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Besorgt von Rudolf Borchardt. (München:) Verlag der Bremer Presse (1927). 524 S.
Die Anthologienfolge der Bremer Presse nimmt immer deutlicher einen großen, einheitlichen Charakter an, der zu fast allem, was es bisher in dieser Form gegeben hat, in den erfreulichsten Gegensatz tritt. Denn wenn der üblichen Blütenlese und Auswahl – mag sie sich popularisierend, modernisierend, ästhetisierend geben – immer das Odium der Plünderung, der unbefugten Ausbeutung eines jungfräulichen Bestandes bleibt, ruht auf diesen ein sichtlicher Segen. Sichtlich darin, daß diese Bände, was sie bringen, zu einer neuen Gestalt, einer Größe verbinden, die nun nicht im abstrakten Sinne »historisch«, sondern unmittelbares, wenn auch bedachteres, wehrhafteres Fortblühn des Alten ist. Was hier gewirkt wird, ist Wirkung des ursprünglichen Schrifttums selber, gehört in den Lebenskreis seiner Großen genau so hinein, wie Übersetzungen und Kommentare ihrer Schriften. Nichts dient an ihnen dem abstrakten Ungefähr der Bildung, und im gegründeten Bewußtsein davon spricht, hier zum ersten Male, Borchardt sich über den Geist dieser Sammlungen aus: »Sie sind nicht objektiv, wie man sagt, oder Aufreihungen von Objekten, ohne Zeit, ohne Stil, ohne Willen, und im Grunde ohne Anlass; Anlass und Zeit, Willen und Stil sind an ihnen unablässig im Stillen am Werke, sie sind ein Teil von ihnen. Wir übergeben der Nation, da wir als Söhne des neunzehnten Jahrhunderts an die Mächte der Persönlichkeit glauben, niemals Gegenstände gegenständlich, sondern immer und immer nur Bilder der Gegenstände bildlich, nur Formen, die der Gegenstand beim Durchgange durch den organischen Geist sich umwandelnd empfangen hat, und übergeben damit, in immer neuen Abwandlungen und Anwendungen, immer neue Bilder dieses organischen Geistes selber. Darum können diese Sammlungen sich nicht vorgenommen haben, mit irgend welchen sonst bestehenden zu concurrieren, und sie sind vielmehr mit ihnen überhaupt nicht zu vergleichen.« Sie sind Anthologien im höchsten Sinne, Kränze wie der des Meleager von Gadara, den wir, ob wir auch alle seine Blüten beim Namen nennen, uns nicht mehr aufgelöst zu denken wüßten.
Diese höhere Einheit außerhalb des Buches, in dem sie anschaulich ist, grundsätzlich, abgezogen zu vermitteln, das wäre freilich nicht, und am allerwenigsten für den vorliegenden Band, Sache eines gefälligen Improvisierens. Wie vier Hauptansichten des Erdkörpers, die sich im neunzehnten Jahrhundert den Deutschen erschlossen – die streng geographische, die naturwissenschaftlich beschreibende, die landschaftlich schildernde, die historische –, in diesem Buch sich verbinden, das zu entwickeln, hieße ein zweites schreiben. Hier muß durchaus genügen, auszusprechen, wie sich gewisse Stellen des Werkes untereinander wieder zu geistigen Landschaften zusammenschließen (deren schönste vielleicht gegen Mitte, wo Kleist, Immermann, Schinkel, Ludwig Richter und Annette von Droste einander folgen), ja wie das Ganze eine platonische Landschaft, ein topos hyperouranios ist, in dem anschaulich und als Urbilder Städte, Provinzen und vergessene Erdwinkel liegen.
