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Fjodor Gladkow, Zement.

Roman. (Aus dem Russischen übertr. von Olga Halpern.) Berlin: Verlag für Literatur und Politik (1927). 464 S.

Gladkow hat in Rußland Epoche gemacht. Sein Hauptwerk »Zement« war der erste Roman aus der Periode des Wiederaufbaus. Alsbald wurde die Umwelt, die er darin aufstellt, Schauplatz; von der Prosa aus eroberte sie die Bühne, auf der »Zement« sich nun seit Monaten behauptet. Dramatische Versionen erfolgreicher Stoffe sind in Rußland nichts Seltenes. Aber nie hat dergleichen nähergelegen als hier. Denn der Roman hat seine Höhepunkte im Dialog. Er brachte den Argot der Bolschewiken in die Literatur ein. Diese sprachliche Leistung ist es, die – noch bedeutungsvoller als die stoffliche – den informatorischen Wert des Buches ausmacht. Mit ihr erfährt der Leser in dem Medium einer seltenen vollendeten Übersetzung, welche Umgangsformen und welche Sprache, welches Zeremoniell und welche Debattierkunst sich in der Praxis der Kongresse und der Kommissionen ausgebildet hat. Er lernt zu gleicher Zeit die Typen kennen, die der Befreiungskampf der Proletarier hat entstehen lassen. Weiß Gott nicht samt und sonders Führertypen; Menschen, die von der Macht, die ihnen zufiel, im Denken und im Sprechen wie durch einen Schlaganfall betroffen wurden; finstere Bürokraten, die verschlagen in ihrem Paragraphenbau wie Füchse hausen; Agitatoren, die an Ideenflucht leiden; Geheimagenten, deren Wirksamkeit auch ihnen selber Geheimnis bleibt – dazwischen aber junge Funktionäre, die jeden Augenblick bereit sind, nicht allein das Leben, sondern den Tag, die Stunde, die Minute restlos in das vollziehende Organ des höheren Willens, wo immer er sie ansetzt, zu verwandeln; Fanatiker, die nichts versprechen, nichts von sich verraten und schweigsam, unvermutet immer an der exponiertesten Frontstelle auftauchen; Erneuerer, die dem proletarischen Programm kraft ihres revolutionären Selbstgefühls auch gegen Komitees und Sowjets zum Siege verhelfen. Von solchem Schlage ist die Hauptperson: der Rotarmist, der in die Heimatstadt am Schwarzen Meer, nachdem er an der Front des Bürgerkriegs gefochten hat, zurückkehrt. Der wirtschaftliche Schlüssel dieser Stadt ist das große Zementwerk, das stilliegt, vermodert, die ganze Stadt in seinen Verfallsprozeß mithineinreißt. Es ist der eine Mann, der dieses Werk in Monaten eines erbitterten Ringens, das bald das Lager der Genossen in zwei Teile teilt, wieder in Gang setzt. In der gleichen Zeit geht seine Frau ihm verloren. Niemand wüßte zu sagen, warum. Daß die Arbeit sie der Familie entfremdet – und sie ist eine unvergleichliche Arbeiterin – das wird zwar, und von ihr selber, erklärt. Daß aber diese Erklärung dem Leser nichts sagt, das dankt er einer Darstellung von dem Verhältnis dieser beiden Menschen, an deren unkonstruierbarer Wahrheit jegliche Ableitung zunichte wird. Hier hat eine große Erfahrung sich gültig gestaltet: nicht nur die Bindung, auch die Entfremdung der Gatten hat kanonische Formen, die mit den Zeitaltern sich verändern und oft, so unaussprechlich wie die Liebesformen selber, die Züge dieses ihres Alters tragen. Allmählich prägt sich, anders als die aufgeklärten Philanthropen es erwartet haben (wie für Rußland, so auch für Europa), das wahre Antlitz einer Emanzipation der Frau. Wenn wirklich die Befehls- und Herrschgewalten weiblich werden, dann wandeln sich diese Gewalten, wandelt das Weltalter, wandelt das Weibliche selber sich. Wandelt sich nicht ins vage Menschliche, sondern es schickt sich an, ein neues, ein rätselhafteres Antlitz erstehen zu lassen: ein politisches Rätsel, wenn man so will, ein Sphinxgesicht, mit dem verglichen alle Boudoirmysterien verbrauchten Scherzfragen ähnlich sehen. Dieses Gesicht ragt in das Buch hinein. Es wäre eine große Dichtung, wenn der Autor aus diesem Bild es hätte wachsen lassen. Aber einen epischen Brennpunkt besitzt es nicht. Der Kampf des Mannes um die Wiederherstellung des Zementwerks ist weniger das innere Gerüst des Vorgangs als Leitfaden durch eine bilderreiche Vielfalt der Ereignisse. Mit anderen Worten: die Spannung dieses Kampfes bleibt äußerlich, sie wird nicht zum zentralen Kraftfeld des Geschehens. Um sie zu dem zu machen, hätte das alles eines weiteren Raumes, eines freieren Panoramas bedurft. Meeresprospekt und Berge schließen falsch und idyllisch den Horizont. Eine Zementfabrik kann episch nicht gegen einen landschaftlichen, nur gegen ihren wirtschaftlichen Hintergrund profiliert werden. Hier steht sie im Raum einer Miniatur. Diese Schwäche der Konstruktion setzt sich deutlich im Schluß durch. Der typische Effekt, die Apotheose, mit der so viele russische Romane die offizielle Geltung sich zu sichern suchen, entstellt ein Werk, in welchem der Primat des Politischen so energisch sich durchgesetzt hat, daß seine äußerliche Bekräftigung nachhinkt. Es könnte allerdings nur einer, der nichts von den Bedingungen russischen Schrifttums weiß, von solchen Unsicherheiten viel Aufhebens machen. Ehe hier neue Formen ihre neue Sicherheit bringen, sind noch viele Versuche fällig. Mit Boris Pilniaks »Nacktem Jahr«, Konstantin Fedins »Städten und Jahren« (die deutsche Ausgabe des letzteren wird vom Malik-Verlag vorbereitet) gehört Gladkows »Zement« zu den entscheidenden Werken der neuen russischen Dichtung. Für den, der sie verfolgt, ist – ganz besonders, wenn er nur das im Deutschen zu tun vermag – seine Kenntnis durch nichts zu ersetzen.


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