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Echt Ingolstädter Originalnovellen

Ein Pfund Orangen und neun andere Geschichten der Marieluise Fleisser aus Ingolstadt. Berlin: Gustav Kiepenheuer Verlag 1929. 208 S.

Wenn die Marieluise Fleisser Novellen schreibt und auf den Titel setzt »Marieluise Fleisser aus Ingolstadt«, so kann das schon Koketterie sein, aber eine sehr wissende und die ihre Mittel kennt. Vor allem ist es bestimmt nicht Ressentiment. Diese Frau bereichert unsere Literatur um das seltene Schauspiel ganz unverbohrten provinzialen Stolzes. Sie hat einfach die Überzeugung, daß man in der Provinz Erfahrungen macht, die es mit dem großen Leben der Metropolen aufnehmen können, ja sie hält diese Erfahrungen für wichtig genug, um ihre Person und ihre Autorschaft an ihnen zu bilden. Die Denkungsart, in der sie das tut, gibt ihr allen Anspruch auf Beachtung und Dank. Denn wer sich unter der provinziellen Literatur in Deutschland umsieht, erkennt: Sachwalter des Landschaftlichen und Stämmischen sind beinah immer verstockte, reaktionäre Geister. Man kann aber auch mit den wenigen Ausnahmen, mit Hermann Stehr, dem Schlesier, Alfred Brust, dem Ostpreußen, die Fleisser nicht in eine Reihe stellen. Die Formel würde nicht auf sie passen. Ein Mann wie Brust sucht die Enge der Umwelt durch eine oft sehr gewaltsame Weitung der Innenwelt auszugleichen.

Dichtungen dieses Schlages unternehmen ihre Sache auf eigne Faust und hinterm Rücken dessen, was in Europa vorgeht. Marieluise Fleisser ist nicht weniger stolz aber disziplinierter. Sie pfeift auf Anschluß, aber sie bemüht sich um Einordnung. Ihre »Pioniere in Ingolstadt« haben gezeigt, mit welchem Glück sie verstanden hat, die unliterarische, aber keineswegs naturalistische Sprache, die Leute wie Brecht heute suchen, in Anlehnung an den ebenfalls gar nicht naturalistischen Volksmund zu schaffen. Ihr neues Buch geht in Richtung auf diese Sprache einen Schritt weiter. Sie spricht sie nicht mehr als dramatischer Autor in ihren Personen, sie nimmt sie in die Sprache ihrer Epik auf, solidarisiert sich mit ihr. Man höre: »Aber gerade dann hat der Herr seinen Kaffee immer so interessant gefunden, er tauchte förmlich hinein mit starren angewärmten Augen und war von der Güte des Getränks überzeugt.« »Der Mann merkte was und legte sich weg.« »Mit der Gelegenheit langten wir an dem bewußten Kreuzweg an, wo sich mein Fräulein zum erstenmal von mir trennen wollte. Und so lang, wie die Nacht war, wenn wieder so ein Abschied kam, habe ich mir jedesmal die Stelle mit Bezug auf mein Fräulein gemerkt, es war hinterher eine ganze Sammlung.« Die Fleisser hat am Sprachkleid überall die Spuren der Ingolstädter Mauern, die sie streifte. »Mensch, Du hast woll die Wand mitjenommen«, sagt der Berliner, und das wäre ihr höchstes Lob. Sie hält wirklich nicht Abstand und streift, daß es schon mehr ein Rempeln ist, an den Dingen hin. So aggressiv und störrisch sie an die Sachen herangeht – ungeschickt ist sie dabei nur scheinbar. Ja der aufsässige Dialekt, der die Heimatkunst von innen heraus sprengt, ist nur die eine Seite des sprachlichen Könnens, das in diesen Novellen steckt. Es gibt da nämlich noch eine Verstiegenheit, die flüchtigen Lesern als Restbestand eines provinziellen Expressionismus erscheinen könnte, in Wahrheit aber, und mindestens außerdem, etwas Anderes und Besseres darstellt: die namenlose Verwirrung nämlich, mit der das volkstümliche Sprechen sich auf den Weg macht, die Stufen der sozialen Redeleiter hinanzuklimmen, das »feine«, »gehobene« Deutsch der herrschenden Klassen zu sprechen. Diese Verwirrung, diese hochstaplerische Schlichtheit, ist hier ein Kunstmittel ersten Ranges geworden. Die Verfasserin hat diese Sprachgebärde als das erkannt, was sie ist, als soziale Zauberei, linguistischen Fetischismus, bestimmt durch eine Reihe von Beschwörungsformeln die Wände weichen zu machen, die sich zwischen den Klassen erheben. Und diese Rudimente von Magie im Sprechen geben den gekuschten, ausgepowerten Existenzen, die im Mittelpunkt dieser Erzählungen stehen, der »armen Lovise« oder dem Maurergesellen vom »Abenteuer aus dem Englischen Garten« das Faszinierende. Für die Verfasserin lauert da aber eine Gefahr. Wenn sie »Gott« sagt, wozu im Laufe dieser Erzählungen mehr als einmal Anlaß ist, gibt es Sätze wie den: »Gott hängte seine Fahne über sie, auf der der Name stand dieser Kreatur: Girl.« Und das ist vielleicht noch sehr gut, deutet aber doch an: dies Deutsch ist für Epik eine zu schmale Basis. Hier ist noch eine letzte Beschränktheit zu brechen, damit auf so viel mutiges dichterisches Experimentieren die reine Leistung folge. Kommt sie zustande, dann werden wir an den Schriften der Fleisser nicht nur vollkommene, sondern pädagogisch höchst brauchbare Stücke haben, und die Johanna Spyri einer eisenfresserischen Jugend in ihr begrüßen.


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