen frühern Gedankengang zu erneuern und zu klären. Rother hatte seinen Durst nach den wechselnden Scenen, welche die Welt bietet, befriedigt. Er hatte die neuen Eindrücke genossen mit voller Frische, sie hatten ihn weder enttäuscht noch übersättigt; dennoch war bei ihm, wie bei allen phantasievollen Menschen, die Wirklichkeit in etwa zurückgetreten gegen die Bilder, die sein Geist sich entworfen. Das unruhige Streben nach Neuem hatte sich gelegt. Die Sehnsucht nach einem Arbeitsfelde, dem er sich widmen könne, war aber erst recht erwacht, nachdem der Genuß all' des Schönen, das die Reise ihm gewährt, ihm die Ueberzeugung gegeben, daß nicht das ihm genügen könne, daß noch ein Höheres erforderlich sei, um seine Sehnsucht zu befriedigen. Wie er jetzt so eifrig auf all' die Aufgaben hinwies, die vor allem andern den unsterblichen Theil des Menschen im Auge halten, klärten sich seine Gedanken darüber mehr als je zuvor. Aber er verschloß sie noch ganz in seinem Innern.

Sein Verhältniß zu Daniella hatte sich seiner Ansicht nach vollständig zu dem der guten alten Bekanntschaft consolidirt, wie der Augenblick des Wiedersehens es gegeben hatte. Wie ein echter Mann sah er daher das frühere Verhältniß als überwunden und abgethan an. Sein Brief war von ihr, wie er zu seiner Freude annehmen zu dürfen glaubte, richtig aufgefaßt worden; er hielt sie darum um so höher und war froh, daß eine solch' friedliche Lösung sich gefunden. Für die Zukunft schien ihm Helenens Einfluß geeigneter als der seinige, um Daniella auf die rechte Bahn zu führen.

Daniella hingegen hütete sich, durch Blick oder Wort irgend an das zarte Band der Freundschaft zu rühren, das sich so zwischen ihnen hergestellt hatte. Sie wähnte, damals durch ihr allzu hastiges Handeln selbst störend eingegriffen zu haben; im ruhigen Dahingleiten des Lebens hoffte sie mehr zu erreichen: einer ruhigen, starken Frauenliebe ist ja schon oft das Undenkbare möglich geworden.

Die Andeutungen Carry Holdern's, als ob Rother zu weltentsagenden Plänen gedrängt werde, schienen ihr eben so wenig bewahrheitet. Aus seinem heitern Wesen sprach nichts weniger als finstere Entsagung. Seine Liebe zu allem Schönen, zu jedem frohen Genuß war ganz die alte geblieben. Nur einige Mal, wenn er in gar zu warmer Begeisterung die Lehren der christlichen Philosophie hervorhob, wandte Daniella's Auge sich ängstlich auf ihn. Diese Begeisterung war aber allgemein in diesem Kreise: Gaston de Bussy übertraf ihn darin noch bei weitem.

So waren einige Wochen verlaufen, ohne daß Holdern wieder erschien, oder eine Nachricht von ihm einlief. Daniella vermißte ihn nicht; im Gegentheil, sie fühlte sich wie von einem Banne befreit. Selbst Helene empfand weniger Sehnsucht, als sie früher vorausgesetzt hätte. Die Anregung, die sie in dem Gedanken gefunden, für Daniella's Heil zu wirken, der Reiz, den der Umgang mit dem geistreichen Mädchen ihr bot, zogen sie von andern Gedanken ab, so daß auch sie jene Tage freier und froher zubrachte, als die letztverflossene Zeit.

Eines Tages aber glaubte Daniella zu bemerken, daß Helenens Stirne sowohl wie die Rother's sich umwölkt zeigte; es schien ihr, als ob irgend etwas sie gemeinsam beschäftige, und zwar so ausschließlich, daß ihre Theilnahme für alles übrige vermindert sei. Sie fühlte dies gleichsam, ohne einen Beweis dafür zu haben. In jenen Tagen hatte man gerade zu den Morgen-Ausflügen zwei kirchliche Anstalten in Aussicht genommen, die man wohl zu dem Sehenswerthesten der Weltstadt zählen konnte: die Anstalt zur Erziehung der jungen Leute, welche als Glaubensboten hinausgehen sollten in alle Länder und zu allen Nationen, um den christlichen Glauben zu verkünden, und eine andere Anstalt, welche sich den Unterricht und die Erziehung der ärmsten Klassen zur Aufgabe machte.

