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»Adrienne Mesurat«

Julien Green, Adrienne Mesurat. Paris: Plon 1927. 355 S.

Der hervorragende Pariser Romancier und Chronist Paul Léautaud hat einmal gesagt: »Die Bücher, die zählen, sind von Anfang bis zu Ende in gleichem Ton ohne Paradestücke und effektvolle Stellen geschrieben. Paradestücke und effektvolle Stellen sind ein Merkmal minderwertiger Bücher.« Die homogene Schlichtheit der Erzählung kann nicht weiter getrieben werden, als es der junge Julien Green in seinen beiden ersten Romanen getan hat. Nun wissen wir alle, daß nichts schwerer ist als solch schwellen- und nuancenloses Berichten. Und diese Schwierigkeit ist wahrhaftig keine stilistische. Man versteht Green sehr gut, wenn er sagt, daß ihm Stil etwas ist, was er haßt. Stil ist in seinem Sinne ein Kunstgriff, dem Ärmlichen, Banalen der Erfahrung und des Gedankens einen Anflug von Originalität zu geben. Je weniger forciert, je schlichter und faßlicher dagegen ein Bericht ausfällt, desto dichter und außerordentlicher muß die Welt sein, aus der er stammt. Andernfalls wird er bei aller Sachlichkeit nur um so nichtiger wirken. Kurz: Schlichtheit, um zu bestehen, muß auf den Grund der Dinge vordringen. Ein oberflächlicher Naturalismus mag stilisiert zur Not wie etwas Lesbares aussehen. (Beispiele würden Seiten füllen, und nicht mit den schlechtesten Namen.) Aber ein Werk von der sprachlichen Nüchternheit der »Adrienne Mesurat« muß aus der metaphysischen Grundschicht des Wirklichen stammen, um Gehalt und Bedeutung zu haben.

Wirklich ist der Roman dem Naturalismus niemals ferner gewesen als in diesem Werk. Eben daher dessen innere Wahrheit, die in der Kunst der äußern immer widerspricht. Kunst heißt die Wirklichkeit gegen den Strich bürsten. Sie glätten und polieren ist Tapeziererarbeit. Wie eines aus dem andern in »logischer Folge sich abrollt«, wie die Menschen »so lebenswahr und so plastisch geschildert sind« – kleinbürgerliche Polsterkünste. Aber die Kunst ist hart. Sie will nicht »eins aus dem andern« entwickeln, sondern vieles aus wenigem. Sie läßt uns wie das Russische Theater Meyerholds in den Schnürboden der Leidenschaften hineinsehen und zeigt das simple, zackige Räderwerk: Einsamkeit, Furcht, Haß, Liebe, Trotz, das hinter jedem Geschehen steht. Und nicht als »psychologische Motive« bewegen diese Gewalten die Handelnden: sie schaffen sich in ihrem Schicksal Ausdruck.

Greens Abstand von dem üblichen Typus des Romanciers ist in der Kluft zwischen Vergegenwärtigung und Schilderung einbegriffen. Green schildert die Menschen nicht, er vergegenwärtigt sie in schicksalhaften Momenten. Das heißt: sie gebärden sich ganz so, wie wenn sie Erscheinungen wären. Adrienne Mesurat, die im Staubwischen innehält, um Familienporträts zu betrachten, der alte Mesurat, der sich den Bart streicht, Madame Legras, die mit Adriennes Kette das Weite sucht – so und nicht anders wären jede ihrer Gebärden, wenn sie als arme Seelen jenseits des Grabes diese Augenblicke von neuem durchleben müßten. Diesen Blick in die trostlose Stereotypie aller schicksalhaften Momente hat Green nur mit Einem gemein. Es ist derselbe Blick, den Pirandello auf die sechs Personen wirft, die ihren Autor suchen. Der gleiche Blick, nur aus dem unbeweglichen, leidenschaftslosen Auge des nordischen Menschen. Aus einem Malerauge dazu. Dieser gebürtige Amerikaner war bis zu seinem dreiundzwanzigsten Jahre Maler. Dann schrieb er in fünf Monaten seinen ersten Roman »Mont-Cinère«. Probeweise, wie er sich ausdrückt und beinah mit der Gewißheit, auf völlige Interesselosigkeit zu stoßen.

»Meine Neigung geht dahin, mir auszusinnen, was mir am fernsten liegt. Was nicht ausgedacht ist, ist wertlos für mich. Und ich wäre nicht fähig, den mindesten Straßenunfall, den ich als Augenzeuge erlebte, wiederzugeben.« Das stimmt durchaus zu dem seltsamen Eindruck, der allen Werken des Dichters eignet. Trotz ihrer präzisen Details, ihrer drastischen Katastrophe geben sie denn doch das Gefühl, es könne, ja vielleicht es müsse einer sie geschrieben haben, der fast nichts, geschweige denn solches erlebte. Und schlimm genug, wenn es paradox klingt: aber nur die lautersten, gewaltigsten Werke können solchen Eindruck im Leser wecken. (Oder sehen vielleicht »Don Quichote«, »Krieg und Frieden« im entferntesten Sinne erlebt aus?) Aber das Befremdliche geht, in gleicher Richtung, noch weiter. Wie dieses Werk – »Adrienne Mesurat« – nicht Erlebnissen sondern einer Vision entstieg, so ist es auch nicht zeitgemäß im Sinne der Heutigen, vielmehr ein unscheinbares und freilich um so wesentlicheres Beweisstück in einem historischen Prozeßverfahren, das noch gar nicht eröffnet wurde. »Adrienne Mesurat« gehört gleich Stendhals Romanen einer Gattung von Werken an, deren Aktualität im Zeitpunkt ihres Erscheinens latent ist, so daß kaum einer sich ihrer versieht, und erst im Licht des Nachruhms erkennbar wird, wodurch sie das Innerste ihrer Epoche bekunden. Alles an dieser Erzählung von den primitiven Kräften im Menschen bis zu den nicht minder ursprünglichen seiner Umwelt scheint derart zeitlos, daß wir uns kaum vorzustellen vermögen, man werde später auf den ersten Blick erkennen, sie sei heute geschrieben. Es sei denn – um zum Schluß das Grundmotiv wenigstens anzuschlagen –, wir gestehen uns ein, daß die Vision der Liebe, die es beherrscht, in der Tat nur heute aufsteigen konnte: eine Gestalt zwischen Scheuerweib und Erinnye, wie sie den feuchten Lappen, den Menschenleib, solange in ihren gewaltigen Händen wringt, bis der letzte Tropfen Leben aus ihm herausfloß.


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