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Drittes Kapitel. Wo bist du?

Das ist das alte Wirtshaus zur Linde, es ist verschlossen, öde. Den Baum da zur Seite haben sie doch müssen stehen lassen; die Bank, die den Baum umschloß, ist nicht mehr da, zerbrochene Pflüge, reifenlose Räder lehnen an dem Stamme, dessen Wurzeln sich aus dem Boden emporgehoben. Ein leiser Windhauch zieht jetzt durch das Gezweige mit den hellgrünen Blättern und den noch geschlossenen Blütenknospen.

»In dem Haus wird nicht mehr gewirtet!« rief eine alte Frau aus dem Erdgeschoß des Nachbarhauses dem Dreinstarrenden zu; »das Wirtshaus ist jetzt draußen beim Bahnhof, da an der Gartenecke steht der Wegweiser, da könnet Ihr nicht fehlgehen.«

Reinhard ging zwischen den Gartenzäunen, stand bald vor einem weißangestrichenen Hause mit grünen Schattenläden und einem Balkon in der Mitte, auf dessen Brüstung in goldenen Buchstaben zu lesen war: Restauration und Gasthof zum grünen Baum.

Reinhard schauderte, als er näher trat. Auf der Schwelle saß eine Menschengestalt, wie ein Gespenst am hellen Tage; ein Trottel fletschte die Zähne gegen Reinhard und murmelte wirre Laute zu einem weißen Hahn, der auf der Treppe stand.

Reinhard eilte an dem unförmlichen Mannsbilde vorüber die Treppe hinan. Er trat in die Stube, niemand war da; er setzte sich ermattet an einen Tisch. Der weiße Hahn kam durch die offene Thür herein, schaute Reinhard an und schüttelte den roten Kamm und starrte auf die an den Wänden befestigten, aus Pappe bereiteten Reh- und Hirschköpfe mit Geweihen. Da kam endlich, noch unter der Thür den Rock anziehend, der Wirt und jagte den Hahn hinaus. Reinhard sah den Bruder Lorles stumm an; dieser aber schien nichts von dem verwunderten Blicke zu bemerken, denn er fragte in geläufigem Tone wie auswendig gelernt: »Mit was kann man aufwarten? – Ein Literle alten, neuen, roten, weißen; fünfzig Pfennig, achtzig Pfennig, eine Mark? Zu essen gibt's auch bald was. Parlez-vous français? Boire ou manger? Vroni,« rief er nach der Küche, »rufe die Madlon, es ist ein Franzos da! La fille viendra tout de suite,« sagte er, sich den Schweiß von der Stirn trocknend, da der Fremde ihn so anstarrte.

Reinhard konnte noch immer kein Wort hervorbringen. Das sind die Augen Lorles, ihre Augen sind auf ewig geschlossen, und diese hier blicken nicht so treuherzig und der Mund hat etwas Verkniffenes. Endlich sagte Reinhard:

»Hab' ich mich denn so ganz und gar verändert? Stephan, ist denn gar nichts mehr an mir zu erkennen?«

»Herr Gott, die Stimme! Wa– Was? Nein.«

»Doch. Ja. Er ist der Reinhard. Grüß' Gott, Schwager.«

»Was? Der Reinhard? Frau! Vroni! Komm! Hurtig. Tapfer! Ich komm' gleich wieder,« wendete er sich schnell und verließ die Stube.

Reinhard saß still, ihm war, als könnte er sich nicht mehr aufrichten und dumpf dröhnte es ihm im Gehirn.

Draußen stand Stephan bei seiner Frau und sagte: »Hast gehört, der Reinhard ist da? des Lorles Reinhard? Was will er? Er wird doch nicht kommen sein, um zu erben? Ich lasse es auf einen Prozeß ankommen. Er hat kein Recht. Ein Kind ist nicht da, und sie haben nach Landesgesetz geheiratet.«

»Wie sieht er denn aus? Abgerissen?«

»Ich kann's nicht sagen, ich hab' ihn nicht einmal recht angesehen und er ist sitzen blieben. Von Gepäck hab' ich nichts gesehen.«

»Jetzt laß ihn nicht so lang allein. Geh hinein und vorderhand sei freundlich. Ich komme bald nach.«

»Soll ich ›du‹ zu ihm sagen?«

»Gewiß.«

Stephan ging in die Stube und sagte: »Du mußt verzeihen, daß ich so erschrocken bin. Mir liegt ja noch der Kummer um ihren Tod in allen Gliedern, und warum hast du auch nicht ein Wort vorher geschrieben? Ich wär' dir entgegenkommen und wir hätten alles in Güte und Freundschaft miteinander besprochen. Sie hat, solang sie gelebt hat, kein böses Wort über dich gesagt und vor meinen Ohren hat auch keines ein böses über dich sagen dürfen. Du siehst noch ganz bestanden aus; ich hab' gar nicht mehr gewußt, daß du so große blaue Augen hast. Ja, deine Augen! Die haben dich auch groß gemacht, du hast einen großen Namen. Vor ein paar Jahren hat's geheißen, du seiest gestorben, sie hat aber nichts davon erfahren, es hat's ihr niemand sagen dürfen, ich hab' sie behütet wie meinen Augapfel, und sie wird mir's vom Himmel herunter bezeugen, daß wir in Frieden miteinander gelebt haben.«

