Armand (Friedrich Strubberg)
Saat und Ernte
Armand (Friedrich Strubberg)

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiter Band.

Erstes Kapitel.

Mit dem Gischt der Woge stürzte Harry in die nächste Tiefe hinunter und versank. Die Sinne waren ihm für den Augenblick vergangen; dem Tode aber widersetzt sich jedes lebende Wesen in jedem Zustand, darum, als Harry statt Luft Wasser in den Mund strömte, wehrte er sich gegen das erstickende Element mit Händen und Füßen und im nächsten Augenblick tauchte er wieder über der Flut auf. Mit dem ersten tiefen Athemzug kehrte auch sein Bewußtsein zurück, er fühlte, daß er in der See lag, und erinnerte sich, wie die Welle ihn von Holcroft's Seite gerissen hatte. Er blickte um sich, er sah nichts, schwarze Nacht umgab ihn, er hörte nichts als das Donnerrollen und Stürzen der Wogen und das Brausen und Pfeifen des Orkans. Dieser nächste Augenblick hatte ihm seine Lage vollkommen klar gemacht; mit einem Hülferuf, den der Sturm seinem eigenen Ohr entführte, breitete er hastig die Arme aus und that Zug um Zug, als könne er mit Schwimmen das entflohene Schiff noch einholen.

»Hülfe, Hülfe!« schrie er wieder und wieder, griff immer schneller aus und suchte von dem Gipfel jeder Woge die Finsterniß mit seinem Blick zu durchdringen. Er war verloren und seine Zukunft zählte nur noch nach Minuten, das fühlte er, denn seine Kräfte ließen nach und der Gedanke, daß er jetzt schon das Leben verlassen sollte, durchbebte ihn mit einem Gefühl nahender Ohnmacht. Dennoch arbeitete er fort und flehte den Himmel laut um Hülfe an; er hätte gern seine Hände gefaltet, wenn er sie nicht hätte gebrauchen müssen, um dem Tode sein Leben streitig zu machen. Von Minute zu Minute aber nahm seine Entkräftung zu, er konnte die Arme kaum noch durch das Wasser bewegen, und die Flut strich ihm fortwährend über den Mund, da griff er in der Verzweiflung noch einmal weit aus und stieß mit seiner Rechten an einen harten Gegenstand. Mit der Hast der Todesangst faßte er zu und ergriff mit beiden Händen eine lange schwere Bohle, die wahrscheinlich von dem Verdeck der Barke weggeschwemmt worden war. »Gott Lo«B, rief er aus, klammerte sich an derselben fest, um wieder zu Athem zu kommen, und hob sich nach und nach immer weiter auf dem Ende des Bretes hinauf, bis er dasselbe zwischen seinen Beinen hielt und er, auf ihm reitend, von den Wogen fortgetragen wurde.

»Gott Lob! Gott Lob!« wiederholte er mit einem Blick nach oben und ein Hoffnungsstrahl drang in seine Seele ein. Für den Augenblick wenigstens war er dem Tode entrissen und der Gedanke, daß das Tageslicht ihm das Boot seiner Gefährten zeigen und man ihn gewahren würde, fachte die aufkeimende Hoffnung noch mehr an. Woge auf Woge nieder ritt er mit fliegender Eile auf der grausigen Bahn dahin, der Sturm jagte den Gischt der See hinter ihm her, und von Zeit zu Zeit stürzte sich der Kopf einer Welle von hinten über ihn und begrub ihn für Augenblicke unter sich. Harry aber hielt das vor ihm aufstehende Ende der Bohle mit beiden Händen wie mit eisernen Klammern fest und tauchte immer wieder über der Flut auf.

Wohl nie im Leben hat ein Mensch heißer und verlangender das Erscheinen des Tages ersehnt als Harry Williams in dieser Zeit, denn die Finsterniß verdoppelte das Entsetzliche seiner Lage. Endlich, endlich zitterte ein Schimmer von Helligkeit über das weite Meer und Harry konnte die Wogen unterscheiden, auf denen er emporschoß, und die Abgründe erkennen, in welche er hinabsank. Auch die Wolken über ihm brachen sich und hier und dort blitzte ein einzelner Stern zwischen denselben hervor. Der Tag stieg am östlichen Himmel auf und der Sturm ließ an Heftigkeit nach, doch die Wogen rollten noch immer hohl und fürchterlich, und von einer jeden, auf deren Höhe Harry gehoben wurde, sandte er seinen Blick spähend über die weite Wassereinöde um den Horizont, nirgends aber fand sein Auge einen Haltpunkt, bis in die weiteste Ferne war nichts zu sehen als schaumgekrönte Wogen. Ein entsetzliches Gefühl der Verlassenheit, der Einsamkeit kam über ihn, und die Hoffnung, mit der er den Tag begrüßt hatte, schwand wieder aus seiner Seele. Die Verzweiflung, die ihn dagegen erfaßte, steigerte sich noch mehr bei dem Gedanken, daß er durch eigene Schuld seine Lage herbeigeführt und daß er sie für seine Handlungen vollkommen verdient habe. Jetzt sah er es ein, wie unverzeihlich er gegen die Familie Morgan gehandelt hatte, jetzt suchte er die Fälschung der Note im Namen seines Freundes nicht mehr vor sich selbst zu beschönigen und warf sich mit Angst und Reue diese Handlungen als die Ursachen seiner gegenwärtigen Lage vor. Er sah den Tod vor Augen, nur in welcher Weise derselbe ihn ereilen würde, das war noch ungewiß, und mit Schrecken dachte er daran, daß er langsam auf diesem Bret verschmachten müsse, um endlich doch zu ertrinken. Warum denn aber machte er nicht gleich seinem elenden Dasein ein Ende? Weil sein Blick noch in jeder Sekunde am Horizont suchte, ob er kein Schiff erspähen könne. Er befand sich in dem Hauptfahrwasser der Küstenschiffe, das wußte er gewiß, und wie leicht konnte ein Fahrzeug des Weges kommen und ihn retten! Er hielt fest an der Planke.

