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Des zweiten Buches Schlußkapitel:
»Erinnerungen.«

Incognita.

Ich wollte zum Zahnarzt. Ich hatte den Gang schon zweimal verschoben. Heute sollte mich auch der Regen nicht zurück halten. Ich brauchte ja nur bis zur Haltestelle der Elektrischen zu Fuß zu gehen; dabei konnte ich mich unter den dichtbelaubten, schützenden, jungen Kastanienbäumen halten, die den Bürgersteig säumten. Und ich hatte ja meinen Schirm.

Da seh' ich – vielleicht hundert Schritte von mir entfernt – unter einem der jungen Kastanienbäume eine junge Dame stehen. Ganz in Weiß bei dem Regen. Und ohne Schirm. Soviel lässt mich meine Kurzsichtigkeit bereits erkennen. Ob sie hübsch sein wird? Schirmlose Regenmädchen sind niemals hübsch ...

Man soll niemals niemals sagen.

Als ich näher kam, sah ich, dass die Dame unterm Kastanienbaum eine Schönheit war; eine zarte Blondine mit perlmutterartig klarem Teint, mit großen, dunkelblauen, intelligenten Augen und einer so graziösen, modern-schlanken Figur, dass nicht einmal das unmoderne eintönige Weiß ihres Kleides die Vorzüge der Gestalt beeinträchtigen konnte.

Ich besann mich keinen Augenblick. Der Zahnarzt konnte warten. »Wenn Ihnen mit meinem Schirm gedient wäre, Gnädigste?«

Sie lächelte. »Gewiss. Ich nehme mit Dank an. Bis die nächste Droschke kommt.«

Ein kurzes Glück, dachte ich. Und noch etwas störte mich: sie sprach diesen Satz mit ihrer wohlklingenden, tiefen Stimme ein wenig sonderbar. Fast so wie man Auswendiggelerntes hersagt. immerhin: sie war sehr hübsch. Das bleibt für uns Männer im ersten Augenblick immer das Ausschlaggebende. Und dann sagte ich mir, dass bei Regenwetter die leeren Droschken immer etwas Seltenes sind. Vielleicht zog sich mein Glück doch ein wenig in die Länge. Wenn mir nur eine Viertelstunde Zeit blieb – o, man ist schließlich nicht allzu ungeschickt –, dann würde ich schon ein Wiedersehen mit ihr ...

»Ich darf Sie also zum nächsten Halteplatz begleiten, gnädiges Fräulein?«

»Nicht doch. Ich möchte lieber hier warten, bis ein Wagen vorüberkommt.«

»Darf ich Ihnen so lange Gesellschaft leisten?«

»Da ich Ihren Schirm und Schutz angenommen habe –« Seltsam. Es klang wieder ein wenig nach Auswendiggelerntem. »Aber tun Sie mir einen Gefallen, mein Herr. Stellen Sie sich mir nicht vor. Ich denke, daß ich es mit einem Gentleman zu tun habe. Das genügt mir. Und Ihr Scharfblick wird auch schon mich durchschaut haben. Nun – wer bin ich?«

Nun gefiel mir ihre Art. Ich ging darauf ein: »Sie sind eine kunstbeflissene Dame; dem Dialekt nach aus Thüringen; Sie haben eine hübsche Altstimme, studieren Gesang, wollen zur Bühne und wohnen in einem netten, kleinen Pensionat hier in der Nähe.«

»Beinahe richtig«, stimmte sie mir bei. »Nur bilde ich mich nicht für die Bühne aus, sondern für den Konzertsaal. Und wohne nicht in der Nähe, sondern am anderen Ende der Stadt.«

»Und wollten soeben zu Ihrer Wohnung fahren? Das freut mich. Da kann ich Sie jetzt recht weit, recht lange in dem Wagen begleiten! Widersprechen Sie nicht! Es könnte noch regnen, wenn Sie aussteigen müssen. Und es wäre schade um jeden Tropfen, der auf das empfindliche Kostüm fällt.«

»Ihre Liebenswürdigkeit geht entschieden zu weit, mein Herr«, sagte sie. Aber der Tonfall markierte, daß das keine Ablehnung war, sondern eine Annahme. Und merkwürdig, wieder klang es wie auswendig gelernt. Ob dieser Klang zur Gewohnheit werden kann bei einer Sängerin, die gewiß viele Liedertexte beim Auswendiglernen oft vor sich hinspricht?

