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5

Kaum vierzehn Tage später war die große Reise von Schloß Asten aus schon angetreten. Die Reisenden befanden sich auf dem Bahnhofe zu Bornstadt. Hermann und Rother fehlten natürlich nicht, um noch die letzte Stunde vor so langer Trennung mit den Freunden zu verleben. Die Stimmung der einzelnen Mitglieder der Reisegesellschaft war ihrem Alter und Charakter gemäß verschieden. Der Graf, wie ein Mann, der sich lange nicht aus seinen stabilen Verhältnissen losgelöst hat und ungern davon scheidet, war bis zum Augenblick der Abreise mit Anordnungen für die Zeit seiner Abwesenheit beschäftigt. Tante Christiane widmete ihre Sorge ganz dem Kranken, und die Furcht vor Wechsel, Unruhe und Verantwortung verdunkelte bei ihr alle angenehmen Aussichten, wie dies bei ältern Leuten meist der Fall ist. Henny hingegen war in Entzücken über all' die Unruhe, welche die ersten Reisestunden schon gebracht; sie schlug alle Bedenklichkeiten jetzt in den Wind und sprudelte über vor Lust und Fröhlichkeit. In Helenens zartem Gemüth überwog indeß das Traurige der Abschiedsstunde alles Lockende der nächsten Zukunft, was die Phantasie ihr vorgespiegelt. Nicht umsonst bedeckte der kleine Schleier so hartnäckig ihre Augen, seitdem sie den letzten Blick rückwärts auf Asten geworfen, und ihre Stimme war etwas unsicher, als sie die Jugendfreunde begrüßte.

Hermann mochte in ähnlicher Verfassung sich fühlen; doch suchte er dies durch ein möglichst kaltblütiges Benehmen zu verdecken. Er sprach lebhafter als sonst, und es schien, als vermeide er absichtlich Helene, so eifrig widmete er sich seinem Vormunde, der ihn zum Träger seiner letzten Befehle machte.

Rother hingegen nutzte diese Augenblicke noch aus und blieb an Helenens Seite, in eifrigem Gespräch mit ihr auf dem Perron auf und nieder schreitend, bis der schrille Pfiff zum Einsteigen mahnte. Hermann trat nur auf einen Moment heran. Er schien seiner Kraft zu mißtrauen; bei ihm überwog noch die sensitive Scheu des Knaben vor jedem Ausbruch des Gefühles. Einen Druck der Hand erhielt er noch; dann wandte er sich so hastig ab, daß er kaum den freundlichen Blick mehr sah, den Helene ihm nachsandte, während Rother plaudernd an der Wagenthüre verharrte.

»Wenn wir wiederkommen, bin ich auch erwachsen, und ihr seid dann schon alte, bemooste Häupter,« rief Hennys muntere Stimme. »Grüßt Stips und Schnips noch und sagt Baron Werthern, er möge nicht so langweilig sein, zu heirathen, und ja Leila nicht verkaufen. Erinnern Sie ihn daran, Rother!«

Die laute Nennung des Namens Werthern veranlaßte einen vorübergehenden Herrn, den düster gesenkten Blick zu erheben. Er schien die Gesellschaft im Coupé zu kennen; denn grüßend lüftete er den Hut. Graf Asten erwiderte den Gruß.

»Wer war das, Papa?« frug Helene. Die hohe Gestalt, eine an ausländische Dienste erinnernde Mütze auf dem Haupte, ein eigenthümlich bunt ausgenähter Reisemantel um die Schultern, hatte etwas Fremdartiges, das ihre Neugier weckte.

»Der ist gewiß aus einem hohen Haus; er sieht recht düster und recht unzufrieden aus,« declamirte Rother scherzend.

»Das war Baron Holdern, von dem wir neulich sprachen, unser neuer Nachbar,« sagte Graf Asten. »Schau' zu, Henny, ob er auch in diesen Zug steigt; vielleicht desertire ich euch dann später für eine Weile.«

Doch nicht Henny's, sondern Helenens Kopf war es, der bei des Vaters Aufforderung lebhaft sich hinausbog, um sich aber beinahe eben so hastig zurückzuziehen, da der Gesuchte unmittelbar vor ihr neben dem nächsten Coupé stand. Sein dunkeler Blick hatte einen Moment fest auf ihr geruht, während ein fast ironisches Lächeln, das wohl ihrem Eifer galt, um seine Lippen spielte. Helene hatte Lust, in Henny's nicht schmeichelhaftes Urtheil einzustimmen, und doch hatte das gebräunte Gesicht eine seltsame Anziehungskraft für sie. Es war eines jener Gesichter, die man gern enträthseln möchte. Doch die ersten Stöße des sich jetzt in Bewegung setzenden Zuges lenkten ihre Gedanken auf den Abschied zurück. Die Thräne stieg ihr wieder heiß in's Auge, als sie sich den Zurückbleibenden zuwandte, den Jugendfreunden, mit denen ihr bisheriges Leben so eng verbunden gewesen, und von denen sie sich nun auf so lange trennen sollte.

»Hermann, vergiß nicht, daß du zu den Hühnerjagden in Asten sein mußt. Und schreibt einmal, Jungens; Tante Christiane wird antworten« – das waren Asten's letzte Worte.

Rother ging noch einige Schritte neben dem Zuge her; er empfing allein die Grüße, welche die Damen noch den Freunden zuwehten. Als er sich umwandte, war Hermann verschwunden; er folgte ihm dies Mal nicht, da er wußte, wie Einsamkeit ihm jetzt das Liebste sei. Bei aller Theilnahme konnte er sich aber kaum eines Lächelns erwehren. Eine so ausgesprochene Verehrung für ein weibliches Wesen erschien ihm noch in einem komischen Lichte; er vermochte diese frühzeitige matrimoniale Gesinnung seines Freundes nicht zu begreifen. Sein eigener Geist war von zu vielem erfüllt, um ein bestimmtes Gefühl zur Herrschaft kommen zu lassen. In ihm war noch die jauchzende Lust, welche die ganze Welt umfaßt, bei welcher der einzelne kaum mitzählt; und treu, wie er der Freundschaft ergeben war, lag jede Huldigung für das Weibliche ihm fern.

Andere Gedanken waren es, die ihn beschäftigten, und bei denen er sogar den Abschied vergaß. Er ging auf dem weitesten Umwege nach Hause. Dabei hob er den Kopf öfter, als wolle er ihn von irgend etwas befreien, und athmete gierig die frische, scharfe Märzluft, als sei ihm die Brust beengt. Am wenigsten aber ahnte er, daß er selbst der Gegenstand eines so ausschließlichen Gefühls schon war, wie er es beim Freunde belächelte.