Der Wind erstarb mehr und mehr, die Wogen verloren ihren Schaum und dehnten sich länger und breiter aus und der Himmel wurde wolkenleer. Die ersten Blicke der Sonne hatten Harry wohl gethan, weil sie ihn erwärmten, als dieselbe aber höher stieg und ihre Strahlen senkrecht auf ihn niederbrannten, da mußte er Wasser über sein Haupt gießen, um ihre Glut ertragen zu können.

Der furchtbarste Feind und der sichere Träger des Todes, der Durst, meldete sich jetzt bei Harry, seine Lippen wurden trocken und die Zunge blieb ihm am Gaumen haften. Der Anblick des ihn umflutenden Wassers wollte ihn zur Verzweiflung bringen, er bückte sich lechzend nach ihm nieder, es kam ihm vor, als ob er sich nimmer satt trinken könne, und doch durfte er sich kaum die Lippen damit kühlen. Die Sonne wurde ihm furchtbar und unerträglich, und so sehr er nach dem Tage verlangt hatte, so sehnlichst sah er dem Abend entgegen, der ihm Kühlung bringen sollte. Die Glut aber, die

Fieberhitze, die der Durst in seine Adern goß, die konnte selbst die Nacht nicht kühlen, und als die Sonne sich neigte und die Dämmerung ihre schauerlichen Schatten wieder über das Meer breitete, steigerte sich die Unruhe, die unheimliche Glut in Harry's Körper nur noch mehr. Bis jetzt hatten seine jugendlichen Kräfte in der Aufregung der Gefahr alle Müdigkeit von ihm fern gehalten, als aber die Nacht ihren Mantel dichter um ihn zog, wurden ihm die Lider schwer und der Schlaf wollte ihn gewaltsam in die Arme schließen. Er wankte hin und her auf dem Brete, obgleich links und rechts der Tod ihn angähnte, mit aller Kraft klammerte, er seine Hände an die Bohle fest und hielt mit Gewalt die Augen weit geöffnet. Immer aber nickte er wieder zusammen, die Augen fielen ihm zu und er bekam das Uebergewicht nach der einen oder andern Seite. Dann fuhr er entsetzt in die Höhe und suchte das Gleichgewicht wieder zu halten. So verbrachte er die Nacht mit immer größerer Anstrengung, nach und nach stellte sich ein Zustand zwischen Wachen und Schlafen bei ihm ein, er schlief mit halb offenen Augen, und der Gedanke, daß er nicht schlafen dürfe, hielt halb die Besinnung in ihm zurück. Es war ein übernatürlicher Kampf, den er focht, und in seinem Halbtraume sehnte er sich nach der Sonne, die ihm helfen sollte, wach zu bleiben. Der Schlaf wurde immer mächtiger, die Lider wurden immer schwerer und die Kräfte schienen aus seinen Händen zu entweichen. Plötzlich schlossen sich seine Augen, seine Arme sanken an ihm herab, sein Oberkörper neigte sich auf die Bohle, und mit ihr umschlagend stürzte er in die Flut. Wie ein Blitzstrahl schoß die volle Besinnung wieder in ihn zurück, er griff um sich und faßte durch das Wasser hin – die Rettungsbohle war verschwunden. Mit verzweifelter Angst hob er sich hoch über die Flut empor und schaute um sich, denn der Tag war schon im Nahen und er konnte seine nächste Umgebung erkennen. Sein Blick von der Höhe der Welle suchte vergebens nach dem Stück Holz, und mit dem sichern Bewußtsein, daß es jetzt mit ihm zu Ende gehe, sank er mit der Flut in die Vertiefung hinab. Noch einmal hob er flehend seine Augen zum Himmel auf und über ihm aus der Spitze der nächsten Woge schaute das Ende des Bretes hervor. Er raffte alle Kräfte zusammen, Zug um Zug riß er die Arme durch das Wasser und nach wenigen Augenblicken hielt er das Holz wieder umfaßt. Jetzt blieb er wach, der letzte Anflug von Schlaf war aus ihm verschwunden, wenn auch seine geistige und körperliche Mattigkeit rasch zunahm. Er fühlte es, lange konnte er nicht mehr leben, der Durst und jetzt auch der Hunger mußten ihn bald seinem Ende zuführen und ihm die letzten Kräfte rauben, sodaß er sich nicht mehr auf dem Bret über Wasser halten konnte.