Danielles Geist war klar genug, die ganze Größe beider Aufgaben zu würdigen, hoch genug, sie in ihrer ganzen Schönheit zu erfassen. Mehr wie das: diese beiden Bilder wirkten mächtig auf ihr Gemüth. Hatte sie in dem einen Ordenshause die Internationalität bewundern können, die da schon lange Thatsache geworden, so konnte sie in dem andern die Gleichheit und Brüderlichkeit sehen, wie sie ohne alle Phrase sich werkthätig zeigte, indem Männer aus allen Ständen im gleichen demüthigen Gewande sich zu den Armen und Ungebildeten herabließen, ihnen den Weg zum irdischen und ewigen Heile zu eröffnen. Die hohe Lehre von der Liebe, die bis zu den fernsten Polen dringt, um die Wahrheit zu verkünden, und von der Demuth, die sich bis zum Kleinsten niederbeugt, griff mächtig in ihre Seele.

Unwillkürlich suchte sie dabei auch Rother's Blick, als müsse sie bei ihm volles Einverständniß finden, als müßten ihre Seelen sich in dieser Bewegung begegnen. Sie hatte auch nicht geirrt. Aber der Ausdruck, den sie auf seinem Antlitz in dem Augenblick sah, berührte sie eigenthümlich. Sie hatte ihn oft schon bewegt und erregt gesehen; sie wähnte jeden Ausdruck zu kennen, der über sein bewegliches Antlitz flog. Aber eben jetzt schien eine tiefe Ruhe darüber ausgebreitet, als habe ein schöner Gedanke ihn ganz erfaßt und gebe seinem Blick diese ernste Verklärung.

Nichtsdestoweniger wandte er sich sogleich Daniella wieder zu. Er schien auch ihre Bewegung richtig zu deuten; denn ein freudiger Strahl brach hervor, und zum ersten Mal reichte er ihr plötzlich wieder die Hand hin, als verstehe er, daß die geistige Kluft zwischen ihnen überbrückt sei.

Daniella fühlte sich wonnig durchzittert, und dieses Gefühl steigerte sich noch, als Rother beim Abschiede sie bat, sie einmal aufsuchen zu dürfen, – etwas, das er bisher immer noch unterlassen. Er ersuchte sie sogar, ihm Tag und Stunde zu bestimmen, wann er ungestört sie werde sprechen können.

Wäre Daniella nicht von all den Eindrücken so eingenommen gewesen, es hätte ihr auffallen müssen, wie theilnahmlos und verstimmt Helene an jenem Tage war; bleich und zerstreut, achtete sie sichtlich kaum auf das, was um sie vorging.

Diese Eindrücke waren es auch, welche Daniella's Geist beschäftigt hatten, als an einem der folgenden Nachmittage Dr. Josephson sie so träumerisch fand, daß er anfänglich kaum zu erkennen vermochte, ob sie seinen eifrigen Auseinandersetzungen lausche oder nicht. Dr. Josephson war schon seit längerer Zeit auf die Veränderung, welche mit Daniella vorgegangen, aufmerksam geworden. Mit der doppelten Eifersucht eines Liebenden und eines feuerigen Parteigängers über sie wachend, hatte er von ihrem Eindringen in die aristokratischen Kreise längst Kunde erhalten. Er sah die Wendung voraus, welche ihre Geistesrichtung nehmen werde. Daß dieses Weib, zu dem er mit solcher Anbetung aufschaute, den Lockungen der Aristokratie nicht zu widerstehen vermöge, daß ihre Eitelkeit in die Schlingen der Pfaffen, wie er es nannte, sie führen sollte, verursachte ihm ein schneidendes Weh. In glühenden Reden eiferte er gegen diese Verblendung, seiner Sache vielleicht am wenigsten dienend durch den Fanatismus, mit dem er die Principien auf die Spitze trieb.

Daniella verschloß ihm ihre Thüre nicht. Sie war zu klug, mit einer Partei zu brechen, die ihr in Paris den Boden bereitet hatte. Heute aber war plötzlich eine Wendung bei ihr eingetreten. Dr. Josephson hatte eben sein Lieblings-Thema über die Entwickelungsgeschichte der Erde abgehandelt und die mosaische Erzählung von der Schöpfung gleich allen religiösen Offenbarungen als längst überwundene Mythe dargestellt.

