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Die dritte Freiheit
Zu Hermann Kestens Roman »Ein ausschweifender Mensch«

Hermann Kesten, Ein ausschweifender Mensch. (Das Leben eines Tölpels.) Roman. Berlin: Gustav Kiepenheuer Verlag 1929. 226 S.

»Frei wozu?« fragte Nietzsche und riß damit die Dialektik der Freiheit auf. Er glaubte, die anarchistische Thesis, das »Frei wovon?« zu zerschlagen. Aber er gab ihr nur die Antithesis. Und erst die dritte, die synthetische Figur der Freiheit löst den Zwiespalt und gibt damit der ersten ihr Recht zurück.

Nicht diese dritte, nur die erste, simple, undialektische, anarchische Freiheit meint Lenin, wenn er schreibt: »Die Freiheit ist ein bürgerliches Vorurteil.« Kesten hat diesen Satz zum Motto genommen. Er ist nicht an den Haaren herbeigezogen, das muß man ihm lassen. Josef Bar – so heißt der »ausschweifende Mensch« – soll nämlich ins Gefängnis. Und nun klammert er sich an das besagte bürgerliche Vorurteil mit aller Kraft. Mißbilligend schaut der Autor ihm dabei zu.

Das ist der Aufriß des überaus ironisch verschachtelten Geschehens, das Kesten vor uns aufbaut. Da haben wir also erstens die Freiheit in ihrer ganzen aufregenden, unerhellten Vieldeutigkeit, zweitens in seiner ganzen gottgewollten Schäbigkeit den Helden, zuletzt in seiner ganzen produktiven Unverschämtheit den Verfasser, der hier auf gut romantische Weise zum Personal des Buches gehört, um bald sich dumm zu stellen, als ginge ihn das Ganze nichts an, bald ungeschickt, als sei es nicht seine Schuld, wenn sein Held sich an allen Ecken und Enden kompromittiert.

Es ist so, wie es dasteht, ein eingreifendes Werk, das, wo es darauf ankommt, scharf ins Zeug geht, und uns von Dingen und in Worten unterhält, die gelten. »Er war frei. Er hatte Geld.« Das ist eine Sprache, die zu Herzen geht und die Debatte mehr fördert als alles überalterte Geschwätz von innerer Freiheit. Wie sehen nun aber so befreiende Summen bei Kesten aus? Gesetzt, es seien 47 Mark und 74 Pfennig, die der Held einem Anwalt für seine Beratung entrichtet. »Es waren drei Fünfmarkscheine in Papier, ein Zwanzigmarkstück mit dem Bildnis Kaiser Wilhelms II., Brustbild mit Helm, Bar sah es genau, zwölf Mark in Silber, vier Talerstücke nämlich mit Bildern verschiedener deutscher Potentaten geschmückt, sieben Nickelzehner und vier Kupferpfennige.« Man sieht, hier trifft der Blick der neuen Sachlichkeit mit außerordentlichem Nachdruck die Stelle, wo die Welt mit Brettern vernagelt ist. Der Nahblick, das erstaunliche Organ der großen Satire, hat nicht nur hier, nicht nur bei diesem Autor, seit kurzem etwas Glotzendes bekommen.

Das darlegen, es in seinen Ursachen entfalten, hieße, den ideologischen Standort der ganz neuen deutschen Satire bezeichnen. Zugleich, den jähen Aufschwung dieser Gattung erklären. Sie stellt mit derart grund- und wertverschiedenen Geistern wie Polgar, Kästner, Mehring, Peter Panter, Kesten eine sehr spezifische Haltung der Intelligenz dar und was an ihr bezeichnend ist, sagt die Konfrontation mit dem einzigen Karl Kraus. Es ist die Selbstironie des Intellektuellen, die in dem Augenblick aufhörte, billig zu sein, da sie zum Eingeständnis seiner ausweglosen Lage wurde. Von Tucholsky stammt die abschließende Formel: Der deutsche Intellektuelle steht immer etwas links von sich selber.

Kestens Verhältnis zu seinem Helden ist die beste Illustration dieses Satzes. Es geht nicht weiter. Es rückt und rührt nicht. Und dafür hatte der Autor im ersten Band dieser Josefs-Geschichte einen virtuosen formalen Ausdruck gefunden. Dort spielte sich für den Helden das ganze Geschehen an einem einzigen Tag ab. Diesmal durchmißt er eine längere Spanne. Er erlebt viel Abenteuer. Mit den Behörden, mit den Mädchen, mit dem »Popanz Freiheit« vor allem. Was ihm fehlt, hier wie im ersten Bande, hier noch mehr, das ist der Segen des Autors. Die Skala seiner Titulaturen allein muß ihm verraten, wie sehr der ihn en bagatelle behandelt. Hier nennt er ihn einen Mann von rascher Auffassungsgabe und anderswo einen halben Jungen, wenn er schlecht gefrühstückt hat, einfach Herrn Bar, und wenn er leutselig sein will, den Jüngling Josef.

Man muß es Kesten nachsagen: diese Schnödigkeit der Diktion feit ihn gegen alle Arten von Stimmung. Das Buch ist wundervoll ventiliert. Seinem Leser ergeht es wie in Rohbauten, wo man treppauf, treppab klettern kann, ohne je aus der frischen Luft und der ungeschwächten Tageshelle herauszutreten. Der Autor aber scheint hier nicht selten eben die Freiheit sich zu erlauben, die er seinem Helden verekeln will. In seiner Ironie ist ein Einschlag von Verantwortungslosigkeit.

»Jeder Satz ein Meisterwerk, jede Seite musterhaft, jedes Kapitel ein Genuß, das Ganze passabel.« So sagte vor Jahren Ernst Rowohlt von einem nun leider verschollenen Buch seines ersten Verlags, Philipp Kellers »Gemischten Gefühlen«. Nicht nur im Titel eine Verwandtschaft mit Kestens Buch, die sich ausspinnen und an Niveau und Haltung bewähren ließe. Das tut nichts zur Sache. Wohl aber, daß in Kellers Buche noch deutlich der wahre Ursprung dieser gesamten Kritik der Freiheit zu spüren ist. Nämlich Flaubert.

Schon Flaubert hat den Illusionscharakter dieser Freiheit durchschaut. Vieles hat sich seit der »Education Sentimentale« geändert. Die Tränenfeuchte über diesen unvergeßlichen Seiten hat sich zu Lachgas verflüchtigt. Aber noch diese neueste Kritik der Freiheit bleibt an das Schema des Erziehungsromans, sein individuell-anarchisches Experiment gebunden. Frei wovon? Gewiß und unbedenklich: von allem! Und da steht die Chimäre zur Rechten. Frei wozu? Gewiß und noch einmal: zu allem! Und da steht sie zur Linken. Die dritte Freiheit erst sprengt das Reich der spekulativen Ethik. Und sie gehorcht der Frage: Frei mit wem?

Wir stellen sie an Kestens Held, der am Ende des zweiten Buches als entschlossener Rebell, wie der Autor versichert, das Gefängnis verläßt. Wird er die Antwort finden: »Mit Allen!« Wird er erkennen, daß der Klassenkampf sie vollzieht? Kommt da mit seinem Josef eine der seltenen deutschen Romanfiguren herauf, die zum Mann werden?


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