Die Sonne stieg blutroth über dem Meeresrande auf und zeigte Harry abermals die ganze Oede, die ihn umgab; wieder ließ er seinen Blick um den Horizont wandern, aber kein Rettungszeichen wollte ihm erscheinen. Alle Hoffnung war hin und die wilde Verzweiflung machte einer dumpfen Ergebung in sein Schicksal Platz. Dennoch hielt er seine Hände gefaltet, wie er so auf und ab über die sich immer mehr glättenden Wogen hinfuhr, und flehte seinen Schöpfer um Hülfe an. Er hatte lange Zeit so in stumpfer Abspannung auf dem sich schaukelnden Bret gesessen, ohne um sich zu schauen, der Wind war vollständig erstorben und die Sonnenglut begann ihn wieder unerträglich zu martern, als er hinter sich schaute und einen weißen Punkt gewahrte, der ihm über den Meeresrand hervorzuragen schien. Im nächsten Augenblick aber war er wieder in die Vertiefung zwischen zwei Wogen gesunken und verlor dadurch den Punkt aus den Augen. Als ihn aber die folgende Welle abermals emporhob, hatte er ihn sofort mit seinem spähenden Blick erfaßt und überzeugte sich jetzt, daß es wirklich ein Segel war, welches hinter ihm herkam. Neues Leben, neue Kraft fuhr durch seine Glieder, er richtete sich möglichst hoch empor und hielt seinen Blick unbeweglich auf das Schiff gerichtet, um zu sehen, ob es näher käme. Schon nach Verlauf einer halben Stunde tauchte das ganze Fahrzeug über dem Meere auf, sodaß Harry den Rumpf desselben wie einen schwarzen Punkt unter dem Segel erkannte. Wie aber war es möglich, daß das Schiff näher kommen konnte, da doch in Harry's Nähe sich kein Lüftchen regte? Der Wind mußte von dort her mit ihm im Heranziehen sein. Es kam aber augenscheinlich näher und zwar in gerader Richtung auf den Schiffbrüchigen zu. Er betete, flehte, rang die Hände, weinte und gelobte, nun und nimmer wieder etwas zu thun, wodurch er strafbar würde. Jetzt kam der Wind vor dem Schiffe hergezogen, ein langer weißer Streif auf den Wogen kündete ihn schon von weitem an, und bald spielte er erfrischend um Harry's heißen Mund. In kurzer Zeit mußte man ihn von dem Verdeck des Schiffes aus sehen können. Wie aber, wenn man ihn nicht gewahrte und an ihm vorübersegelte? Der Gedanke erfaßte Harry mit Entsetzen, er stierte nach dem Schiffe hin, als wollten seine Augen aus ihren Hohlen springen, er hob sich so hoch empor, als es ihm möglich war, und winkte fortwährend mit der Hand. Das Fahrzeug kam mit vollen Segeln schnell heran, schien aber in einiger

Entfernung an Harry vorüberfahren zu wollen. Seine Angst hatte den höchsten Punkt erreicht ; er warf seine Kleidung von sich, riß sein Hemd über den Kopf, hob es in seiner Rechten hoch empor und schwenkte es über sich durch die Luft.

»Gott sei gedankt!« rief er nach einer Weile aus, denn man hatte ihn bemerkt, das Schiff änderte plötzlich seine Richtung und kam jetzt gerade auf ihn zu.

Er sah, wie die Mannschaft Vorbereitungen traf, um ihn aufzufischen, denn es stellten sich mehrere Männer auf die Brüstung und hielten Taue in ihren Händen. Brausend schnitt das prächtige Schiff durch die Wogen auf Harry zu, wandte sich aber halb gegen den Wind, wodurch seine Eile sofort gemäßigt wurde, und trieb nun langsam an den Verunglückten heran. Da flogen drei lange Taue, zugleich von den Matrosen geworfen, nach ihm hinab, er ergriff eins derselben mit beiden Händen, klammerte sich daran fest und wurde, bis an die Seite des Schiffes gezogen, wo hinunter mehrere der Mannschaft stiegen, ihn erfaßten und auf das Verdeck hinauf beförderten. Kaum aber hatte er dasselbe betreten, da sank er wie leblos zusammen und eine tiefe Ohnmacht bemächtigte sich seiner. Als er wieder zu sich kam, lag er im Schatten der Segel auf einem Lager von Decken hingestreckt und um ihn her stand die Schiffsmannschaft und schaute ihn theilnehmend an.

»Wasser! Wasser!« waren die ersten Worte, die seinen trockenen Lippen entfuhren. Der frische Trunk wurde ihm gereicht, und nachdem er denselben bis auf den letzten Tropfen zu sich genommen hatte, sank er mit einem tiefen Athemzuge abermals machtlos zurück und schloß die Augen. Die Labung fachte aber bald seine Lebenskräfte wieder an, er fühlte sich erfrischt und gestärkt und nahm nun auch die Speise, die man ihm reichte, zu sich. Während dieser Zeit begann er zu überlegen, in welcher Weise er sich dem Kapitän vorstellen sollte, da seiner Meinung nach hiervon die Art der Behandlung abhing, welche man ihm an Bord zu Theil werden lassen würde. Er beschloß, den Namen Rochier, den eine der reichsten und angesehensten Creolenfamilien Louisianas trug, anzunehmen und sich für einen Plantagenbesitzer in diesem Lande auszugeben. Wenn ihm auch eine innere Stimme diese Unwahrheit vorwarf, so meinte er doch, daß eine so harmlose Nothlüge erlaubt sei, zumal in einer so verzweifelten Lage, wie die seinige es augenblicklich war.

