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Martin Maurice, Nuit et jour.

Paris: Gallimard (1927). 224 S.

Es gibt bei Marcel Proust eine hinreichend merkwürdige Definition des Romanciers, die vom technischen Standpunkt ausgeht. Da, so sagt Proust, die Dinge, die einem Menschen im Lauf seines Lebens begegnen, für dessen Nebenmenschen nur an ganz bestimmten, umgrenzten Reaktionen seines Wesens sichtbar werden, ja auch ihn selber niemals in der ganzen Breite seines Daseins sondern, wie tief sie immer gehen, nur partiell betreffen, bestand im Grunde die verdienstvolle »Erfindung« des ersten Romanciers in nichts anderm, als alles von der wirklichen Person, was nicht durch die Geschicke, die er im Roman erdichtet, mitberührt wird, ganz einfach fortzulassen und ein Wesen zu konstruieren, das in den Reaktionen auf ein Phantasiegeschehen aufgeht. Wenn das richtig ist, so hat die Romantechnik mit »Nuit et jour« einen Fortschritt gemacht. Hier nämlich ist das Reaktionsfeld weiterhin und so radikal beschränkt worden, daß eigentlich vom Innenleben eines Mannes nur das noch transparent bleibt, was ihn im Bett betrifft. Das wäre nun, je nachdem, langweilig oder obszön, oder beides, wenn der Stoff dieser Technik entgegenkäme und es um eine Reihe von Coucherien sich handelte. Aber das Gegenteil ist der Fall. Das Thema des Buches ist eines der ältesten Fabelmotive: die Geschichte von den zwei Seelen des Mannes, kurz von der irdischen und himmlischen Liebe. Es gibt nichts Verbrauchteres. Und an diesem verbrauchtesten Gegenstand hat der Verfasser einen atemraubenden, verwegenen Gewaltstreich geleistet: er hat das Ganze dieses Motivs, die himmlische samt der irdischen Liebe, ins Sexuelle transponiert und aus dem Sexuellen heraus geformt wie der Plastiker eine Gruppe aus Lehm. Das Ganze ist synthetisch, bruchlos, konstruktiv als Sexualgeschehen erfaßt und hat daher den ganzen substantiellen Reichtum der alten Succubi- und Incubi-Mären. Mit ihnen hat das Erzählte die Fülle einer echten Erfahrung gemein, die sich in Worten Fixierung, nicht Ausdruck sucht. Und in der Tat fixiert sie der Verfasser: ein Feldvermesser des Bettes, der im Terrain der Sexualität die Höhen und Tiefen absteckt, gleichgültig ob sie nun »Isoldenwäldchen« oder »Teufelsschanze«, »Philosophenweg« oder »Wolfsschlucht« sich nennen mögen. Auf dieser weichen, heißen Insel bewegt er sich als hätte nie ein Missionar kirchlicher oder psychoanalytischer Lehren sie betreten und als sei in ihren weißen Bergen und Tälern nichts kenntlich als die Spur von wilden Europäern.


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