Doch mitten in seiner Rede hatte Daniella sich plötzlich ermannt und gegen ihn gewandt. Mit einer Redekraft und einem Schwung, die den jungen Mann bezauberte, wie vernichtend er selbst getroffen wurde, schleuderte sie ihre Pfeile gegen diese Wissenschaft, die umsonst versuche, die alte Offenbarung zu ersetzen, diese hochmüthige Wissenschaft, – wie sie dieselbe plötzlich nannte –, welche fast gleiche Glaubenskraft fordere, eben solch' blinde Unterwerfung heische, um dann eins ihrer Systeme stets durch das andere zu stürzen, eine Meinung durch die andere zu verdrängen. Sie zeichnete sie bitter in ihrer Unfruchtbarkeit, diese Philosophieen, die den Menschen nur kalte Probleme oder unmögliche Utopieen hinstellten, und im Gegensatz dazu wies sie dann auf jene Offenbarung hin, welche das Räthsel des Lebens, dessen Ziel und Zweck so harmonisch löst, und deren logischen Zusammenhang kein anderes System erreicht. Sie sprach mit eigenthümlicher Bewegung von den Früchten, die dem Glauben entsprossen, von den Umwandlungen, die er im menschlichen Geiste erzielt.

Dr. Josephson war bei ihrer unerwarteten heftigen Erwiderung verstummt. Er vermochte nicht anders, als die Geistesschärfe zu bewundern, mit der sie seine Rede widerlegte, und die Fülle von Kenntnissen anzustaunen, die sie dabei entfaltete. Aber voll tiefen Grolles klagte er sie der Fahnenflüchtigkeit an; voll Erbitterung warf er ihr vor, daß sie den Verlockungen der vornehmen Kreise erlegen sei. Innerlich faßte er den Entschluß, ihre Schwelle zu meiden; er fühlte, daß er in ihrer Gewalt sei; er fürchtete, daß sie selbst seine Ueberzeugungen erschüttern könne – dies Weib, mit dem Geiste wie Stahl, mit der Seele wie Feuer.

Doch trotz den grollenden Worten, mit denen er schied, schien Daniella seine Entfernung nicht zu bemerken.

Die träumerische Ruhe, in die sie vorher versunken, aus der nur dieser Streit sie geweckt, kehrte zurück, sobald Dr. Josephson sie verlassen hatte.

War es die laue Frühlingslust, die so weich hineindrang, was sie in so eigenthümlich gehobene und doch friedliche Stimmung versetzte? Sie hatte die Empfindung, als habe das endlich sich losgerungen, was allmälig in ihrer Seele sich gestaltet hatte. War es wahre Ueberzeugung gewesen, daß sie plötzlich eingetreten war für die Lehren der Offenbarung, daß sie so kühn den Schild des Glaubens erhoben? Hatte sie den Kampf gegen Glauben und Offenbarung jetzt aufgegeben?

War dieser Glaube ihr nicht immerfort nahe getreten seit ihrer Kindheit Tagen, obgleich sie die Ohren dafür hatte verschließen wollen, obgleich sie so trotzig sich abgewandt? Selbst in dieser Stadt, wo sie so ganz andere Zwecke hatte verfolgen wollen, hatte er sich ihr entfaltet in der deutlichsten Sprache, den schönsten Bildern, den edelsten Blüthen christlicher Thätigkeit. Was sie fühlte, war es der geheimnißvolle Schauer, der auch in der Natur dem Durchbruch des Lichtes vorhergeht, – oder war es ein Impuls anderer Art, der sie jetzt wieder wie einst auf die Kniee niedergleiten ließ? Doch dieses Mal war es nicht, um zu einem menschlichen Antlitz aufzuschauen, sondern um, das Antlitz in den Händen verborgen, zu erwarten, welche Eingebung ihr werde.

Und die Gnade war ihr wohl nahe; vielleicht geschah ihr nach den Worten des Psalmisten: »Im Sturm will ich zu dir reden, und leicht wie der Hauch des Zephyrs dich umwehen.« Leicht wie der Hauch des Zephyrs drang eine Empfindung in ihr Herz, welche dessen trotzigen Wogenschlag beschwichtigte und wie weicher Frühlingshauch ihre Stirne und Wangen zu umfächeln schien, die hoch erglühten vor innerm Kampf.