»Welche Adresse kann ich dem Kutscher sagen, – wenn einer da sein wird?«

»Es ist eine sehr abgelegene Straße.« Sie nannte einen Namen, den ich nicht kannte. »Sie müssen dem Kutscher ausführlich erklären –« Und nun belehrte sie mich, wie die abgelegene Straße zu finden sei – so – und so – und so – und so.

Glücklicherweise hatte der Regen noch immer nicht nachgelassen. Eine freie Droschke kam vorüber. Ich rief den Kutscher an und belehrte ihn, wie er zu fahren habe – so – und so – und so – und so.

»Sie haben ein gutes Gedächtnis!« rief mir dann mein schöner Schützling zu, der inzwischen im Wagen Platz genommen hatte.

Ich durfte mich neben sie setzen.

Und was sie nun sprach, klang durchaus nicht mehr nach Auswendiggelerntem. Es kam eine reizvolle, geistreiche Unterhaltung zwischen uns zustande. Meine hübsche Nachbarin war gebildet und gescheit, lustig und lieb – bevor eine Viertelstunde vorüber war, hatte ich mich bis über beide Ohren in sie verliebt. Ich sagte ihr die kühnsten Schmeicheleien. Ich drang in sie, daß sie mir ein Wiedersehen versprechen müsse. Und als wir in der Nähe ihrer Wohnung angelangt waren, hatte ich sie wenigstens so weit gerührt, daß sie noch nicht sofort nach Hause fuhr, sondern mit mir zunächst noch ein halbes Stündchen in der nächsten Konditorei verbringen wollte, deren Adresse ich dem Kutscher zurufen durfte.

Der Wagen hielt, ich sprang höflich heraus und reichte beglückt meiner Dame die Hand, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein ...

Und nun kommt der Wendepunkt dieser Geschichte.

Ich will den Schrecken, den ich in jener Minute erlebte, nicht ausmalen.

Ich will es kurz heraussagen: als sie aus dem Wagen stieg, sah ich, daß ihr linkes Bein nicht in einem lebendigen Fuße endigte, sondern in einem toten, der aus Holz gemacht war.

Zum erstenmal sah ich sie nun einen Schritt tun. Sie humpelte schwerfällig vor mir her durch den Verkaufsraum der Konditorei nach einem kleinen Nebenzimmer, wo vier unbesetzte Marmortische standen.

»Wollen wir uns hier ans Fenster setzen?« fragte sie, indem sie sich schon niederließ. Der Ton einer erzwungenen Harmlosigkeit lag in dem kurzen Fragesatz. Es klang, als ob sie in Wirklichkeit sagen wollte: »Nun, mein neuer Freund, jetzt rieselt's dir wohl eiskalt den Rücken runter? Jetzt gäbst du wer weiß wie viel, wenn du mich nicht angeredet hättest? Jetzt ist sie aus, die feurige, junge Liebe?«

Wie es mir leid tat, dieses schöne Mädchen mit dem häßlichen, entstellenden Fehler! Wie entsetzlich mußte es für dieses kluge Geschöpf sein, durch seine Reize die Männer zu bestricken, und sie später durch die Offenbarung jenes Fehlers aufs grausamste zu ernüchtern! Nun begriff ich das eisige Lächeln, das sie vorhin für mich hatte, als ich sagte, ihre Gestalt gehöre nicht in den Konzertsaal, sondern auf die Opernbühne ... Unter dem fürchterlichen Zwang dieses Fehlers mußte ihr junges, blühendes Leben verwelken. Ich war erfüllt von der einen Empfindung: wie sie mir leid tut, wie sie mir leid tut!

Da hörte ich ihre tiefe volle Stimme zu mir sagen: »Armer Freund, Sie tun mir leid!«

Und ich war so unvorsichtig, zu antworten: »Wie? ... Ich Ihnen? ...«

Ohne eine Spur von Gekränktheit antwortete sie: »Ja. Mit Ihnen hätte ich das Spiel nicht treiben dürfen.«

»Ein Spiel?« Verlegen rührte ich den Kaffee in der Tasse, die ich nun vor mir stehen sah. »Ein Spiel?«