»Nun sagen Sie mir aber junger Mann, haben Sie denn Schiffbruch erlitten oder sind Sie über Bord gefallen?« hob der Kapitän zu Harry gewandt an und setzte sich neben ihm auf den Fußboden nieder.

»Schiffbruch, einen vollständigen Schiffbruch« antwortete Harry, indem er sich auf den Ellenbogen stützte. »Der Sturm nahm uns zuerst Masten und Segelzeug, dann faßten uns die Seen, schlugen das Ruder und die Brüstungen entzwei und zerschmetterten endlich das Schiff selbst, sodaß es in tausend Stücke auseinanderfiel. Ich glaube, ich bin der Einzige, der das Leben davongetragen hat; meine Gefährten sind sicher sämmtlich umgekommen.«

»Es war aber auch ein Sturm, wie ich nur wenige erlebt habe«, sagte der Kapitän. »Wohin war denn Ihr Schiff bestimmt?«

»Nach Brasilien. Ich befand mich als Passagier darauf und zwar auf einer Erholungsreise. In Louisiana, wo meine Plantagen liegen, muß man im Sommer sehr von der Hitze leiden und ich sehnte mich nach der frischen Seeluft«, entgegnete Harry und setzte lächelnd noch hinzu: »Beinahe aber hätte ich zu viel davon bekommen.«

»So sind Sie Plantagenbesitzer?« fiel der Kapitän mit einer leichten Verbeugung ein und setzte sich etwas gerader.

»Ja wohl, Kapitän. Mein Name ist Rochier, und wahrscheinlich haben auch Sie schon von meiner Baumwolle durch den Ocean geführt. Meine Ernte beläuft sich jährlich ungefähr auf zweitausend Ballen«, sagte

Harry mit einem gleichgültigen Tone und streckte sich länger auf seinem Lager aus.

»Rochier?« nahm der Kapitän überrascht das Wort. »Allerdings habe ich schon sehr viel Wolle mit Ihrem Namen gezeichnet nach England gebracht. Als guten Engländer freut es mich nun doppelt, Ihnen das Leben erhalten zu haben, Herr Rochier; denn Baumwolle ist uns so unentbehrlich wie Brod. Ich glaube aber, jetzt würde Ihnen ein Glas Madeira recht gut thun, ich habe etwas Feines davon an Bord.«

Damit erhob sich der Kapitän und eilte nach der Kajüte. Harry aber blickte ihm lächelnd nach und erinnerte sich des Grundsatzes seines Freundes Holcroft, sich auf Kosten Anderer das Leben möglichst angenehm zu machen.

Der Kapitän kehrte bald mit einer Flasche und einem Glase in der Hand zurück und credenzte dem vermeintlichen Plantagenbesitzer und Baumwollenlieferanten den goldenen Wein, den dieser mit großem Wohlbehagen zu sich nahm.

»Der Wein ist gut, Kapitän. Haben Sie viel davon an Bord?« fragte Harry, nachdem er das zweite Glas geleert hatte.

»Nun, wohl einige Dutzend Flaschen«, entgegnete der alte Seemann.

»Sie müssen mir dieselben überlassen; der Zufall zwingt mich ja doch, mir einen Credit bei Ihnen zu erbitten«, fuhr Harry lächelnd fort.

»Mit Vergnügen stelle ich Alles, was ich an Bord habe, zu Ihrer Verfügung, und wenn wir in Madeira, dem Ziel meiner Reise, landen, so dürfen Sie auch über meine Kasse verfügen, denn dort werden Sie wohl keine Bekanntschaft haben«, bemerkte der Kapitän mit großer Höflichkeit.