Reinhard hatte nicht Zeit, über diese Redseligkeit und ihre Absichten nachzudenken. Bald kam Vroni, sie war eine breite, behäbige Wirtin geworden, und in ihrem Blicke lag der Ausdruck voller Gutmütigkeit; sie hieß Reinhard herzlich willkommen, und Madlon, die Lothringerin, die hier Deutsch lernen sollte, stellte Wein und einen Imbiß auf den Tisch.

Der Wirt schenkte drei Gläser ein und sagte: »Stoß an, auf guten Willkomm und gute Freundschaft, und was vorbei ist, ist vorbei.«

Der Schwager sprach so freundliche Worte und doch hatte Reinhard plötzlich das Gefühl, daß es sehr schlimm wäre, mit diesem Manne in Feindschaft zu geraten, und er sah es fast deutlich vor sich, daß sie feind miteinander. Sich sammelnd, erwiderte er stotternd:

»Ich danke, ich kann jetzt nicht trinken, ich will vor allem auf das Grab von Lorle.«

Kaum hatte er das Wort gesprochen, als ein markerschütterndes Geschrei und Gezeter entstand; der Trottel, der unversehens in die Stube gekommen war, stieß es aus.

»Wer ist das?« fragte Reinhard.

»Das ist leider Gottes unser ältestes Kind. Es muß jedermann seine Portion Elend haben.«

»Und warum hat er geschrieen?«

»Das thut er immer, wenn man Lorle sagt; er kann's nicht verstehen, daß sie tot ist, und sie hat ihn gepflegt wie ein Engel, und ihr allein hat er gefolgt.«

Reinhard sah den Armen, der vom aufgestellten Backwerk gestohlen und den Mund so voll hatte, daß er kaum kauen konnte.

Sich erhebend und wie aus schwerem Traume erwachend, sagte Reinhard: »Stephan, ich hab' dir noch was sagen wollen. Ja, jetzt besinne ich mich. Bitte, verwahre mir das Geld da sicher.«

»Wieviel ist es?«

»Es sind sechzig englische Banknoten, jede zu hundert Pfund. Du mußt mir's später hier anlegen, ich bekomme noch einiges dazu.«

»Soll ich dir was Schriftliches geben?«

»Ist unter uns nicht nötig. Sag' aber niemand davon.«

»Soll ich dich nicht auf den Kirchhof begleiten?«

»Nein, laß mich allein gehen.«

Hinter Reinhard drein sagte Stephan zu Vroni: »Der will keinen Prozeß wegen der Erbschaft. Frau, da schau. So viel englisch Geld ist noch nie hier über Nacht gewesen. Rechne einmal, wieviel das in Mark ist. Laß ihm das Balkonzimmer schön herrichten. Stell' ihm einen Blumenstrauß hinein und mach' ihm ein gutes Essen zurecht.«

Und um seiner Freude rechten Ausdruck zu geben, ging er hinab in den Hof, fing den weißen Hahn und schnitt ihm den Hals ab.

Vroni war außer sich, als Stephan den geschlachteten Hahn in die Küche brachte, und noch dazu kam jetzt wie rasend der Trottel, dem sein Spielkamerad getötet war; er warf Töpfe und Pfannen durcheinander und heulte und lachte.

Es gelang, ihn endlich zu beruhigen, aber Vroni schien nicht zu beruhigen, denn das war ja der weiße Hahn, den Fabian – so hieß der Trottel – nach Lorles Tod aus deren Hause heimgebracht hatte.

»Vielleicht ist's aber gut, daß das geschehen,« beschwichtigte sich endlich Vroni; »ich will kein Wort weiter sagen, wenn du mir jetzt etwas versprichst.«

»Was?«

»Da gib mir die Hand, daß du dem Reinhard das vom Fabian nie berichtest oder auf sonst eine Art zu wissen thun lassest.«

»Wie werde ich so dumm sein? Dann bliebe er ja keine Stunde mehr hier und käme nicht wieder.«

»Also du versprichst es?«

»Soll ich dir versprechen, daß ich mein Geld nicht aus der Brusttasche und meinen Verstand nicht aus dem Kopfe verlieren will?«

»Gib mir die Hand darauf.«

»Da hast du sie, und jetzt genug.«


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