Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel. Wie Lorle lebte und starb.

Es gelang Reinhard nur schwer, den Martin Flohberger von sich loszumachen. Auf Umwegen ging Reinhard nach dem Hause Wendelins, er klopfte, Malva öffnete und that ein Tuch von der Stirn ab; sie berichtete leise, sie habe sich krank stellen müssen, um daheim bleiben zu dürfen, sie habe sich aber auch still besonnen, um Reinhard alles genau zu berichten.

»Ich habe nur vorher eine Bitte,« sagte sie.

»Was denn?«

»Meine Stiefmutter will Euch sehen. Sie liegt da in der Kammer. Kommet nur auf ein paar Minuten.«

Reinhard folgte in die Kammer. Eine abgehärmte Gestalt betrachtete ihn mit großen dunklen Augen und rief:

»So sieht also der Herr Reinhard aus? So groß? Und wenn er den grauen Bart abthäte, wär' er noch ein schöner junger Mann. Wenn Ihr Eurem Lorle was zu berichten habt, so saget mir's, ich komm' bald zu ihr.«

Reinhard ging mit Malva nach dem Garten, wo man die Kranke hören konnte, wenn sie rief. Sie setzte sich auf die Bank und Reinhard sagte:

»Nun, so erzähle.«

»Ja, wo anfangen?«

»Wie lang warst du bei ihr?«

»Das ist recht, da will ich anfangen.«

»Vierzehn Monate bin ich alt gewesen, wie sie mich zu sich genommen hat. Mein Vater hat wieder geheiratet, und ich habe erst am Morgen, als mich die Frau Professorin in die Schule brachte, von ihr erfahren, daß sie nicht meine leibliche Mutter ist.«

»Hat sie dich nicht an Kindesstatt annehmen wollen?«

»Freilich. Ich hab' aber nie Mutter zu ihr sagen dürfen; sie hat mich nur manchmal ihr Schwesterchen geheißen. Ich hab' später davon gehört, daß sie mich gerichtlich nach ihrem Tod hat an Kindesstatt einsetzen wollen, aber weil man nicht gewußt hat, wo der Herr Reinhard lebt, haben die Gerichte das nicht zugegeben. Ich glaub', sie hat ein Testament hinterlassen, aber man hat's nicht gefunden. Ich will gegen niemand was sagen, er ist ihr Bruder. Das Bett habe ich bekommen, weil sie das einmal der Bärbel Martin gesagt hat, daß es mein ist. Ich glaub', sie hat auch dem Martin etwas vermacht.«

»Gut, ich werde dem nachforschen. Erzähle weiter.«

»Ja, lieber Gott, ich weiß nicht mehr, wo anfangen.«

»Wie du zum erstenmal in die Schule gegangen bist.«

»Ja, sie hat alle Schulaufgaben mit mir gemacht und mein Lesebuch hat sie ganz auswendig gewußt, und oft und oft hat sie gesagt: wären zu meiner Zeit die Schulen so gut gewesen und ich hätt' so ein schönes Bilderbuch gehabt, so wäre ich nicht zu unwissend gewesen für meinen Reinhard. Greift's Euch an, wenn ich so erzähle?«

»Erzähl' nur weiter.«

»Sie hat sich auch ein Buch angeschafft mit einer Beschreibung von Rom, und da hat sie alle Straßen und alle Häuser gekannt und oft gesagt: da geht jetzt mein Reinhard.«

Reinhard schloß die Augen, die Lider zuckten, während Malva fortfuhr:

»Nie ist ein böses Wort über den Herrn Reinhard über ihre Lippen gekommen und auch dem Stephan hat sie's verboten, daß er schimpft. Das ist das einzigmal, wo ich sie grimmzornig gesehen hab'. Ich glaub', sie hat jede Nacht ein Gebet für den Herrn Reinhard gesagt.«

»Ist sie lange krank gewesen?«

»Höchstens drei Wochen und die letzten elf Tage im Bett. Sie hat sich gar arg verkältet, wie sie das letzte Mal beim Hohlmüller gewesen ist, und von da an hat sie Tag und Nacht gehustet. Der Doktor hat gleich gesagt, da ist nicht mehr zu helfen.«

»Hat sie dir nie gesagt, warum sie mich verlassen hat?«

»So? Sie hat den Herrn Reinhard verlassen? Ich hab' immer anders gemeint. Viel gejammert hat sie, weil sie kein Kind gehabt, aber sie hat den Aberglauben gehabt, daß sie sich versündigt habe, weil der Herr Reinhard sie als heilige Jungfrau abgebildet hat.«

»Ist sie viel in die Kirche gegangen?«

»Nicht eben mehr als der Brauch, und wie das Bild aus der Kirche fort gewesen ist, ist's ihr doch nicht recht gewesen. Einmal hat sie mich gerufen und hat mir gesagt: Merk' dir's! Es kann keine böse Ehe geben, wenn eines von den Eheleuten ganz rechtschaffen ist. Ich hab' angesehen sein wollen für meine Liebe, meine Gutheit, und das ist nicht das rechte. Ich wäre gern seine Magd gewesen und hab' doch den Stolz gehabt; ich bin darin auch nicht ganz brav gewesen, aber die kurze Zeit, die ich mit ihm glücklich gewesen bin, ist mir mehr wert als siebenmal leben. Und einmal hat sie geweint am Morgen, weil sie nicht mehr von Herrn Reinhard träumt.«

Malva hielt wieder inne und endlich sagte sie: »Nicht wahr, ich mach' Euch das Herz schwer? Aber sie hat hundertmal gesagt, wenn ich's ihm nur sagen könnt, daß ich ihn lieb hab', so lieb . . . und ihm verzeihe, und er soll mir auch verzeihen. – Einmal ist sie vom Hohlmüller heimkommen, sie hat ihm immer die Zeitung vorgelesen. Ich hab' schon geschlafen, und da hat sie mich geweckt und hat ganz glückselig gesagt: Malva! Von meinem Reinhard steht in der Zeitung. Er ist ein weltberühmter Mann!«

Reinhard griff mit der Hand ins Leere und schloß die Faust krampfhaft.

Welch eine Liebe ist das, die, um das volle Herz zu erleichtern, das schlafende Kind weckt und ihm den Ruhm des Geliebten, Ungetreuen verkündet.

»Hätt' ich das nicht erzählen sollen?« fragte Malva.

»Du sollst alles erzählen. Alles. Hat sie auch von dem Gerücht gehört, daß ich gestorben sei?«

»Nein.«

»Wie hat sie den Krieg erlebt?«

»Sie hat sich gar nicht gefürchtet. Sie hat in der großen Stube drei Betten hergerichtet für Verwundete. Wir haben aber keine bekommen.«

»Ist sie bei Besinnung gestorben?«

»Freilich! Sie ist nicht gern gestorben. Am letzten Tag hat sie gemeint, der Herr Reinhard ist da und da hat sie gerufen: Wein' nicht zu arg, ich hab's gewußt, daß du kommst. Lieber Gott! Laß mich nur noch einen Tag leben, nur noch einen halben Tag und ich will mit meinem Reinhard über die Wiese gehen. Ja, das Zittergras ist schön! wunderschön! . . . Und da hat sie gerufen: Nicht sterben! jetzt erst recht leben! und da war sie tot . . .«

Lange war es still im Garten, man hörte nichts als das Zwitschern der Schwalben vor dem Fenster und von dem Kirchhof in der Nähe schmetterte ein Fink seinen hellen Sang.

Reinhard erhob sich endlich, reichte Malva still die Hand und ging davon.


 << zurück weiter >>