»Freilich nicht. Wie sollte mein Name in Madeira bekannt geworden sein, meine Baumwollenballen gehen ja nicht dorthin. Desto besser aber kennt man mich in London und namentlich in Liverpool, wo ich Ihnen die große Schuld, die ich bei Ihnen machen muß, auszahlen lassen werde«, entgegnete Harry scherzend, fügte aber mit feierlichem Tone noch hinzu: »Die Schuld zwar für die Erhaltung meines Lebens, die werde ich Ihnen wohl schwerlich abtragen können, so gern ich es auch thun möchte. Jedenfalls erwarte ich, daß Sie mich von Ihrem nächsten Besuch in Neuorleans sofort unterrichten, damit ich eine Gelegenheit erhalte, mich Ihnen dankbar zeigen zu können.« Bei diesen Worten ergriff Harry die Hand des Kapitäns und schüttelte sie mit wirklich aufrichtigem Dankgefühl, wenn auch die Unwahrheit, die er ihm zugleich sagte, ein schlechter Zeuge dafür war. Hätte es augenblicklich in seiner Macht gelegen, den Mann für seine Hülfe fürstlich zu belohnen, so hätte er es sicher mit Freuden gethan. Dies war aber nicht der Fall, er war sogar in der allerhülfsbedürftigsten Lage, und es schien ihm kein Unrecht zu sein, sich dieselbe so erträglich als möglich zu machen; wäre Holcroft noch am Leben, dachte Harry, so würde derselbe ihm für sein Verfahren sicher Lob ertheilt haben. Der Kapitän bot Alles auf, um seinem so unverhofft erhaltenen Passagier den Aufenthalt auf seinem Schiffe angenehm zu machen; er räumte eine Kajüte, die er mit Waaren vollgepackt hatte, für ihn aus, bewirthete ihn nach allen Kräften auf das beste, überließ ihm seine Weine und Cigarren zum Einkaufspreis und öffnete ihm seine Garderobe zum freien beliebigen Gebrauch. Harry dagegen ließ keine Gelegenheit unbenutzt vorübergehen, sich für die Stunden der schrecklichsten Foltern, die er auf dem Brete im Meere zugebracht hatte und die ihm wie so viele Jahre vorgekommen waren, zu entschädigen, und als das Schiff Madeira erreichte, war die letzte Flasche Wein des Kapitäns geleert und dessen letzte Cigarre geraucht. Kaum hatte das Fahrzeug in dem Hafen von Funchal, der Hauptstadt der Insel, seine Anker fallen lassen, als der Kapitän sich an das Land begab, um auf dem

Zollamte seine Geschäfte zu besorgen. Harry begleitete ihn, um für seinen unbestimmten Aufenthalt hier ein Hotel zu wählen, denn er wollte eine Gelegenheit nach Rio de Janeiro oder nach den Vereinigten Staaten erwarten.

»Sie werden nun Geld nöthig haben, verehrter Herr Rochier«, sagte der Kapitän zu Harry, als sie aus dem Zollhause traten; »wenn Sie mich zu den Herren begleiten wollen, an welche ich adressirt bin, so werde ich es Ihnen dort auszahlen lassen. Wie viel wünschen Sie zu haben?«

»Nun, etwa tausend Dollars. Ich gebe Ihnen dann für meine ganze Schuld eine Anweisung auf Liverpool, welche Sie, da Sie doch von hier nach London segeln, recht gut dort gebrauchen können. Zu dieser Schuld rechne ich hundert Flaschen des besten Weins, der hier zu bekommen ist, welchen ich mir erlaube Ihnen zum Geschenk zu machen. Sie müssen mir den Gefallen thun und ihn selbst auswählen und mir dann die Summe nennen, die Sie dafür bezahlten, damit ich Sie zu meiner Schuld schreibe«, sagte Harry im Vorwärtsschreiten, worauf der Kapitän einige Einwendungen wegen zu großer Güte machte, die jener aber mit dem Bemerken zurückwies, daß es ja nicht der Mühe werth wäre, um diese Kleinigkeit nur ein Wort zu verlieren.

Bei den Geschäftsfreunden des Kapitäns angelangt, stellte dieser ihnen seinen Passagier als einen der ersten Baumwollenpflanzer Louisianas Namens Rochier vor und ließ ihm tausend Dollars baar auszahlen.

Harry vergaß nun die Leiden, die ihn betroffen hatten, das Leben lachte ihn wieder heiter an und seine Mittel gestatteten ihm, dessen Freuden zu genießen. Durch die Geschäftsfreunde des Kapitäns wurde er in viele Familien eingeführt, der amerikanische Consul, dem er als Herr Rochier einen Besuch abstattete, machte ihn in den besten Gesellschaften bekannt, und da Harry der spanischen Sprache vollkommen mächtig war, wurde es ihm nicht schwer, sich mit den Portugiesen zu verständigen. Seine elegante, liebenswürdige Persönlichkeit bahnte ihm auch hier den Weg zu der Gunst der Damen, zumal da man in ihm den unermeßlich reichen Plantagenbesitzer aus Louisiana vor sich sah.

Schon nach Verlauf von einer Woche war der Kapitän zur Abreise bereit; Harry gab ihm einen Wechsel auf eins der ersten Häuser in Liverpool über den ganzen Betrag, welchen er ihm schuldig geworden war, versicherte ihn seines unbegrenzten ewigen Dankes und schied von ihm auf baldiges frohes Wiedersehen in Neuorleans.

In unbestimmter Zeit erwartete man ein Schiff, welches nach Rio de Janeiro expedirt werden sollte und mit welchem Harry Willens war seine Reise wieder anzutreten. Wenn er nun auch danach verlangte, der Insel den Rücken zu kehren, ehe Nachricht von seinem liebevollen hülfreichen Kapitän von London ankommen konnte, so wurde ihm der Aufenthalt in Funchal doch mit jedem Tage angenehmer und interessanter, sodaß es ihn mit Leid erfüllte, als man ihm eines Morgens die Anzeige von der Ankunft des erwarteten Schiffes machte. Dasselbe sollte schon in einer Woche wieder unter Segel gehen, und nun drängten sich die Belustigungen und Vergnügungen, die man Harry zu Ehren veranstaltete, denn alle seine Bekannten wünschten sich ihm vor seiner Abreise noch einmal aufmerksam zu erweisen. Außer diesen geräuschvollen Freuden aber, womit man ihm Lebewohl sagen wollte, harrten seiner im Verborgenen noch viele wonnige Augenblicke des Abschieds, in denen manche Thräne, von schönen dunkeln Augen geweint, seine Wangen netzte und mancher glühende Kuß auf seinen Lippen brannte. Die Zeit hatte Flügel, der Tag der Trennung brach heran, und von Glückwünschen und tiefinnigen Grüßen begleitet bestieg Harry das Schiff, welches ihn nach Rio de Janeiro tragen sollte.