In dem kleinen obern Gemache von Daniel Veitel's Haus lag ein junges Geschöpf auf dem Boden und vergrub wild den schwarzen Lockenkopf in den verschränkten Armen, indeß eine Fluth von Thränen ihr heiß über das Gesicht strömte. Vielleicht würde es der Kleinen schwer gewesen sein, zu sagen, was diesen Sturm heraufbeschworen.

Seit jenem December-Abend, wo Rother und Velden ihr beigestanden, hatte sie eine gewisse Eifersucht auf die Familie Asten empfunden, da sie ihr den Freund streitig zu machen schien. Rother's Erzählungen über das Leben in diesem Hause nährten nur dies Gefühl. Sie hatte den Gedanken, daß dort etwas inniger ihn bände, daß sie ihn nicht zu fesseln vermöge.

Durch eine beiläufige Bemerkung Rother's hatte sie von der beabsichtigten Reise der Familie Asten Kenntniß erhalten, Tag und Stunde der Abfahrt erfahren, und mit dem unerklärten Gefühl, das uns Menschen oft gerade zu dem hinzieht, was uns Schmerz bereitet, war sie auf den Bahnhof gegangen, den Abschied zu sehen.

Unbekannt mit den Verhältnissen, wie Daniella war, hatte sie alles ihrem eifersüchtigen Herzen gemäß ausgelegt. Helenens Erscheinung hatte einen tiefen Eindruck auf sie gemacht. Hätte sie sich ihr Empfinden klar machen wollen, so würde sie erkannt haben, daß ihr Schmerz darin seinen Grund habe, daß sie Helene schon so groß, so vollkommen erwachsen gefunden. Daniella hatte ihr gegenüber ein peinliches Gefühl des kindlich Unvollendeten.

Dabei war Rother stets an Helenens Seite geblieben, scheinbar nur mit ihr beschäftigt – das war es, was das junge Herz plötzlich so heiß aufwallen ließ.

Als einziges Kind war sie von Jugend an verzogen worden mit jener Art von Verhätschelung, der meist nur reiche, wenig gebildete Leute fähig sind, welche dem Kinde alles gewähren, weniger aus weiblichem Herzensdrang, als aus dem stolzen Selbstgefühl, die Mittel dazu zu besitzen. Durch die Befriedigung aller Launen war bei Daniella jeglicher Hochmuth, der aufschoß, üppig genährt worden. Aus der großen Stadt in die kleine versetzt, wurde sie in dieser Geistesrichtung noch bestärkt, da dort jedes Gegengewicht fehlte, selbst das In-die-Schranken-treten mit ihres Gleichen. Daniel Veitel's bescheidene Bekannte und Freunde mit ihren Familien existirten kaum für die kleine Großstädterin, die Tochter des Hauses Hirsch; der Gegensatz zu ihnen ließ sie vielmehr nur in höherm Glanze erscheinen.

Den alten Daniel Veitel hatte die Heirath seiner schönen Tochter mit dem reichen Berliner Geschäftsmanne – der nichtsdestoweniger recht gut wußte, daß er an der Erbin aus der Domgasse keine schlechte Partie mache – einst mit Stolz erfüllt. Jetzt, nach dem Tode seiner Tochter, war deren Kind der Gegenstand dieses Gefühls, durch welches die Ansprüche der Kleinen gewissermaßen anerkannt wurden.

Jetta hätte ein christliches Kind durch ihre warme, einfache Herzensfrömmigkeit vielleicht nicht übel geleitet; hier stand sie vor einer Schranke, welche ihre Einwirkung ausschloß oder doch nur wenig zur Geltung kommen ließ. Daniella fiel überdies nie lästig mit ihren Ansprüchen. Es lag etwas Großartiges in ihr; sie wußte sich in die Verhältnisse zu finden und verachtete es, kleinliche Conflicte heraufzubeschwören. Ihr klarer Verstand, ihr fester Wille gaben ihr in den meisten Fällen so einfach das Uebergewicht, daß die Erfüllung ihrer Wünsche wie von selbst kam.

Das trauliche Verhältniß in dem Hause des Großvaters sagte dem Kinde zu. Daniella fühlte sich als den unbestrittenen Mittelpunkt, und das genügte ihr. Jetta hatte daher nicht im mindesten über die kleine Großstädterin zu klagen.

Die Erscheinung Rother's brachte für Daniella einen besondern Zauber in das Haus. Er war in jenem ersten Augenblicke des Begegnens ihr Held geworden; seine Schönheit bezauberte sie, sein Talent entzückte sie, seine ungetrübte Heiterkeit sagte ihrer Kindlichkeit zu. Den Umgang mit Altersgenossen entbehrte sie gar nicht, seitdem er in ihren Kreis getreten war; ihr Charakter war nicht einmal dafür geschaffen. Was uns vollkommen gleich steht, duldet am wenigsten eine Ueberhebung; Rother gegenüber wurde ihr eine gewisse Unterordnung nicht schwer. Er war so viel älter als sie, daß sie zu ihm hinaufschauen konnte; und immerhin war sie nicht mehr Kind genug, als daß er es an jener Rücksicht hätte mangeln lassen, die man dem heranwachsenden Mädchen entgegenbringt. Daß er es that, schmeichelte ihr; aber mehr als alles fesselte sie seine Art und Weise überhaupt, da bisher nichts Aehnliches ihr vorgekommen war. Außer ihren Lehrern, die vielfach gewechselt hatten, waren ihr kaum jemals andere Männer, als trockene Geschäftsleute, Freunde ihres Vaters, begegnet. Von ihnen war sie kaum einer Beachtung gewürdigt worden und hatte nur triviale Neuigkeiten oder Geschäftliches von ihnen gehört.

Bei Rother begegneten ihr zum ersten Mal Gedanken – Gedanken freilich oft über ihr fremde und fern liegende Gegenstände. Aber jede reich ausgestattete Natur ist zum Würdigen und Erkennen hoher, reiner Gedanken befähigt. Mag das spätere Leben die Empfänglichkeit dafür trüben, mag sie sich sogar in Gleichgültigkeit und Haß wandeln, ursprünglich ist sie da.

Eine ursprüngliche Natur in allem Guten und Bösen war aber noch das dunkelhaarige Mädchen, das jetzt in kindischer Verzweiflung da lag, mit der Maßlosigkeit ihr sich hingebend, wie sie der Antheil ungebändigter Naturen ist. Nichts hatte ihr bisher Fesseln angelegt; jener Einfluß, der das Ich in seinem Wollen und Wünschen, wie in seinem Können und Streben eindämmt, war ihr unbekannt.