Aber die Hände, die sich falten wollten, sanken nieder, und die Worte stockten auf der Zunge, – die Worte, welche ihre Seele in die Schranken bannen sollten, gegen welche sie zeitlebens sich gesträubt.

Lieblich aber war sie anzuschauen, wie sie da kniete in dem stillen Gemach, sich selbst vergessend vor den ernsten Gedanken, die auf sie eindrangen und die zum ersten Mal das Haupt ihr beugten.

In der tiefen Stille, die sie umgab, dünkte es ihr plötzlich, als höre sie jemand nahen. Selbst in diesem feierlichen Augenblicke beschlich sie die unklare Hoffnung, es müsse derjenige sein, der zuerst den Keim des Glaubens in ihr Herz gelegt. Ja, ihm zuerst wollte sie entgegentreten mit der Botschaft: sein Hoffen sei erfüllt!

Weicht der himmlische Strahl vor jeder irdischen Berührung, daß der eine Gedanke schon Daniella zurückwarf in das irdische Thun und Treiben? Einen Moment verharrte sie noch, als müsse die köstlichste Ueberraschung ihr werden; dann sah sie auf … nicht Rothens lichte Gestalt stand vor ihr, sondern Holdern lehnte in dem Rahmen der Thüre, und sein düsteres Auge blitzte ihr sarkastisch entgegen.

Empört erhob sich Daniella und richtete zornig die Frage an ihn, was gegen ihr Wissen und gegen ihren Willen ihn hierherführe.

Holdern wich nicht leicht einem zornigen Blick; mit seiner gewohnten Sicherheit trat er näher. »Was mich hier einführt? Ihre Erlaubniß – wie immer,« sagte er in nonchalantem Tone. »Ihre Dienerin sagte mir, ich würde Sie hier finden, und noch nicht lange sei es, daß Dr. Josephson Sie verlassen habe. Ich wollte eintreten, aber ich konnte mich nicht entschließen, das reizende Bild zu stören, das Sie in der Ihnen so neuen Stellung boten.«

»Würde es nicht bessern Geschmack zeigen, solche nichtssagende Redensarten zu lassen?« erwiderte Daniella, immer noch gereizt. »Sagen Sie mir lieber, was Sie so plötzlich wieder herbringt?«

»Plötzlich! Sie scheinen meine längere Abwesenheit kaum bemerkt zu haben,« versetzte Holdern. »Empfangen Sie mich so ungnädig, damit ich zum hundertsten Male Ihnen sage, wie schön gerade diese trotzige Miene Sie kleidet? Oder darf nur Ihr Trovatore Ihnen noch Complimente sagen – habe ich Sie etwa zu lange in der Gefahr gelassen?«

»Sie haben überhaupt kein Recht, in dieser Weise zu mir zu reden,« sagte Daniella jetzt sehr kühl, stolz das Haupt erhebend. »Ich wünsche durchaus nicht, daß Sie eine Beschützer-Rolle ausüben …«

»Um die ich Sie nie gebeten,« ergänzte Holdern mit seiner ganzen Kaltblütigkeit. »Aber wissen Sie, warum ich mir doch diese Rolle anmaße?« Er blieb vor ihr stehen, das dunkele Auge fest auf sie gerichtet. »Ich gestatte mir diese Anmaßung, weil ich Mitleid für Sie empfinde, weil ein Schutz Ihnen noth thut, Kind … Sie mit dem scharfen, klaren Blick, – ist Ihr Auge so umnebelt, daß Sie blindlings in die Schlingen gehen, mit denen man Sie umstellt? Sagte ich Ihnen nicht im voraus, daß man daraus ausgehen würde, Sie zu fangen, daß niemand sicher sei gegen fromme Intriguen und frommer Frauen Einfluß?«

»Ich weiß nicht, von welchem Einfluß Sie reden,« gab Daniella zurück, noch eben so hochfahrend, aber doch etwas minder sicher. »Ich pflege mich nie durch fremde Einflüsse leiten zu lassen, einerlei, welche sie sein mögen.«

»Kind,« sagte Holdern wieder, die Achseln zuckend und einige Male wie ungeduldig in dem Salon auf und nieder gehend, »bisher habe ich solche fromme Anwandlungen, wie ich sie eben sah, an Ihnen nicht gekannt.«

»Ich traute Ihnen vielleicht noch weniger diesen Spions-Sinn zu,« erwiderte Daniella rücksichtslos.