In dem Staate Mississippi, hart an dem steilen hohen Ufer des Stroms gleichen Namens lag die alte Stadt Natchez, welcher in den letzten Jahren ein mächtiger Aufschwung zu Theil geworden war. Durch gute Verbindungswege in das Innere des Staates selbst, sowie in das gegenüberliegende reiche Louisiana war plötzlich der Handel in dieser Stadt so sehr gehoben, daß infolge davon die Zahl ihrer Bewohner sich wohl um die Hälfte vermehrt hatte. Neue Straßen erstanden in allen Richtungen wie durch einen Zauberschlag, prächtige Läden mit großen Schaufenstern reihten sich aneinander und auf den Trottoirs vor denselben drängten sich wogende Menschenmassen in geschäftiger Eile auf und nieder. Das Werft am Flusse war um das Doppelte vergrößert worden, Segelschiffe, Dampfer und riesige Produktenkähne aus den nördlichen Staaten kamen und gingen, und Güter aller Art lagen in ungeheuern Massen am Ufer hin aufgestapelt. Das Geschäftsgewühl belebte Natchez bis spät in die Nacht hinein, wo dann die wilden lärmenden Klänge amerikanischer Lustbarkeiten die Stadt durchtönten. Reichthümer wurden erworben und Reichthümer vergeudet. Mit dem Zuströmen von Arbeits- und Verdienstlustigen hatte sich aber auch eine ungeheure Zahl von Taugenichtsen und Schwindlern eingefunden, um auf Kosten der Arbeitenden zu leben, und infolge ihrer Gegenwart war Natchez durch die ganzen Vereinigten Staaten als ein Ort bekannt geworden, welcher sehr gute Aussichten für junge Advocaten biete. Dieser Stand war nun auch wirklich sehr reichlich und in jeder Qualität vertreten, der angesehenste und berühmteste Rechtsgelehrte aber in der Stadt blieb immer der langjährige Bürger derselben, Herr Portman.

Dessen Geschäftslokal oder Office befand sich dem Gerichtsgebäude gegenüber in einem der ältesten Häuser der Stadt, und zwar zu ebener Erde, sodaß man von dem Trottoir direct in das Arbeitszimmer eintrat. Dasselbe war sauber geweißt und mit den allergewöhnlichsten Möbeln versehen. In einem großen einfachen Schreibtisch, einigen hölzernen Armsesseln, einem Schaukelstuhl und einem hohen weißangestrichenen Schrank, um Papiere und Acten darin aufzubewahren, bestand die ganze Ausstattung des Geschäftszimmers dieses bis weit in den Norden hinauf berühmten Mannes. Allerdings hielt derselbe sich nur während einiger Sprechstunden des Vormittags hier auf und empfing die meisten Besuche in seiner prächtigen Privatwohnung.

Während der Zeit nun, daß er nicht selbst in seiner Office zugegen war, wurden seine Geschäfte dort durch einen Candidaten der Rechtswissenschaft besorgt, wie dies überall in den Vereinigten Staaten Gebrauch ist. Junge Juristen arbeiten zu ihrer praktischen Ausbildung immer noch einige Zeit bei einem bewährten Rechtsgelehrten, ehe sie selbstständig als Advocaten vor die Schranken treten.

Der junge Mann nun, der sich regelmäßig des Morgens neun Uhr in der Office des Herrn Portman einfand und dort bis zwei Uhr dessen Geschäfte wahrnahm, war Albert Randolph. Kurze Zeit, nachdem er in Philadelphia seine Studien beendet hatte, war sein väterlicher Freund Herr März gestorben, und durch dessen Tod waren die Bande gelost, die den jungen Mann an sein Haus fesselten.

Es war immer Albert's Absicht gewesen, sich in einem der südlichen Staaten niederzulassen, und der große Ruf, den Portman als Advocat hatte, veranlaßte ihn, demselben einen Besuch zu machen und ihm seinen Wunsch, einige Zeit unter seiner Leitung arbeiten zu dürfen, persönlich vorzutragen. Portman, dem er schon als Dichter und Schriftsteller bekannt war, hieß ihn freudig vollkommen, zumal da zufällig sein Gehülfe im Begriff stand, ihn zu verlassen.