Alles darauf Bezügliche aus Jetta's wie aus Rother's Munde klang ihr deshalb geradezu fabelhaft. Was man sie in religiöser Beziehung oberflächlich gelehrt hatte, beschränkte sich auf einige sittliche Lehren. In Wahrheit kannte sie nur die Triebfedern des eigenen Geistes, die sie vielleicht deshalb so hoch schätzte, weil sie eine solche Kraft in dem ihrigen spürte. Jener Widerwille gegen das Schuldbekenntniß, gegen jenen Act der Demüthigung, von dem Rother ihr geredet, war ihr aus tiefster Seele entsprungen; gegen den Begriff einer Verantwortung sträubte sich ihr Sinn, wie er sich gegen jede Entsagung gesträubt hätte. In einem Schuldbekenntniß lag eine Verurtheilung dessen, was das Ich gewollt, worin sie, wie sie im ersten Augenblick ausgerufen, eine Art Feigheit sah. Diese Auffassung erregte sie noch mehr, als sie dieselbe unwillkürlich mit Rother in Verbindung brachte, und mit der Furcht, daß er ihr entzogen werden könne.

Unklar, gestaltlos schwebte ihr das alles vor; klar nur die eine Empfindung: sie wollte sich den Freund nicht entziehen lassen. Wie in der Kirche der junge Priester, so stand Helene vor ihren Augen. Eine wilde Freude durchglühte sie, als ihr nach all' dem Schmerz jetzt auch der Gedanke kam, daß Helene auf Jahre nun von ihm entfernt sei, daß es dagegen zwischen ihm und ihr selbst noch ein Band gebe – die Kunst, die sie zusammengeführt.

Das heiße Gesicht hob sich, und die kleine Gestalt richtete sich auf – so maßlose Erschütterungen sind selten von Dauer.

Grell und scharf tönte in dem Augenblick ihres Großvaters Stimme herauf, der sie entbot, so rasch als möglich herabzukommen, da eine freudige Ueberraschung ihrer warte.

Daniella war etwas skeptisch in Bezug auf ihres Großvaters Ueberraschungen, und auch diesmal glaubte sie eine Ahnung von der Natur derselben zu haben. Sie nahm sich daher die Muße, ihren heißen Kopf und ihre brennenden Augen erst zu kühlen – sie wußte eigentlich kaum mehr, warum sie so außer sich gewesen.

Als sie die enge Treppe hinabstieg, sah sie von fern schon, daß ihre Ahnung sie nicht betrogen.

Der elegante Koffer, der unten im dunkeln Hausflur glänzte, gehörte Herrn I. Hirsch, Banquier aus Berlin. Daniella – die Wahrheit zu gestehen – beeilte sich deshalb um nichts mehr. Herr Hirsch war stets allzu sehr Geschäftsmann gewesen, um sich die Zuneigung seines Kindes zu erwerben. Zudem gehörte Daniella zu jenen Kindern, die es nur selbstverständlich finden, daß sie geliebt werden.

Herr Hirsch machte in seines Schwiegervaters Gemach ungefähr denselben Eindruck, wie das neue Instrument, das dort stand. Er fühlte sich etwas erhaben über den Vater seiner Frau, und dieser gönnte ihm das vollständig.

Seinem Kinde gegenüber war er zärtlicher Vater. Bei der Wahrnehmung, daß sie sich viel kräftiger entwickelt hatte, war er entzückt, in dem Gedanken, sie bald als »große Dame« zu sehen, wie er stets wiederholte, mit seiner gewichtigen Hand ihre Höhe bemessend und ihren Scheitel streichelnd, die einzige Liebkosung, die Daniella gnädig hinnahm. Nachdem sie sich eben noch neben Helene so klein und unscheinbar gefühlt, gewährte ihr der Gedanke, dem ersehnten Ziele so nahe zu sein, eine stolze Genugthuung. Gleichgültiger ließ sie das Lob, mit dem der Großvater sie überhäufte. Sie nahm überhaupt jedes Lob stets kaltblütig hin; sie war zu sehr erfüllt von dem, was sie selbst über sich dachte, als daß das, was andere sagten, großen Eindruck auf sie gemacht hätte. Mit einer gewissen Selbst-Ironie fand sie sogar meist selbst das Unrichtige daran heraus.

Auch jetzt wandte sie alles Verdienst des Lobes, das man ihren musikalischen Fortschritten zollte, ihrem Lehrer zu, sich dabei ganz in den Hintergrund stellend. Der Name Rother spielte eine so große Rolle in ihren Mittheilungen, und Veitel wie Jetta unterstützten sie dabei in einem Maße, daß Herr Hirsch neugierig werden mußte, den jungen Mann kennen zu lernen, der seinem Kinde sich so freundlich erwiesen.

Eine feierlichere Einladung, wie sie Rother bisher noch nie geworden, war die Folge. Dankbarkeit ist ein schönes Erbtheil der semitischen Race, und fast zu viel wurde dem jungen Manne der etwas steife, aber nichtsdestoweniger warme und herzliche Dank, mit dem Herr Hirsch ihn überschüttete.

Ein wahres Entzücken riefen seine musikalischen Leistungen hervor. Herr Hirsch hatte selbst seiner Zeit, als die Zahlen ihn noch nicht ganz in Anspruch nahmen, sein hübsches musikalisches Talent geübt, und bei seiner großen Verehrung für »Bildung« gern Kreise aufgesucht, in denen es zur Geltung kommen konnte. Ein gewisses Kunst-Interesse war in den Jahren seiner Jugend an der Tagesordnung gewesen. Der Israelit aber entzieht sich nie der Richtung seiner Zeit, so zäh er sonst manches Eigenartige festhält. So konnte Herr Hirsch ein Wörtlein darüber mitsprechen, und er sprach es laut und gewichtig, wie er immer sprach. Er vindicirte dem jungen Manne eine Begabung, die ihm einen Künstlerruf sichere, und er gab einige drastische Beispiele zum besten, wie Sterne erster Größe ihre Stellung errungen hätten. Es wäre unerhört, meinte er, ein Talent, dem solche Aussichten sich eröffneten, in der kleinen Stadt zu vergraben.

Eine seltsame Gluth stieg auf Rother's Stirne, wenn er auch noch, wie ehedem, zu lächeln versuchte.