Sie antwortete: »Ein Spiel. Wischen Sie sich die Tränen aus den Wimpern, lieber Freund. Es könnte jemand hereinkommen. So. Und nun will ich Ihnen alles sagen. Bei dem Bahnunglück, das mir diesen Denkzettel ließ, war ich fünfzehn Jahre alt. Mit sechzehn war ich geheilt. Vier Jahre ist's her ... Schon als zwölfjährigem kleinen Ding waren mir die Männer nachgelaufen. Vom Knaben bis zum Greis. Alle ... Als ich geheilt war, wollte mir keiner mehr nachlaufen. Ich machte noch immer Eroberungen, aber nur im Sitzen oder im Stehen. Einen Schritt – und die »Eroberung« war ... erledigt. Da wurde ich grausam. Und schließlich bildete sich – vor vielleicht zwei Jahren – eine, nun sagen wir: eine feste Methode bei mir aus. Manchmal ziehe ich bei Regenwetter ein diffiziles Kostüm an, stelle mich ohne Schirm auf die Straße, stehe still, bis ein Mann mich anspricht, gestatte ihm, mich im Wagen zu begleiten und lasse ihn dem Kutscher eine –«

Hier stockte sie. Ich sah sie schweigend an.

Sie fuhr fort. »Gerade weil Sie mich nicht danach fragen, will ich Ihnen auch diese letzte Raffiniertheit gestehen. Ich veranlasse den Herrn, dem Kutscher eine so komplizierte Adresse zu geben, daß ich unterdessen in den Wagen steigen kann, ohne meinen Mangel zu zeigen. Nun macht die Droschke ihren weiten Weg, der dem jungen Manne Zeit läßt, sich recht gründlich in meine –« sie lachte trocken auf – »haha, in meine Vorzüge zu verlieben. Den Vorschlag mit dem Aussteigen und der kleinen Erfrischung, den Sie mir machten, den macht natürlich jeder. Beim Aussteigen kommt die Entdeckung. Und dann sitzen sie neben mir am Marmortischchen; das lodernde Feuer der jungen Liebe ist in den Augen erloschen; die Hände greifen und zerren nervös; das Gespräch wird immer verlegener; von dem zuvor heiß erflehten Wiedersehen wird nur noch in ablehnendem, bedauernden Sinne geredet; Mangel an Zeit wird vorgespiegelt; eine bevorstehende Reise; vielleicht gar das Wechseln des Wohnorts. Und ich sitze daneben, höre allen Schwindel gläubig mit an und denke mir meinen Teil über die Männer, über das Glück, über die Liebe – haha! und über die Treue!«

Mit einemmal wußte ich, warum vorhin ihre ersten Sätze nach Auswendiggelerntem geklungen halten. Die Methode! Die oft erprobte Methode!

»Mit Ihnen hätt' ich das Spiel nicht treiben sollen,« begann sie nach einem kurzen Schweigen. »Es hat Sie zu tief erschüttert. Wir wollen gehen ... Nein!« verbesserte sie sich rasch. »Nicht wir! Sie gehen. Allein. Damit Sie es nicht zum zweitenmal sehen müssen.«

»Aber ich will es sehen,« widersprach ich. »Und noch oft will ich es sehen. Bis ich mich vollständig daran gewöhnt habe und wir gute Freunde werden können.«

»Nein,« beharrte sie, »ich würde in Ihrer Freundschaft nur den Vorwurf schauen, den mir Ihre enttäuschte Liebe macht. Wir sehen uns nicht wieder. Oder ja ... da Sie darauf bestehen ... schön. Nur: die nächsten Tage hab' ich sehr wenig Zeit ... und dann hab' ich eine kleine Reise vor ... und wer weiß, ob ich überhaupt nicht sehr bald gezwungen bin, meinen Wohnort zu wechseln ...«

»Kurz: alles was sonst Ihnen vorgeredet wird, gnädiges Fräulein, all das geben Sie heute mir zum besten.«

»Weil ich wußte, daß Sie es durchschauen. Und daß Sie verstehen, was es heißen soll.«

»Es soll heißen,« ergab ich mich, »daß wir uns nicht wiedersehen, und daß ich jetzt gehen soll.«

»Und nehmen Sie ein letztes Wort mit: ich bin nicht unglücklicher als die gesunden Frauen sind. Auch sie müssen das gleiche erleben: sie sehen, wie der Mann sich verliebt, sie kosten eine Zeit des Glückes, fürchten sich vor dem Erwachen, solange der Rausch währt, und dann kommt das Unglaubliche: das Erwachen, die Enttäuschung, die Ernüchterung. Bloß daß es bei den Gesunden eine Woche, einen Monat, ein Jahr dauern kann. Bei mir währt die ganze Herrlichkeit eine einzige Stunde – und alles Leid ist vorüber. Was die Gesunden in langer Zeit auskosten, das genieße ich als konzentriertes Erlebnis. Aber im Grunde genommen ist beides genau das Gleiche. Ich bin nicht unglücklicher als die andern.«