Albert widmete sich hier ausschließlich seinem Fachstudium und blieb von aller Oeffentlichkeit und von allen Gesellschaften fern, so vielseitig man sich auch um seine Bekanntschaft, um seinen Umgang bemühte. Portman's Familie war die einzige, in der er mitunter einen Abend verbrachte, und auch hier war es die belehrende Unterhaltung mit dem alten Herrn, die ihn dazu veranlaßte. Er bewohnte ein Privatlogis im zweiten Stocke eines alten Hauses, welches an einem kleinen, mit herrlichen Blütenbäumen umgebenen Platze stand. Hier in seinem nett eingerichteten kleinen Arbeitszimmer verbrachte er die Abende und einen großen Theil der Nächte an dem Schreibtisch, nachdem er von dem Spaziergange zurückgekehrt war, den er nach dem im Hotel eingenommenen späten Mittagsessen zu machen pflegte. Es war seine Gewohnheit, abends, wenn die Dämmerung hereinbrach, ehe er die Lampe anzündete, sich in das Fenster zu legen und seinem Geiste sowie seinem Auge einige Ruhe zu gönnen. Gleichfalls that er dies des Morgens, ehe die Sonne brannte, wenn noch die Kühle der entflohenen Nacht erfrischend in sein Zimmer wehte. Da nun die Abend- und Morgenluft überhaupt Jedermann nach den Fenstern, Balkonen und auf die hohen Treppen vor den Häusern lockte, so kam es, daß Albert bald nach seinem Einzug in seine Wohnung alle Persönlichleiten in seiner Nachbarschaft vom Sehen kennen gelernt hatte, ohne sich jedoch für eine derselben besonders zu interessiren. Unter andern war ihm ein ältlicher Herr aufgefallen, welcher ein prächtiges Haus gegenüber an der andern Seite des Platzes bewohnte und welcher, wie es schien, ein alter Junggeselle oder ein Wittwer war, denn außer ihm und der farbigen Dienerschaft hatte Albert niemals Jemand in das große Gebäude ein oder aus gehen sehen. Dieser Mann, ein angehender Fünfziger von kleiner, sehr corpulenter Gestalt, zeichnete sich immer durch eine ganz besonders gewählte, seine Toilette aus. Er liebte sehr das Bunte, denn sein Frack, seine Weste und sein Beinkleid standen bezüglich der Farbe stets im grellsten Widerspruch. Dabei hielt er auf blendend weiße Wäsche; der hohe Hemdekragen umgab seinen fetten rothen Hals wie ein Schneereif, unter welchem ein himmelblaues oder leuchtend rothes seidenes Tuch in leichtem Knoten verschlungen lag, den großen Brillant aber nicht bedeckte, der auf dem fein gefalteten Busenstreif blitzte. Das prächtige Haus, welches er bewohnte, die zahlreiche Dienerschaft und die herrliche Equipage, welche er hielt, zeugten von Reichthum und sein Gang und sein Benehmen von Stolz. Er grüßte sehr selten und dann nur sehr reiche Leute, für die andern schien er durchaus keinen Blick zu haben. Der alte Herr verließ regelmäßig des Morgens gleich nach dem Frühstück sein Haus und begab sich nach einem Leseclub, um die neuen Zeitungen durchzusehen. Dabei hatte Albert ihn oft aus seinem Fenster lächelnd beobachtet und ihn immer für einen großen Thoren gehalten, weil er trotz seines vielen Geldes nur mit wenigen Leuten Umgang pflege und darum sein Leben nicht halb genieße. Er hatte ihn Dandon nennen hören, das war Alles, was er von ihm wußte.

Eines Abends gegen zehn Uhr kam Albert von Portman's, wo er zum Thee geblieben war, nach Hause und begab sich sogleich an seinen Schreibtisch, um noch einige Stunden zu arbeiten. Es war so still und traulich um ihn her, er fühlte sich so leicht, so wohl, und seine Stimmung wollte sich durchaus nicht mit der trockenen Juristerei vertragen. Er konnte seine Gedanken heute nicht an die Worte der Gesetzsammlung fesseln, und wenn er sie mit Gewalt auf dieselbe hinlenkte, so machte er im nächsten Augenblick einen Reim, einen Vers darauf. Die Poesie behielt diesmal die Oberhand, die Bücher wurden beiseite geschoben, seine Blicke hefteten sich auf das Blatt Papier vor ihm und auf den Flügeln der Phantasie zog seine Seele nach des Dichters Welt.

Da huschte ein großer buntglänzender Nachtschmetterling über das Papier und flatterte dann um das helle Glas der Lampe. Albert fuhr auf und schaute den bethörten Fremdling an, der wahrscheinlich in der schönen

Flamme, die ihn herbeigelockt, den Tod finden würde. Der Nachtvogel aber schien die Gefahr zu erkennen und schwirrte plötzlich wieder durch das offene Fenster in die Dunkelheit hinaus. Albert's Blick folgte ihm nach und blieb auf mehreren hellen Lichtern haften, deren Schein von der andern Seite des Platzes her die Finsterniß durchdrang.

»Ist das nicht in Dandon's Haus?« dachte Albert und schaute schärfer hinüber.

Freilich waren es Fenster in Dandon's Haus und zwar in dem ersten Stock, in welchem Albert noch niemals Licht bemerkt hatte.

Er stand unwillkürlich auf, trat an das Fenster und sah nun, daß das Balkonzimmer in jenem Gebäude hell erleuchtet war. Die Vorhänge waren zurückgezogen, die Altanthür stand auf und durch diese glänzte die große lichtverbreitende Kuppel einer Lampe, welche auf dem Tische vor dem Sopha stand.

Wem mochte diese Beleuchtung wohl gelten? Hatte Dandon Besuch angenommen?