Daniella lächelte nicht. Ihre Augen zeigten einen funkelnden Glanz, als sie sich jetzt zu ihrem Vater wandte: »Verhilf Herrn Rother zu einem Platz im Conservatorium, damit er seine Ausbildung dort vollende; dann wird er ein großer Künstler werden. Nur das ist es, was ihm noth thut, – du könntest ihm den Dienst erweisen.«

Herr Hirsch schwieg bei diesem kühnen Vorschlage seines Töchterleins, wie ein vorsichtiger Mann schweigt, der die Tragweite eines Versprechens erst weislich überdenkt.

Aber, was Daniella kaum erwartet hatte: auch Rother schwieg. Er fühlte zum ersten Mal sein Herz so stark pochen, als wolle es ihm den Athem nehmen, als versage es ihm die Macht zum Wort. Er beugte sich über die Noten, die er eben zur Hand hatte, so tief, daß die blonden Locken verdeckend über sein Antlitz fielen.

Nur einen Moment dauerte die Pause, – Daniella ertränkte die Verlegenheit sofort in einer ihrer triumphirendsten, rauschendsten Weisen.

Im Verlaufe des Abends kam keiner mit einem Wort auf den Vorschlag zurück. Rother hielt eine Widerlegung dieses Einfalls des Mädchens vielleicht nicht für nöthig. Herr Hirsch hatte ja ihre Worte nicht beachtet. Daniella aber war durch das gegenseitige Schweigen vollkommen befriedigt; kaum drei Monate später sollte ihre richtige Erkenntniß darin sich auch beweisen. Das heutige Schweigen wurde an anderer Stelle der Ausgangspunkt zu stürmischen Debatten, wie sie in einer Sache, die von verschiedenen Seiten sich betrachten läßt, meist einem Entschluß voraufgehen.

Frau von Velden's Wohngemach in Burghof war die Oase, von welcher aus allmälig Wohnlichkeit und Behaglichkeit sich in dem alten Hause verbreitet hatte. Wenn man diese auch in keinem der Zimmer mehr vermißte, war das Gemach mit seinem tiefen Erker, an dessen Bogenfenster wilder Wein und farbige Winden zierlich emporrankten, und von dem man die schönste Aussicht auf Berg und Wald genoß, doch das bevorzugte geblieben.

Bezeichnend für den Geschmack und das Verständniß der frühern Bewohner von Burghof war es, daß dieser hübscheste und freundlichste Fleck des Hauses zu einer Art Vorrathskammer gedient hatte. Frau von Velden hatte, sobald es ihr möglich gewesen, das Zimmer diesem Zweck entzogen, dasselbe, sehr zum Staunen ihres Gatten, als ihr Privat-Eigenthum erklärt und stets alle Sorgfalt mit Vorliebe darauf verwendet. Sie behauptete, von hier aus zum ersten Mal Burghofs Schönheit entdeckt zu haben, und es blieb ihr Lieblings-Aufenthaltsort. Jetzt war es auch der der jungen Leute, wenn sie bei der Mutter ihr Plauderstündchen hielten.

Auch heute hatten sie dort Platz genommen, und mit mütterlichem Stolze ruhte Frau von Velden's Auge auf den beiden jugendkräftigen Gestalten. Sie waren erst seit wenig Tagen heimgekehrt, nachdem sie ihren ersten Feldzug in's Leben siegreich beendet. Das Examen hatte ihre Gymnasial-Studien rühmlich beschlossen. Beide hatten sich ausgezeichnet. Hermann Velden's ernster Eifer, sein Fleiß und seine Gründlichkeit hatten gebührende Anerkennung gesunden und waren besonders bei seinen schriftlichen Arbeiten vortheilhaft zu Tage getreten.

Mit Anton Rother verfuhr das Leben stets leicht; seiner Begabung war die Huldigung geworden, daß ihm die mündliche Prüfung ganz erlassen wurde. Frau von Velden's Stolz war daher wohl berechtigt: es waren Tage des frohesten Wiedersehens. Hermann war stets befriedigt, wenn er nur in der geliebten Heimath war. Nachdem er einmal dem Wunsche der Mutter sich gefügt hatte, haderte er nicht weiter mit dem Schicksal, sondern faßte seinen Beruf ernst und ruhig in's Auge. Wie viel jene jugendliche Beratherin dazu beigetragen, ihn so schnell damit auszusöhnen, gestand er sich wohl kaum selbst ein.

Bei Rother vermißte man in jener Zeit einen Theil seiner gewohnten Heiterkeit. Frau von Velden ahnte die Ursache davon; sie verstand die unruhigen Schatten, die über seine sonst so klare Stirne huschten; aber sie hielt es für besser, ihn sich selbst zu überlassen. Sie erkannte einen jener jugendlichen Gährungs-Processe, die sich erst in etwa klären müssen, ehe man helfend und berathend eintritt.

Der entscheidende Augenblick sollte aber früher kommen, als sie gedacht.

Wie die drei zusammensaßen, war es unverkennbar, daß die Grenzen traulicher Unterhaltung überschritten waren, so eifrig sprach man. Frau von Veldens Auge ruhte oft mit einem bekümmerten Blick auf einem Briefe, den Anton ihr zum Lesen vorgelegt, indeß sein Antlitz das Gepräge innerer Unruhe und mächtiger Bewegung zeigte, wie sehr er sich auch zu anscheinender Ruhe zwang.

Am erregtesten war jedenfalls Hermann, der laut und scharf seine Meinung aussprach, und auf dessen Arm der Mutter Hand sich so oft beschwichtigend legte.

Der Brief enthielt die Lösung jenes allseitigen Schweigens auf Daniella's kühnen Vorschlag. Jenes Schweigen hatte bei Herrn Hirsch einen Plan in's Leben gerufen; er hatte sich berechtigt gefühlt, für Rother zu handeln. Daniella hatte ihrerseits Sorge getragen, daß der Eifer des Vaters nicht erkalte. Das Ergebniß lag jetzt in geschäftlicher Kürze in Herrn Hirsch's klarer Handschrift vor ihnen da. Es war dem Banquier gelungen, für den jungen Mann eine Freistelle am Conservatorium zu gewinnen; die Aussicht aus ein Stipendium für fernere Ausbildung war damit verbunden, wenn der Aufzunehmende sich in nächster Frist einer Prüfung unterwerfen und den Erwartungen entsprechen würde. Herr Hirsch hatte mit der unermüdlichen Thätigkeit und Zähigkeit, die seinem Stamme eigen, alle ihm zu Gebote stehenden Connexionen in Bewegung gesetzt, um dies günstige Resultat zu erzwingen. Es mochte ihm dabei angenehm sein, zu beweisen, was er vermöge.

