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Gaston Baty, Le masque et l'encensoir.

Introduction à une esthétique du théâtre. Préface de Maurice Brillant. Paris: Librairie Bloud et Gay 1926. 328 S.

Die erste Bewegung zur Erneuerung des französischen Theaters, der erste praktische Protest gegen das Boulevard-Theater ging vor zehn Jahren von Jacques Copeau aus. Er gründete das Théâtre du Vieux Colombier, das in puritanischen Aufführungen dem Ziele nachstrebte, die Dichtung als solche, ohne Einmischung fremder Elemente auf die Bühne zu bringen. Copeau konnte sich in Paris nicht halten. Er wollte das Theater zähmen anstatt es zu bändigen. Bändigen hat in jedem Falle den ganzen Reichtum und die ganze Wildheit der ursprünglichen Natur zur Voraussetzung, arbeitet geradezu mit ihr. Ihr gegenüber zeigte Copeau sich spröde. Baty hat sie zu seinem Element gemacht. Nach schweren Jahren ist er durchgedrungen und heute als Direktor des Studio des Champs Elysées der anerkannte Führer des Theaters der Avantgarde. Noch ist seine Bühne klein, aber es wird eine Frage kürzester Zeit sein, ihn als Direktor einer der großen zu sehen. Was er jetzt in winzigem Raume zustande bringt ist ein Wunder. – Baty steht mit seinen theoretischen Überzeugungen an der Spitze derjenigen Bewegung, die heute in allen Ländern Europas, besonders nachdrücklich in Rußland, die Reorganisation des Theaters eher von einer neuen Bühne, vom Regisseur, als von einem neuen Drama, vom Dichter, erhofft.

Die Praxis gibt dieser Schule recht. Wo ist die Phalanx der Dramatiker, die der von Regisseuren wie Meyerhold, Jessner, Martin, Reich, Baty entspräche? Der Niedergang des Theaters, hat einer von ihnen gesagt, beginnt mit dem Augenblick, da man das Drama als die hohe Kunstform ansah, der das Theater schlechterdings zu dienen habe. Kurz: mit der Herrschaft des Dramas übers Theater, die das neunzehnte Jahrhundert gebracht hat. Dem entsprach der Primat des gesprochenen Wortes in der Regie. Er ist es, gegen den mit aller Entschiedenheit Baty sich auflehnt. Er hat den Stumpfsinn des Boulevard-Theaters darin erkannt, daß alle Mimik, jede Geste nur Wiederholung des gesprochenen Wortes darstellt. Demgegenüber erhebt er die Forderung: Wort, Geste, Bühnenbild haben sich nicht zu decken, kaum zu schneiden. Das Leben der Szene hängt daran, daß jedes für sich zum Ausdruck bringt, was unter allen andern einzig und allein es zu verkörpern im Stande ist. Im Kampfe gegen die philiströse, rationalistische Herrschaft des Wortes wurde die Losung vom »Theater des Schweigens« geprägt, dessen bedeutendster Autor Jean-Jacques Bernard ist. »Martine« ist ein Drama, in dem auf langen Strecken das Wort brach liegt, um später um so besser Frucht zu tragen. Ist der Primat des Wortes einmal beseitigt, so fällt von selber der der Literatur.

Theater und Drama bilden überall da, wo sie auf der Höhe der Kraft stehen, in der Antike, bei Shakespeare, im spanischen Barock untrennbar Eines, Ganz ebenso aber im Mittelalter. Das darzulegen ist die Absicht von Batys Schrift. Es gibt die Analyse des Mysteriums vom Standpunkt des Regisseurs und findet in ihm Ecksteine einer Bühnenkunst, die heute auf den Trümmern des bürgerlichen Literaturtheaters mühselig neu erbaut werden muß. Baty, der seinem Stoff – und damit dem Katholizismus des geistlichen Schauspiels – sehr nahe steht, kommt aus den materiellen Notwendigkeiten heraus zu ganz ähnlichen Forderungen, wie sie die Bühne des neuen Rußland bestimmen. Und das will nur besagen, daß der revolutionäre Wille heute den konservativen dialektisch in sich enthält: daß er heute der einzige Weg zu den Dingen ist, als deren Hüter die Bourgeoisie schon längst zu Unrecht sich ansieht.


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