Albert hatte eine Zeit lang so gestanden und neugierig hinübergesehen, als plötzlich eine weibliche Gestalt in weißem, luftigem Gewände in dem Lichtscheine erschien und wie schwebend durch das Gemach glitt. Ueberraschung durchzuckte Albert und er hielt seine Augen spähend auf das Fenster geheftet, neben welchem die Erscheinung verschwunden war.

Wer konnte die Dame sein? Unmöglich war sie die Frau des alten Dandon, denn hatte Albert sich nicht sehr getäuscht, so war sie noch ganz jung.

Da zeigte sie sich abermals hinter dem Fenster und ging nach dem Tische, auf welchem die Lampe stand. Das blendende helle Licht fiel nun auf ihre hohe Gestalt, doch da sie sich von Albert abgewandt hatte, so konnte er von ihrem Gesicht nichts sehen. Unbeweglich aber hielt er seinen Blick auf sie gerichtet, indem er von Augenblick zu Augenblick erwartete, daß sie sich mehr seitwärts wenden werde. Jetzt hob sie ein Papier, wahrscheinlich einen Brief, dem Lichte näher, und weißer als ihr Gewand, weißer als das Papierblatt glänzte wie ein selbstleuchtender Gegenstand ihre Hand zu Albert herüber.

Schnell sprang er nach dem Schreibtisch, nahm ein Opernglas aus demselben hervor und eilte, dasselbe vor sein Auge hebend, wieder an das Fenster. Da stand die Unbekannte nun so klar und deutlich vor ihm, als befinde er sich in ihrer unmittelbaren Nähe. Ihre Hand aber fesselte wieder seinen Blick. Er hatte schon manche schöne Hand besungen, wie weit aber blieb alle seine Poesie gegen diese Wirklichkeit zurück! Wie graziös berührten sich ihre langgestreckten, spitz zulaufenden Finger an dem Papier, wie leicht und schön gebogen hob sie das Handgelenk und wie reizend schaute der zarte Arm aus dem durchsichtigen Spitzenärmel hervor! Es war Albert, als brauche er sich nur vorzuneigen, um seine Lippen auf die Lilienhand zu drücken, so nahe, so deutlich sah er sie vor sich. Und immer noch wollte die Eigenthümerin derselben sich nicht wenden, immer noch sollte er ihr nicht in das Antlitz schauen! Ob die Schönheit ihrer Züge wohl mit der ihrer Hand in Einklang stand? Ihr Kopf war klein und edel gebaut, und zwischen den reichen braunen Locken, die an dessen Seite auf ihre Schultern herabfielen, schaute ein zierlicheres Ohr hervor, als Albert je eins in seinem Leben gesehen hatte.

Seine Ungeduld steigerte sich von Sekunde zu Sekunde, er mußte sich an den Fensterrahmen anlegen, um das Glas vor seinen Augen fest auf sie gerichtet zu halten, und dennoch begann ihr Bild sich durch das angestrengte Sehen vor seinem Blick zu verwirren. Er entfernte das Glas von seinen Augen, um diesen für einen Moment Ruhe zu geben. In demselben Augenblick aber bewegte sich die Fremde und ergriff die Lampe. Albert konnte in der Hast mit dem Glase die Richtung nach ihr nicht gleich finden, die Fenster und die Thür des Salons verdunkelten sich und die interessante

Unbekannte war verschwunden. Dagegen erhellten sich nun die Fenster in dem Zimmer neben dem Salon, die neidischen weißen Gardinen aber, welche hinter denselben herabhingen, wiesen Albert's suchenden Blick zurück. Dennoch verließ er seinen Platz am Fenster nicht und schaute wieder und wieder durch das Glas nach dem Zimmer, in welchem er jetzt die junge Dame vermuthete. Ihr so gänzlich unerwartetes Erscheinen, das Geheimniß, welches noch auf ihrer Person lag, und das Edle, das Vornehme in ihrem ganzen Aeußern hatten in Albert ein lebendiges Interesse für sie erzeugt, und was von ihrer Schönheit seinem Blick noch vorenthalten war, das malte ihm seine Phantasie mit den prächtigsten, glühendsten Farben aus. Da erschien plötzlich ein Schatten auf dem Vorhange. Albert betrachtete ihn durch das Glas und erkannte in ihm deutlich die Gestalt der Fremden. Bald darauf aber erlosch das Licht ihrer Fenster, und Albert sah sie im Geiste, wie sie auf weichem Pfühle dem Schlafe in die Arme sank.

Morgen früh mußte er sie wiedersehen, sicher würde sie an das offene Fenster oder vielleicht auch auf den Balkon treten, und dann, bei hellem Tage, wollte er, ungesehen von ihr, sie genau betrachten. Wie aber, dachte er, wenn sie statt jung und blühend alt und verwelkt und statt reizend und schön abschreckend und häßlich wäre?

»Nun, so bleibt mir doch ihre Hand, ihre wundervolle Hand noch zu besingen!« sagte er halblaut, indem er das Opernglas auf den Schreibtisch stellte, die Lampe ergriff und in sein Schlafzimmer eilte, um dem Beispiel der geheimnißvollen Schönen zu folgen und im Traume ihr Bild noch weiter auszuschmücken.


 << zurück weiter >>