Für den Fall, daß der junge Mann von der seltenen Gunst, die sich ihm so darbiete, Gebrauch machen würde, stellte Herr Hirsch ihm sein Haus zur Verfügung; daß der Versuch gelinge daran zweifelte Herr Hirsch gar nicht. Die kurze Frist, die zur Annahme oder Ablehnung gestellt war, trieb den Conflict in Rother's Herzen zu rascher und entschiedener Lösung. Anton hatte schon seit einiger Zeit das langsame Nahen des Entschlusses empfunden, den er jetzt gefaßt.

Göthe sagt vom Dichter, daß er kaum jemals wisse, was aus reiner Eingebung geschöpft, was durch Empfangen und Aufnahme von außen in ihm erzeugt sei. Fast von jedem Gedanken könnte man das Gleiche sagen.

Der Gedanke seiner Kindheit, sich ganz dem Dienste des Höchsten zu weihen, war bei Rother Jahre hindurch der Grundton seines Lebens und Strebens gewesen. Jetzt mochte es in dem unruhigen Aufwallen der Jugend liegen, daß ein Entschluß, der so viel Beengendes, Bindendes im Gefolge hat, so viel Entsagung in sich schließt, in's Schwanken gerieth, daß der Hinblick aus seine Zukunft für den jungen Mann etwas Beängstigendes hatte.

Frau von Velden hatte den Grund seiner innern Unruhe geahnt; da aber noch Zeit genug zu irgend welcher Entscheidung vorlag, hatte sie nicht vorzeitig eingreifen wollen, damit er seinen Beruf erst recht prüfe. Doch nicht jene Unruhe allein bewegte ihn; ein anderer Wunsch hatte daneben Wurzel gefaßt und forderte gebieterisch sein Recht. Wie viel dazu jene Abende in Veitel's Gemach beigetragen, wer vermöchte es zu sagen?

Wenn Anton Rother auf seiner Mutter Schooß seine Kinderlieder trällerte, wenn er in den frühesten Jahren die Zuhörer durch die Richtigkeit und Feinheit seines musikalischen Gehörs in Staunen setzte, hatte man ihn einen kleinen Künstler genannt, ihm von fernerer Ausbildung geredet, und doch war nie ein solcher Gedanke haften geblieben, niemals ein derartiger Wunsch in ihm aufgetaucht.

War es den dunkeln Augen Daniella's vorbehalten gewesen, diesen Keim zu wecken? Hatte ihr unruhiger, strebsamer Geist vermocht, den Funken zu entzünden, indem sie die Möglichkeit herbeiführte, einen solchen Lebensplan zu verwirklichen?

Unendlich viel liegt in solcher Möglichkeit! So mancher Traum bleibt Traum, nimmt kaum faßbare Gestalt an, so lange er als unerreichbar gilt; aber baue ihm die Brücke, die ihn auf realen Boden führt, eröffne ihm die Möglichkeit der Verwirklichung, und du wirst seine ganze Macht empfinden!

So ging es Rother angesichts dieses Briefes, der all' seinen unbestimmten Wünschen plötzlich die Form einfacher Thatsachen gab.

Frau von Velden erkannte Anton's Stimmung aus der Art, wie er ihr den Brief zur Begutachtung vorlegte. Sie hatte jenem Kindergedanken nie großen Werth beigelegt; doch hatte sie allzu lange sich hineingewöhnt, um nicht ein Aufgeben desselben schmerzlich zu empfinden. Die Wandlung zu Gunsten einer solch' schwankenden Laufbahn wie der eines Künstlers, die jetzt bei Anton eingetreten, mußte ihr große Sorge einflößen, selbst wenn sie die materielle Schwierigkeit, die seine Sinnesänderung mit sich bringen konnte, nicht in Betracht zog.

Am meisten Widerstreben fand der Gedanke bei Hermann. Er begriff kaum, wie sein Freund nur ein Nachdenken an diesen Vorschlag verschwenden könne; er wollte ihn als ganz nebensächlich abgefertigt sehen, und hatte nicht übel Lust, das Anerbieten des Herrn Hirsch als eine arrogante Einmischung zu betrachten, oder doch mindestens als eine fast komische Großthuerei.

Dem Einwurf Rother's, daß eine solch' günstige Gelegenheit vielleicht nie wieder sich bieten werde, schenkte er anfänglich gar kein Gehör. Als Rother, gereizt durch des Freundes Widerspruch, endlich klar seine Meinung dahin aussprach, daß es ihm jetzt unmöglich erscheine, dem früher erwählten Beruf zu folgen, und daß der Gedanke, nur der Kunst zu leben, schon lange in ihm erwacht sei, da kannte Hermann's Schmerz und seine Erregung keine Grenzen. Seinem stabilen Charakter lag jeder Wechsel fern, und nun gar den Freund zu denken als – Künstler!

Er war versucht, an eine momentane Geistesverwirrung Rother's zu glauben, und schob diese, in seinem Unmuth nicht ganz richtig urtheilend, auf den Umgang »mit den Menschen«, wie er sich ausdrückte, von dem er von Anfang an nichts Gutes prophezeit hatte. Die schroffe Weise, in welcher er andeutete, daß er den Freund und Bruder auf jenem Wege für verloren ansehe, drohte zum ersten Mal das Band zu lockern, das bisher jeder Tag nur befestigt hatte. Während Velden's Auftreten seinem starren Charakter gemäß etwas Despotisches annahm, indem er dem Freunde jede eigene Beurtheilung der Sache absprach, loderte in Anton das freie Gefühl des Mannes empor, der für sich selbst einzustehen hat und das Recht in sich fühlt, den eigenen Weg sich zu bahnen. Rother war um so empfindlicher in dem Punkte, je mehr Bande der Abhängigkeit, und waren es auch die lieblichsten, ihn stets gefesselt.

Frau von Velden hatte den Streit der beiden jungen Leute bisher unbeeinflußt hin und her wogen lassen, allzu sehr in ihre eigenen Gedanken versunken, die ihr nicht gleich klar werden wollten. Sie schritt aber endlich ein; denn sie wußte wohl, daß solche heftige Stürme so zerstörend wirken können, daß der vorherige Zustand nicht mehr herzustellen ist.

»Laß mich allein mit Anton,« unterbrach sie Hermann's heftige Erwiderung, mütterlich Rother's Hand nehmend und ihn zu sich ziehend, so daß der schlanke junge Mann unwillkürlich vor ihr niederkniete, wie er so oft als Kind gethan, wenn er irgend eine Schuld mit seiner Pflegemutter abzurechnen gehabt. Impulsiv, wie er war, beugte er das Haupt vor ihr; aber Frau von Velden hob den gesenkten Kopf empor und blickte lange in das schöne Antlitz, das, zum ersten Male getrübt von so heftiger innerer Bewegung, wie hülfeflehend zu ihr aufsah.

