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Herrn Dr. Walter Benjamin, Berlin
Göttingen, den ...
Sehr verehrter Herr Doktor!
– – – Die Existenz der Pensieri-Übersetzung von Gustav Glück und Alois Trost im Verlage von Reclam ist mir tatsächlich entgangen, und ich bin durchaus geneigt, der verdienten Reclam-Sammlung die Ehre zu geben, die ihr gebührt. Meine Übersetzung der »Pensieri« Leopardis »Pensieri«, übertragen von Dr. Richard Peters, im Fackelreiter-Verlag. Besprochen in der »L[iterarischen] W[elt]« vom 18. Mai 1928 von Walter Benjamin, der die Mangelhaftigkeit der bibliographischen Angaben getadelt hat. ist bereits im Jahre 1921, also vor Erscheinen der anderen Übersetzung, begonnen worden; daß ich sie erst jetzt publizieren konnte, hat seinen Grund in den Schwierigkeiten, für derartige Arbeiten einen Verleger zu finden. – Wenn auch meine bibliographischen Bemerkungen nicht den Anspruch auf Vollständigkeit machen, so haben Sie gewiß ein gutes Recht zu bemängeln, daß ich die gewiß verdienstliche Publikation von Glück und Trost nicht gekannt und nicht genannt habe. Doch diese Übersetzung, die ich nunmehr eingesehen habe, gibt meines Erachtens einige der wichtigsten Stellen der Pensieri recht entstellt wieder (z.B. in 104: »i giovani ... si fanno ribelli agli educatori« mit »bäumen sich auf gegen die Erzieher« und »avrebbero potuto regolarlo« mit »den jugendlichen Ungestüm im Zaume zu halten«), und sie läßt auch ganz im allgemeinen in Satzbau und Sprachstil den typisch italienischen Charme von Leopardis Sprache vermissen. – Sie verwenden, sehr verehrter Herr Doktor, für ein kleines Versehen von mir ganze 17 Zeilen und finden nicht ein einziges Wort der Stellungnahme oder Kritik für meine Übersetzung. Darin kann ich nicht eine loyale Art der Buchbesprechung erblicken. Dies ist mir um so schmerzlicher, als ich für Sie persönlich wie für Ihr literarisches Schaffen nach wie vor die allergrößte Hochschätzung bewahre und ich jedem Ihrer herrlichen Worte über Leopardi selbst zustimmen kann. Vielleicht finden Sie selbst es berechtigt, wenn ich Sie bitte, mit einigen kurzen Worten in der »L[iterarischen] W[elt]« noch einmal auf das Neue und Eigene meiner Übersetzung zurückzukommen.
Ich verbleibe in vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener
Dr. Richard Peters
Berlin, den...
Sehr verehrter Herr Doktor Peters,
Ihre Zeilen möchte ich um so lieber beantworten, als sie zwei Fragen von grundsätzlichem Interesse aufwerfen. Die erste Frage will ich so formulieren: Wie ist eine bibliographische Notiz zu bewerten, die – das ist der Fall der Ihren – die einzige einschlägige Arbeit, die es auf ihrem engsten Gebiete gibt, übersieht? Bevor ich antworte, eine naheliegende Einrede: »Eine Übersetzung ist keine wissenschaftliche Arbeit. Dem Leopardi-Übersetzer, der in Unkenntnis der Arbeit eines Vorgängers ist, kann daraus ebensowenig ein Vorwurf gemacht werden wie einem Romancier, der ein Buch über die Zeit Karls des Großen schriebe, es vorgehalten werden dürfte, wenn ihm ein wichtiges Buch über Karl den Großen entgangen wäre.« Auf diese naheliegende Einrede würde die naheliegende Ausrede lauten: so sei es wohl bei Versübersetzungen, nicht aber bei Prosaübersetzungen zumal philosophischer Schriften. Aber in eine solche Argumentation möchte ich mich nicht einlassen, sondern lieber klar und deutlich aussprechen: Eine Übersetzung ist eine Arbeit, die neben gewissen anderen Maßstäben auch denen der Wissenschaft genügen muß. Sie ist eine der gar nicht wenigen Disziplinen, die Wissenschaft auf die Kunst anwenden, genau so wie andere sie für die Industrie und die Architektur verwerten. In all solchen Fällen entsteht eine Technik, die strengen wissenschaftlichen Gesetzen unterliegt, um selber