Wie die Vorherrschaft von Allgemeinbegriffen als Verödung, so macht die von entwicklungsfähigen Anschauungen (Ideen) im Sprachlichen als Belebung sich fühlbar. Darum ist hier so wenig wie irgend sonst das geistesgeschichtliche Werk dieses Verlages von seinem literarischen trennbar. In diesem Bande, dessen sprachliches Niveau eine schwellenlose Hochebene darstellt, tritt doch die dichterische Prosa gegen die wissenschaftlich beschreibende, die wissenschaftlich konstruierende so sehr zurück, daß etwa unter all den erstaunlichen Stücken das großartigste die »Kurische Nehrung«, eine Heimatskizze des Juristen Passarge sein könnte. Gewiß durften hier jene Dichter nicht fehlen, die ihr Bild auf immer mit einer Landschaft verbunden haben, es sei denn, sie hätten wie Eichendorffs oder Jean Pauls ihren Kontur gegen den schwärmerisch glühenden Himmel verloren. Aber gerade ein Leser, der ganz von diesen vereinzelten Dichtererscheinungen absähe, dürfte sich fragen, ob die stilistische und sinnliche Sonderart französischer, englischer, italienischer Prosaisten ebenso klar gerade aus einem Landschaftsbuche herausträte, so klar, daß auch aus deren Texten wie aus diesen deutschen als Selbstporträt, schauenden Auges, vor einer feinen, hintergründigen Landschaft der Kopf des Schreibers selig und geruhig, und alle ihre Züge in den seinen sammelnd, hervortauchen würde? Muß es ihm nicht zu denken geben, wie durchaus heil die deutsche Reflexion über Landschaft und Sprache, wie hitzig die über Staat und Volk von jeher ausfiel? Und ist die allerorten offenkundige Verlassenheit der besten Deutschen, die einer gleichgestimmten Umwelt, einer volkhaften, gefügten Perspektive ins Vergangene entbehrten, vielleicht viel weniger Grund – so mag er sich fragen –, denn Ausdruck dieses strengen erfahrungssatten Daseins in der Landschaft?
Aber dies Buch wäre nicht streng über alle Exaktheit, nicht belehrend über alles Gelehrte, vor allem, es wäre kein deutsches, käme seine Fülle nicht aus der Not, wäre nicht jeder landschaftliche Umkreis, den hier Historiker und Forscher durchmessen, einem anderen, ihm aber nächstverwandten deutschen Typus als Bannkreis, als gefahrvoller, schicksalhafter Naturraum erfahrbar oder erlebt. »Deuter«, so spricht es Hofmannsthal, als er von diesem Ingenium und seiner leidvollsten, verhängnisvollsten Schickung handelt, einmal aus, »Deuter sind sie in ihren höchsten Augenblicken, Seher – das witternde, ahnende deutsche Wesen tritt in ihnen wieder hervor, witternd nach Urnatur im Menschen und in der Welt, deutend die Seelen und die Leiber, die Gesichter und die Geschichte, deutend die Siedlung und die Sitte, die Landschaft und den Stamm«. Das hat in seiner lichtesten Figur Herder und fünfzig Jahre später in seiner dunkelsten Ludwig Hermann Wolfram verkörpert. »Wie lockt Natur«, so verkündet der Pontifex seiner verschollenen Faustdichtung, »den geistdurchdrungnen Dichter«? » Strom wird der Bach, ergießend sich in Meerfluth / Wird niedre Blum' zur hohen Cactussäule, / Wird Weidenbaum zu Urwalds mächt'gen Riesen, / Wird Ginsterblüth' zur Riesenlotusblume.« So hat, vom kleinen deutschen Dorfbezirk bis zu dem des javanischen Urwalds ein Jahrhundert lang jede Erdgestaltung ihr physiognomisches Siegel in die Schriften der deutschen Geographen, Reisenden und Dichter gegraben. Darum ist der Titel dieses Buches mehr als eine glückliche Formulierung: eine Entdeckung, und die Hoffnung seines Herausgebers, mit ihm ein Stück »verlorener deutscher Geistergrösse« einzubringen, wird jeder Leser an sich erfüllt finden.