»Spion oder nicht, – immer noch loyaler als die frommen Helden, die Sie verehren wollen. Wenn ich jetzt Ihrer Gelder bedürftig wäre, Fräulein Daniella, dann würde ich vor Sie hintreten und Ihnen sagen: »Ich brauche so und so viel; können und wollen Sie mir damit dienen?« Jene fromme Clique macht's freilich gescheidter; sie sucht sich des Ganzen zu bemächtigen. Eine so reiche junge Dame, wie Sie, ist für die Kirche ein sehr verlockender Fang. Geld hat die Kirche allezeit zu finden und zu brauchen gewußt.«

»Ihr Haß verleitet Sie zu den abenteuerlichsten Vermutungen,« sagte Daniella, scheinbar gleichgültig sich in einen Sessel werfend, obschon sie sich erbleichen fühlte.

»Glauben Sie denn, Baron Hohenwaldau würde ohne wichtigen Beweggrund Ihnen seinen Salon geöffnet haben? Und glauben Sie, ohne solch' fromme Absicht würde Graf Asten die Freundschaft zwischen Ihnen und seiner Tochter encouragirt haben – oder die schöne Comtesse würde so zuvorkommend gewesen sein, wenn es nicht wäre, um ihrer Kirche einen Dienst zu erweisen? Lehren Sie mich meine Standesgenossen nicht kennen! Ueberdies haben geistliche Augen sorgfältig gewacht, daß mit richtiger Tactik verfahren werde.«

Daniella's Zähne bohrten sich in ihre purpurnen Lippen, während Holdern sprach. »Ihre Verdächtigungen nehmen dies Mal einen neuen Charakter an,« sagte sie wegwerfend. »Früher haben Sie der Comtesse Asten ganz andere Beweggründe untergeschoben, und nicht eine Spur von Wahrheit fand sich darin.«

»Sie meinen,« sagte Holdern, vor ihr stehen bleibend, »wegen des Trovatore, dessen bezaubernde Gesellschaft Ihnen alles hier verklärte? Wäre Comtesse Helene seiner nicht so sicher gewesen, wie sie ist, so würde sie wahrlich Ihre für ihn gefährliche Nähe nicht so lange geduldet haben. Aber Comtesse Helene konnte sehr ruhig sein. Sie hat ihr Opfer nur für einen Zweck gebracht; und da er ihr nicht angehören konnte, wird Herr Rother der Kirche angehören, wie es von Anbeginn festgesetzt war. Haben Sie jemals geglaubt, die Sache könne eine andere Wendung nehmen? Glauben denn schöne Frauen immer, geradezu alles erreichen zu können?«

»Herr Rother war die ganze Zeit hindurch in unserer Gesellschaft, und nichts hat verrathen, daß er irgend eine Aenderung des Berufes beabsichtige!« rief Daniella. Aber plötzlich überlief es sie eisig, da sie des ernstern Ausdruckes sich erinnerte, den sie in den letzten Tagen bemerkt hatte, und der Worte, daß er ihr eine Mittheilung zu machen habe. »Er wird seine Reise mit Graf Herbert wieder aufnehmen,« fuhr Daniella fort, als wolle sie sich selbst beschwichtigen. Vielleicht können Sie ihn noch selbst um seine Absichten befragen, wenn es Sie so sehr interessirt,« setzte sie ironisch hinzu; »auf heute oder morgen versprach er mir seinen Besuch.«

»Der Trovatore macht Ihnen keinen Besuch. Sie werden ihn wahrscheinlich überhaupt nicht wiedersehen, Daniella, Ihren schönen Künstlerknaben,« sagte Holdern kalt. »Er ist in diesem Augenblicke schon auf der Reise nach der Heimath.«

Mit einem leisen Schrei fuhr Daniella empor. »Sie sagen die Unwahrheit!« zischte es zwischen ihren Zähnen hervor. »Er bat mich selbst um die Erlaubniß, kommen zu dürfen.«