außerwissenschaftlichen Gebilden zu dienen. Übersetzen von dieser Seite gesehen, ist eine philologische Technik, die ihre Hilfswissenschaften hat. Die Bibliographie ist eine von ihnen. Und zwar steigt deren Wichtigkeit mit dem Steigen der Buchproduktion. Nun gibt es Weniges, was für die kritische Lage der Wissenschaft so durchaus charakteristisch ist wie der Umstand, daß dieser steigenden Wichtigkeit der Bibliographie ihre sinkende Beachtung seit Jahren parallel geht. Der Fall Ihrer Leopardi-Übersetzung – Unkenntnis der Glückschen Übersetzung, die einen großen Teil des von Ihnen Geleisteten schon Ihrerseits und gestatten Sie mir, trotz Ihrer Rüge dabei zu bleiben, nicht schlechter geleistet hat – war im Sinne solcher Überlegungen bezeichnend und wert, hervorgehoben zu werden. Ich improvisiere hier nicht, sondern bin bereits früher an ganz anderer Stelle und mit ganz anderem Nachdruck auf diese Dinge zu sprechen gekommen. Siehe Literaturblatt der Frankfurter Zeitung 1928, Nr. 9. Und ich werde weiterhin hierin um so aufmerksamer verfahren, je weniger nicht nur die Autoren, sondern auch die Rezensenten gemeinhin Lust haben, mit diesen Dingen sich aufzuhalten. Gegenständliche Arbeit in allen Ehren. Die Bibliographie ist gewiß nicht der geistige Teil einer Wissenschaft. Jedoch sie spielt in ihrer Physiologie eine zentrale Rolle, ist nicht ihr Nervengeflecht, aber das System ihrer Gefäße. Mit Bibliographie ist die Wissenschaft groß geworden, und eines Tages wird sich zeigen, daß sogar ihre heutige Krisis zum guten Teile bibliographischer Art ist.
»Nun«, sagen Sie und stellen damit die zweite Prinzipienfrage, »ein Rezensent, der es so genau mit dem Bibliographischen nimmt, wird es doch wohl mit der Übersetzung ebenso halten müssen. Sie aber bringen über die meine kein Wort.« Beides ist richtig. Die Erklärung ist einfach. Die große Mehrzahl aller Übersetzer hat keine andere Absicht, als ein fremdsprachliches Buch dem deutschen Leser zugänglich zu machen. Dabei handelt es sich oft genug um wertlose Sachen. Der Kritiker sagt sein Wort, indem er das feststellt. Keiner wird ihm zumuten, eine solche Übersetzung auch noch durchzusehen. Umgekehrt liegt der Fall bei Ihrem Leopardi. Hier ist das Werk von überragendem Interesse; die Übersetzung, in der es vorliegt, eine ausgeglichene, unproblematische Arbeit. Durch die Druckanordnung machte ich kenntlich, daß diese Rezension im Hauptteil sich ausschließlich um Leopardi drehe (wie die unmittelbar ihr folgende ausschließlich um George Moore) und schickte die bibliographische Bemerkung als eine Art von Postskriptum nach. Die intensive Teilnahme, wie sie hier Ihrem Autor gewidmet wurde, ist immer noch zugleich eine Reverenz an den Übersetzer gewesen. Ganz anders steht es mit einer dritten Klasse von Werken, an denen die Übersetzung als Wagnis, als gefährliches Kunststück sich darstellt. Ein Typus dieser Klasse war der deutsche Proust, der von verschiedenen Autoren, zuletzt von Franz Hessel und mir, vorgelegt wurde. Derartigen Arbeiten gegenüber wird man das Schweigen des Rezensenten problematischer empfinden. Aber auch damals haben angesehene Zeitschriften, wie die »Literarische Welt« und die »Weltbühne«, ausführliche Kritiken gebracht, die sich ausschließlich mit dem Originalwerk beschäftigen. Solange eben ein internationales Fachblatt für Übersetzungen, das dringend zu wünschen ist, aussteht, wird in den meisten Fällen der Grundsatz Qui tacet consentire videtur sein Recht behalten. Damit möchte ich Ihnen, sehr verehrter Herr Doktor, die Meinung meiner Besprechung verdeutlichen, die, ich bin davon überzeugt, deren Leser schon lange richtig erfaßt hatten, indem sie mit Vertrauen zu Ihrer Ausgabe griffen.
In vorzüglicher Hochachtung
Ihr sehr ergebener
Walter Benjamin