Hermann sah ein, daß seine Mutter Recht habe, daß es am besten sein würde, sie mit Anton allein zu lassen. Er empfand, daß es auch für ihn selbst gut sei, abzubrechen, ehe die Erregung ihn zu weit führe, wenn auch nur wirkliche Liebe und Anhänglichkeit aus ihm gesprochen. Ueberdies hegte Hermann das Zutrauen zu seiner Mutter, die er mit seinen Gedanken ganz eins glaubte, daß sie die Sache ruhiger und besser als er führen und den Freund bald zur Erkenntniß bringen werde.

Er war froh, indessen im Freien sich beschäftigen zu können; er bedurfte stets der freien Natur in Berg und Wald, um sich auszuathmen. Eigentlich mußten es aber seine Berge und seine Wälder sein, die ihm das Labsal reichten, wo außer ihrem frischen Hauch allerhand praktische Interessen mit einwirkten und ihm zu heilsamer Ablenkung dienten.

Mit mächtigen Schritten suchte er heute rascher als je das Weite, da nie ein Gedanke ihn so ergriffen, selbst damals nicht jener Entschluß, der ihn selbst betraf. Durch alle Fibern seines Wesens war er mit Anton verwachsen, und was ein Sinn wie der seinige erfaßt, steht fest für immer.

Die Berufswahl seines Freundes hatte er von jeher mit Freuden begrüßt; Anton stand ihm so hoch, daß für ihn nur das Höchste und Idealste ihm genügend schien. Ein Herabsteigen von dieser Höhe war ihm schmerzlich.

Er verband auch eine andere Hoffnung damit, die seinem Herzen wohlthuend war. Es war kaum anders möglich, als daß mit den Jahren der Standesunterschied zwischen ihnen fühlbarer werden mußte. Die Freundschaft fast noch mehr als die Liebe erheischt eine gewisse Gleichheit der Lebenssphären. Liebe vermag noch mit kühnem Schwung in eine andere Bahn hinüber zu reichen, Freundschaft wird durch eine Verschiedenheit der Verhältnisse und Interessen mindestens abgeschwächt. In dem priesterlichen Stande aber liegt eine Würde, die ihn allen Ständen gerecht macht; allen Ständen angehörig und keinem zu eigen, überbrückt der Priester die Kluft vom Höchsten bis zum Niedrigsten. Thatsächlich blieb auch der Weg der beiden, wenn Rother dem theologischen Studium folgte, am längsten vereint, und es war ein Lieblingsgedanke Velden's, Rother später einmal in seiner Nähe in einem angemessenen Wirkungskreise zu sehen. Für eine höhere Laufbahn besaß Rother nicht genügende Mittel, und wie gern Velden diese dem Freunde geboten haben würde, es lag bei ihm nicht in der Möglichkeit. So wirkte alles zusammen, diesen Gesinnungswechsel für Hermann geradezu widerwärtig zu machen.

Wie sehr auch der Anblick seiner Buchen und Eichen ihn beschwichtigte, er vermochte doch keinen andern Gedanken zu fassen, als daß es seiner Mutter gelingen möge, Anton diese Grille – etwas anderes konnte es nicht sein – auszureden.

Der Mond stand schon am Himmel, als Hermann endlich die Schritte heimwärts lenkte. Er hatte das Gefühl, es werde viel Zeit bedürfen, um einen günstigen Umschlag herbeizuführen.

Als er in seiner Mutter Zimmer trat, fand er sie allein. Frau von Velden saß still zurückgelehnt da; aber ihr Antlitz trug so befriedigten Ausdruck, daß Hermann nicht anders wähnte, als daß sie gesiegt habe. Er setzte sich der Mutter zur Seite, eine ihrer Hände zärtlich in die seinen nehmend.

»Nun,« begann er froh, als sei ihm ein Stein vom Herzen genommen, »ist Anton vernünftig geworden? – Mama, du kannst alles!« setzte er in aufrichtiger Bewunderung hinzu.

Frau von Velden blickte zu ihrem Sohne auf. »Ich hoffe, ich that das Rechte,« sagte sie ruhig. »Ich rieth ihm, diesem Herrn alsbald seine Bereitwilligkeit zu der vorgeschlagenen Prüfung auszusprechen. Es ist eine Gelegenheit, wie sie wohl selten geboten wird, ein guter, herzlich gemeinter Vorschlag, den zurückzuweisen wirklich thöricht wäre. Er gibt ihm die einzige Möglichkeit, die Künstlerlaufbahn sich zu eröffnen.«

Hermann hatte seine Mutter starr angeblickt. »Mutter, es ist nicht möglich!« rief er, plötzlich aufspringend. »Du kannst ihm das nicht gerathen, du kannst ihm deine Einwilligung nicht gegeben haben. Das kann doch deine Ansicht nicht sein!«

»Würde es die deine sein, ihn zu einem Beruf zu zwingen, der ihm nicht mehr zusagt, besonders zu dem, den man nur aus den höchsten Motiven wählen soll?« erwiderte Frau von Velden sanft, aber fest.

Hermann durchschritt in höchster Aufregung das Zimmer. Wenn er auch gedacht, daß es schwer sein würde, Rother zu beeinflussen, da er die Festigkeit seines Entschlusses allzu gut herausgefühlt, so hatte er doch nicht erwartet, daß seine Mutter mit ihm einverstanden sein könnte.

»Es gibt hundert andere Laufbahnen außer dieser, wenn Rother's Beruf wirklich gewechselt hat,« grollte Hermann, indem er zum ersten Mal seine Mutter der Schwäche zieh, weil sie Rother's liebenswürdiger Ueberredungsgabe nicht habe widerstehen können. Ein wenig von der alten Kinder-Eifersucht mochte dabei erwachen. »Du bist nachsichtiger gegen ihn als gegen deinen eigenen Sohn, den du wider seine Neigung zu einem andern Berufe zwingst!« sagte er fast bitter.