»Ah, war es so!« sagte Holdern nachdenklich. »Nun, dann wird das der Grund gewesen sein, daß man die Krisis beschleunigte. Er wird selbst gefühlt haben, daß es Zeit sei, sich Ihnen plötzlich und ohne Aufenthalt zu entziehen – da er längst gebunden, hat er den Rettungsweg eingeschlagen. Sie haben schon einige Male beobachten können, daß man ihn plötzlich abrief, wenn man wähnte, Ihre schönen Augen könnten zu magnetisch werden … Daniella, ich weiß, Sie werden mich hassen für die Nachrichten, die ich bringe – aber … Ich komme so eben aus dem Hotel Hohenwaldau, wo ich den sehr thränenreichen Abschied zwischen Herrn Rother und Comtesse Helene, wahrscheinlich sehr unwillkommen, störte. Obgleich man nur eine unvorhergesehene Abreise vorschützte, war Comtesse Helene so ergriffen, daß sie kaum fähig war, mich zu begrüßen, und sich sogleich zurückzog. Die Eingeweihten, wie der Comte de Bussy und ihr schwarzer Ordensfreund, die natürlich auch zugegen waren, nahmen die Sache weniger elegisch, freuten sich seines tugendhaften Sieges und gaben ihm fromm das Geleit. Sie glauben mir nicht?« fuhr Holdern schonungslos fort, während Daniella stumm da saß, als vermöge sie nicht zu fassen, was er ihr sage. »Sie halten alles für ein Phantasiegebilde! … Ich war in dieser Zeit häufig in Burghof bei Frau von Velden. Es mag Ihnen schmeichelhaft sein, zu erfahren, wie sehr man auch dort Ihren Zauber für Herrn Rother fürchtete. Frau von Velden warnte ihn, sobald sie erfuhr, daß er mit Ihnen in Paris zusammengetroffen sei und dies Wiedersehen die anderthalbjährige Trennung, die man so geschickt für ihn ausgesonnen, nutzlos machen könne. Er selbst aber beruhigte sie und gab ihr die Versicherung, daß er dem geistlichen Stande trotz allem nicht untreu werden würde; er tröstete sie mit der Hoffnung, für die er allen Grund zu haben angab, Ihre Bekehrung zu bewirken. Frau von Velden war weit entfernt, ein Hehl daraus zu machen. Aus Rother's eigenen Briefen weiß ich daher die Ursache seiner Abreise, wenn man sie hier auch noch verbergen zu wollen scheint. Er kehrt jetzt nicht eher zurück, als bis er Ihnen unerreichbar ist. Als Anziehungskraft für Sie durfte er hier wirken – nicht weiter! Seine Talente sind der Kirche eben so viel werth als Ihr Geld. Ihr schwarzer Freund wird wohl schon den Triumph-Artikel für irgend ein frommes Blatt bereit liegen haben, in welchem der Welt die Bekehrung der schönen und geistvollen Künstlerin zur alleinseligmachenden Kirche verkündet werden soll.«

»Was kommen Sie hierher, mich zu insultiren!« rief Daniella aufspringend, als vermöge sie die Qual nicht länger zu ertragen.

»Weil ich Sie schützen will,« erwiderte Holdern fast feierlich, sich hoch vor ihr aufrichtend wie ein Gebieter. »Ich will Sie schützen vor der einzigen Schwäche, die Sie bedroht. Was verschwenden Sie, das freie, schöne, starke Weib, Ihre Liebe an einen Knaben, den Sie vergeblich aus seinen Vorurtheilen zu lösen suchen! Und um dieser Liebe willen überliefern Sie sich diesen Menschen, die Sie zu ihrem Vortheil ausnutzen wollen? Sie, die zu so großen Dingen fähig, Sie lassen sich blenden durch geschickte Manöver! Warnte ich Sie nicht, ehe ich Sie verließ? Ist denn ein Frauenherz immer schwach! Pah! jetzt weinen Sie gar, setzte er achselzuckend hinzu, da plötzlich ein paar große, schwere Tropfen über ihre Wangen herabglitten. »Aber ich sagte Ihnen ja, daß schon größere und stärkere Geister diesen Kunstgriffen erlegen sind. Vergessen Sie Ihren Traum! Sie sind nicht zum kindischen Seufzen gemacht und werden durch dieses Zwischenspiel nur gelernt haben, daß es keine kleine Macht ist, gegen die wir kämpfen. Die Herrschsucht dieser Partei ist wahrlich kein Hirngespinnst, und eisern sind die Fesseln, die sie der Welt auferlegt.«

Holdern schwieg und wandte sich ab, als wolle er sie ihren Gefühlen ungestört überlassen. Nach einer Weile blickte er wieder um. Daniella saß noch auf demselben Fleck, das Antlitz mit den Händen bedeckend; aber kein Wort, keine Bewegung verrieth ihre Gedanken.

»Kann ich etwas für Sie thun, Daniella?« fragte Holdern in der weichsten Modulation, der seine Stimme fähig war. »Sie wissen, daß ich zu Ihrem Befehl stehe.«

Daniella's Hand winkte ihm ungeduldig, hinauszugehen.

»Der Arzt ist nie ein willkommener Gast,« bemerkte Holdern. »Wahrheit und Klarheit sind herbe Getränke. Aber dereinst werden Sie für diese Stunde mir danken! Ein Geist wie der Ihre findet sich nur in der Einsamkeit selbst wieder,« schloß er und beugte sich nieder, als wolle er ihre Hand an die Lippen führen. Aber sie wies ihn heftig zurück. Holdern verließ das Zimmer.

Was Daniella empfand, wäre ihr selbst wohl schwer gewesen, bestimmt auszudrücken. Der Umschwung war zu jäh; ihr Inneres glich einem wilden Chaos. Holdern hatte es gut verstanden, ihre Leidenschaft aufzustacheln. Stolz, Mißtrauen, gekränkte Liebe und der Groll über die eigene Verblendung stritten um die Herrschaft.

Kein heftiger Ausbruch des Schmerzes folgte diesmal, wie einst bei dem heißblütigen Kinde oder dem leidenschaftlichen Mädchen, das seine Liebe zurückgewiesen sah; dumpf brütend blieb sie sitzen. Erinnerung auf Erinnerung aus der letzten Zeit tauchte in ihr auf. Sie wollte sich klar werden, und Glied an Glied reihend, bildete sie eine Kette von Schlüssen, die Holdern's Worte als wahr erwiesen.

Jener scherzhafte Ausspruch des Grafen Asten, der Rother den Propheten zuzählte, bewies ja schon, daß er dem Bunde angehörte – der Graf hatte aus der Schule geplaudert. Die stete Anwesenheit de Bussy's und der Geistlichen bestätigte ihre Vermuthung, nicht minder Helenens Eifer, ihr alles Kirchliche nahe zu bringen … Alles Komödie! Entsann sie sich nicht, wie der Name Rother's stets auf Helenens Lippen gewesen war an jenem Abend, wo sie zuerst im Hohenwaldau'schen Hause war? Und stand nicht in diesen letzten Tagen Rother der Kampf deutlich auf der Stirne geschrieben? Gerade, als sie dem ersehnten Ziele nahe gewesen, hatte man ihr den Geliebten entrissen!

Entrissen! wie oft wiederholte sie sich das Wort, als wollten ihre Gedanken es nicht fassen, als sei das ihr das Schwerste, daran zu glauben, daß er nun auf immer ihr unerreichbar sei! Plötzlich überkam sie eine fiebernde Unruhe, eine solche Unruhe, die zwingt, irgend etwas zu thun, als könne man dadurch noch das Unheil abwenden.

Sie befahl ihren Wagen, sie fuhr hinaus; sie fuhr zum Hohenwaldau'schen Hotel, als müsse sie dort suchen, über alles klar zu werden. Die Stunde, wo man dort Besuche empfing, war noch nicht da. Hatte sie wirklich erwartet. Holdern's Nachrichten nicht bestätigt zu finden? Der Portier meldete, daß heute nicht empfangen werde; Herr Rother sei gegen Mittag abgereist; die Herren hätten ihm das Geleit gegeben und seien seitdem noch nicht zurück; Comtesse Helene sei unpäßlich und habe Ordre gegeben, niemand anzunehmen.

Daniella zog so heftig den Cordon ihres Wagens, um die Anweisung zur Umkehr zu geben, daß der Diener erschrak. Im Augenblick, wo er umwandte, fuhr eine andere Equipage vor. Der Comte de Bussy und jener Ordensgeistliche saßen darin. Sie erkannten Daniella und lüfteten grüßend die Hüte. Sie wähnte ein triumphirendes Lächeln auf dem Antlitz der beiden Herren zu sehen; ihre Stimmung gipfelte in den Worten, die heiser über ihre Lippen gingen: »O, wie ich sie hasse! wie ich sie alle hasse!«


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