»Ich habe dir nur für eine Zeitspanne die Unterordnung unter meine Wünsche auferlegt, und, weiß Gott, mir schienen die Gründe wichtig genug!« sagte sie bewegt. »Ich wünschte deinem Geiste einen weitern Horizont zu eröffnen, und später steht es dir frei, nach eigenem Ermessen zu handeln. Für Rother ist es eine Lebensfrage. Darin hast du recht: es gibt auch für ihn noch hundert andere Laufbahnen, aber keine wohl, die ihm so zusagt, die ihm so lockend winkt. Meiner Ansicht nach ist in solchen Fällen die gesundeste Auffassung, den Menschen den Weg einschlagen zu lassen, der ihm Sehnsucht erweckt, falls kein Unrecht damit verknüpft ist. Ich verstehe, wie wenig dir dies behagt. Auch mich hat es einen Kampf gekostet. Aber, Hermann, es gibt nichts Engherzigeres, als anderer Glück nach der eigenen Schablone richten zu wollen. Wem Gott eine große Gabe verliehen, der hat das Recht, in deren Ausbildung seinen Beruf zu sehen und dafür leben zu wollen.«

»Zu leben, um andern vorzumusiciren und sich beklatschen zu lassen!« rief Velden mit Geringschätzung.

»Zu leben, um zu beobachten, wie dein Feld bebaut, deine Scholle geackert wird, – so werden andere von dir denken. Du weißt dagegen, welchen tiefen Sinn dies Leben birgt!« gab Frau von Velden zurück. »Vermagst du ein Talent nur so nüchtern aufzufassen? Glaubst du, Gott würde diese Gaben in den Menschen gelegt haben, wenn sie nicht nothwendig wären zur Vollendung und Veredelung des Ganzen? Fürwahr, sie sind nothwendig!« fuhr sie leiser fort. »Der Mensch ist sehr arm ohne sie. Alles Geistige, alles Höhere birgt einen Genuß, den man schmerzlicher entbehrt als materielle Dinge; dessen Mangel man härter empfindet als andere Entbehrungen.«

In Frau von Velden's Worten lag eine Klage, die Hermann's Ohr schneidend traf. Er war in zu gereizter Stimmung, um ihre Berechtigung zu verstehen; es klang ihm wie eine Verurtheilung ihres häuslichen Glückes, ihres Lebens in Burghof, – seines Vaters vielleicht – seiner selbst ohne Zweifel.

Wieder kam ihm jene Erinnerung aus der Kindheit, die stets erwachte, wenn er sich um seiner realen Richtung willen zurückgesetzt fühlte. Seine Lippe kräuselte sich zum Spott, als er vor der Mutter stehen blieb und antwortete: »Ich kann nicht so überschwänglich fühlen, Mutter. Ich bin von anderm Stamme, eine einfach reale Natur, die das Leben praktisch auffassen will, und nichts weiter.« Er sprach herbe, wie er noch nie zu ihr gesprochen.

Frau von Velden sah auf, und eine Erinnerung durchzuckte auch sie. Jenen selben Blick der Geringschätzung und Selbstüberhebung hatte sein Vater gehabt gegenüber ihren Wünschen und Bestrebungen bei jeder kleinen Freude geistiger Art, die sie sich gegönnt. Ja, ihr Sohn hatte recht; er war von demselben Stamme – aber es war hart, das in dem einzigen Kinde wiederzufinden, für das sie so anderes angestrebt.

»Nur ein realer Mensch!« wiederholte sie schmerzlich, übermannt von der Erinnerung. »Ist es denn eine solche Ehre, damit einzugestehen, wie du das Leben nur einseitig verstehst, daß du mit solchem Stolz das aussprichst? Ist es eine Ehre, so geistig arm zu sein, daß der Blick für so viel des Schönen im Leben stumpf ist? Das ist der Unsegen, der auf euerm Hochmuth ruht, daß ihr in euerer Dürftigkeit euch selbst genügt. Nur eine reale Natur! Was habt ihr denn jemals geleistet, ihr nur realen Menschen? Wo ihr euer Reich unbestritten aufschlagt, versinkt die Welt in Nüchternheit, und euere Genußsucht wird niedrigster Art. Welches Volk habt ihr groß gemacht, welches Land veredelt? Generationen, die nur reale Menschen sein wollten, sind dahingegangen, ohne eine Spur ihrer Wirksamkeit zu hinterlassen; aber der dürftigste Mensch mit einer idealen Bestrebung hat oft die Welt in Bewegung gesetzt, ist ihr zum Heil geworden. Der geistige Mensch hat nie die praktische Mitwirkung gering geschätzt, indeß euer enger Gesichtskreis sich starr vor dem Geiste verschließt und ihr seine Thaten weder versteht noch anerkennt! Was hat der Stamm, dem du angehörst, in der Fülle des Besitzes und der Kraft denn für sich und andere gewirkt, daß du so hochmüthig auf jede andere Richtung hinabschaust?« Frau von Velden stockte und wandte sich ab in der Bitterkeit der Enttäuschung über des Sohnes Ansichten.

Hermann Velden hatte seine Mutter niemals so aufgeregt gesehen; noch nie hatte sie zu so heftiger Aussprache sich hinreißen lassen. Er fühlte, daß er eine Stelle berührt hatte, die lange geschmerzt haben mußte; eine Ahnung von dem, was seine Mutter hier entbehrt, hier durchkämpft, ging ihm auf – nicht in Bitterkeit, wie vor wenigen Augenblicken, sondern in Theilnahme.

Hatte sie nicht Recht, daß, wer nur den Stoff sieht, nur den Stoff bewältigen will, gar wenig erreicht? Unleugbar und unbestreitbar gehört jener Funke dazu, der, in welcher Gestalt er austreten mag, dem Menschen so nothwendig ist, wie der Strahl der Sonne der Erde. Hatte sie nicht Recht, daß die Blüthen, die der Geist treibt und die nur der Schönheit dienen, eben so gut in das Leben gehören, wie die Blüthen, die Gott der Herr seiner Welt neben den nutzbaren Pflanzen gab?

Wie Hermann jetzt seine Mutter vor sich stehen sah, die kleine, schwache Frau, mußte er sich gestehen, daß dies zarte Wesen, nur mit jenem geistigen Funken ausgerüstet, selbst auf diesem rauhen Boden mehr ausgerichtet hatte, als alle die Männer und Frauen vor ihr, die den Geist verleugnet. Ihre Hand hatte dem Verfall Einhalt gethan; rings um sich her sah er die Anmuth eines geordneten Lebens von neuem aufblühen. Ihr Wirken reichte schon über die Grenzen ihres Hauses, sie hatte dem Namen der Velden wieder Achtung verschafft. Einige Worte, die Graf Asten an jenem Abend zu ihm geredet über die Geschichte seines Hauses kamen ihm wieder in den Sinn. Wahrlich, wenn Eine sagen durfte: »Was habt ihr denn gethan, ihr realen Menschen!«, so war sie es; wenn Einer kein Recht hatte, sich seines Stammes zu rühmen, so war er es. Eine reuige Empfindung ergriff ihn, besonders als er sah, daß eine Thräne auf der Wange seiner Mutter sich hinabstahl. Die bittere Erkenntniß, wie fremd in Wahrheit ihrem Innern ihr einziges Kind geblieben, hatte sie ihr ausgepreßt.

Fast wie Sehnsucht erfaßte es sie nach jenem andern, der, obwohl nicht ihr Fleisch und Blut, geistig ihr um so verwandter war. Aber Hermanns Arm umschlang schon der Mutter Nacken: »Mutter, wecke in deinem Sohne den Geist, den du diesem Hause schon eingehaucht hast!« flüsterte er. »Verzeih', wenn er einen Augenblick verkannte, was der Segen desselben geworden.« Seine Lippen preßten sich auf ihre Stirne. Der hochgewachsene Sohn mußte sich schon tief herabbeugen, wenn er die Mutter umfangen wollte.

Was aber der Mutter Gefühle auch gewesen sein mochten, des Kindes Stimme brach gleich den Bann, und seine Bitte fand keinen Widerstand. Ja, als sie zu ihm emporblickte in die treuen Augen, empfand sie, daß auch sie ihm ein kleines Unrecht angethan und ihn wohl etwas zu gering beurtheilt hatte. Aus dem Auge sprach der Funke, der dem Herzen entsteigt und von da aus sein Licht verbreitet, und auf seiner Stirne sah sie die Klarheit, die ernste Festigkeit, die sich nicht zum Niedrigen herabläßt und wohl noch ein größerer Schatz ist, als die Gabe, die sie an ihm vermißt. Sie war ausgesöhnt mit ihrem Kinde, wie sie es jetzt so fest in ihre Arme schloß.

Lange standen Mutter und Sohn noch in stillem, innigem Einverständniß, bis leise herüber aus dem alten Thurmzimmer, das Rother seit seiner Knabenzeit im Schlosse bewohnte, die milden Töne seiner Geige erschallten.

Auch Rother hatte seine Stunden des Kampfes und Zweifels gehabt, aus der ihn der Pflegemutter Wort erlöst. Er hatte nicht leicht gebrochen mit seinem Entschlusse, der ihm seine ganze Lebenszeit vorgeschwebt, der ihm so hoch und erhaben gedünkt. Warum hatte es sich jetzt so beengend auf seine Seele gelegt, warum sträubte sich dieselbe gegen die Banden, die von jenem hohen Berufe untrennbar waren?

Frau von Velden hatte auch darüber manch' mild beruhigendes Wort reden, ernsten Rath geben müssen, um alles wieder in Harmonie zu bringen. Er sollte das Anerbieten nicht ausschlagen, er sollte hingehen und jene Möglichkeit sich sichern; er sollte die Welt kennen lernen, die ihn lockte. Dann konnte er noch ein Mal prüfen, zu was der Herr ihn bestimmt.

»Laß ihn den Weg gehen, der sich ihm eröffnet,« sagte Frau von Velden, nachdem sie beide jenen Tönen gelauscht, deren Zauber mehr als alles andere für die Berechtigung des gefaßten Beschlusses sprach. »Wollte man ihm den Weg verschließen, es könnte ihm ein nie schweigender Vorwurf bleiben, daß er diese Gabe habe verkümmern lassen. Gefahren sind überall, und bei aller Beweglichkeit seines Geistes ist sein Sinn doch fest auf das Hohe gerichtet.«

»Immer etwas zum Himmel Strebendes, so bezeichnete neulich Helene Asten sein Wesen,« sagte Hermann, von der Erinnerung berührt. »Was werden Astens zu seinem Entschlusse sagen? Wären es nur nicht jene Menschen, die ihn damit zu sich ziehen werden, und diese Laufbahn, die ihn so vollständig von uns trennt!« rief er in erneutem Schmerz. »Ich hatte es mir so schön gedacht, daß auch ferner noch unsere Lebenswege vereint bleiben sollten!«

»Warum vollständig getrennt?« wandte Frau von Velden ein. »Allerdings, was nicht einer Quelle entsprang, rinnt selten den gleichen Weg; ein jeder Fluß sucht sein eigenes Bett, – alle schließlich im großen Meere der Unendlichkeit mündend, und dort wieder sich einend. Das ist Menschenschicksal und Menschenloos. Rother gehört zu jenen frischen, sprudelnden Naturen, die ihre Bahn sich erzwingen, die es hinaus drängt über Klippen und Gefahren hinweg, Tausende mit sich fortreißend durch ihre frische Kraft, Tausenden Labsal, Erquickung und Entzücken bereitend.«

»Und ich, Mutter?« fragte Hermann, von ihrem Gleichniß betroffen, und blickte wehmüthig auf sie.

»Die stillen Ströme sind oft die segensreichsten!« sagte die Mutter, ihres Sohnes Hand ergreifend. »Man muß sie nur vor dem Versanden hüten, mein Kind.«

Ehe an jenem Abend die Lichter in Schloß Burghof verlöschten, waren die Freunde wieder geeint; über der ersten Kluft, die sich zwischen ihnen geöffnet, reichten sie sich die Hände, ehe der Tag zur Neige gegangen.

»Wenn du einst nicht befriedigt sein solltest, dann denke stets, daß Burghof deine Heimath ist, von der aus du jeder Zeit von neuem beginnen kannst.« So sagte Hermann, mit der ihm eigenen Zähigkeit in der Möglichkeit einer Umkehr Trost suchend. »Dann kommst du stets hierher zu uns zurück.«

»Auch als verlumpter Musicus?« lachte Rother, der nun, nachdem er den Entschluß gefaßt, seine ganze Heiterkeit wieder gefunden hatte. »Aber eines will ich dir doch zum Troste sagen: immerhin werde ich noch ein Jahr in Bornstadt festgehalten, denn jene Stelle am Conservatorium wird erst um nächste Ostern frei. Jene von dir so gehaßten Musikstunden haben aber ihr Ende erreicht. Fräulein Daniella wird Bornstadt jetzt wohl schon verlassen haben. Auch sie soll noch auf hohe Schulen für einige Zeit, um ihrer Bildung willen, wie Veitel mir sehr wichtig angekündigt hat. Du siehst, wir thun alle einen neuen Schritt auf unserer Lebensbahn.«

»Ich wollte, kein einziger der ihrigen hätte unsern Weg gekreuzt,« brummte Hermann im Hinausgehen. Im Grunde seines Herzens machte er Daniella allein verantwortlich für den Gesinnungswechsel seines Freundes.


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