Sie reichte mir die Hand. »Und nun gehen Sie!«

Ich erhob mich gehorsam, nahm in die Linke Hut und Schirm, und griff mit der Rechten nach dem Kassenzettel, den der Mann mit der weißen Schürze vor mich hingelegt hatte.

»Wischen Sie sich noch rasch mit dem Taschentuch über die Augen,« flüsterte sie mir zu, »was soll das Fräulein an der Kasse sonst von Ihnen denken!«

Gustav Hochstetter.

 

An meine liebe Frau.

Wo du bist,
Da ist der Sonnenschein,

Wo du lebst,
Stellt sich der Frühling ein,

Wo du wirkst,
Erblühen die Blumen schnell,

Wo du weilst,
Erklingt das Leben hell.

Dein froher Sinn
Färbt alles rosenrot;
Wenn ich dich nicht hätt' ...
Ich wäre lange tot.

Ludwig Barnay.

 

Ausverkauf.

Kleiner mit den Schelmengrübchen
Und den Flüglein weiß wie Schnee –
Zeit zur Trennung ist's mein Bübchen,
Und wir sagen uns Ade.
Alter schickt mir schon Gespenster;
Das Geschäft, ich geb' es auf.
Häng den Zettel noch ins Fenster
Mit der Meldung: Ausverkauf.

Fest entschlossen – um zu räumen –
Geb' im Ramsch ich billigst fort
Diesen Rest von süßen Träumen
Und die Hochgefühle dort;
Matte Blicke, heiße Schwüre,
Das verliebte Ungemach:
Tausend Schmerzen – bei der Türe
Stehn zwei Ballen Weh und Ach.

Fort mit Schaden! wer will bieten?
Küsse, süß wie Honigseim,
Liebeslieder-Requisiten:
Feurig Wort und Klingelreim;
Schmeichelei, um anzubandeln –
Händedrücke geb' ich zu –
Alles will ich rasch verhandeln,
Und dann setz' ich mich zur Ruh.

Und du läßt mich ungeschoren,
Hörst du wohl? Notier dir's ja,
Denn ich zieh dich bei den Ohren,
Kommst du wieder mir zunah.
Endlich will ich weise werden
Nach der Jugend Tändelei'n;
Höhres gibts für mich auf Erden,
Als, du Fratz, dein Narr zu sein –

Halt! – na na, ich war zu heftig.
Geht der Krempel reißend – ah –
Assortiere das Geschäft ich
Doch vielleicht noch hie und da –
Wir sind jetzt getrennt, mein Lieber,
Dabei bleibts; ich bin kein Tor –
Aber – kommst du just vorüber ...
Weißt du, sprich doch manchmal vor!

Victor Blüthgen.

 

Liebesbriefe.

Ob aus Schicksals Tiefen
Leid und Schwermut steigt,
holden Liebesbriefen
bleibt mein Herz geneigt.

Durch das graue Leben
sonnenzitternd fein,
veilchenduftig schweben
sie geschwind herein.

Blättchen eng beschrieben
links und rechts am Rand,
wie wir fern uns lieben,
stets doch beieinand.

Kritzel in den Ecken –
Schau nur hin genau!
Amoretten stecken
gern im Winkel schlau.

Amoretten klettern
lustig und verschmitzt
kichernd über die Lettern;
keck ihr Äuglein blitzt.

Wo der losen Schliche
sich ihr Schelmherz schämt,
durch Gedankenstriche
wird der Stil gezähmt ...

Wenn der Mund versagen
sich dem Munde muß –
Läßt den Schmerz ertragen
ein geschrieb'ner Kuß.

Vorsicht schließt den Riegel,
hat's noch nie bereut ...
Gestern rotes Siegel,
grünes Siegel heut ...

Karl Henckell.

 

Szene.

Sie haben sich wiedergesehn.
In Gesellschaft, irgendwo.
Alles comme il faut
Vom Scheitel bis zu den Zeh'n.

Sie erhob die Augen und gab
Die Hand ihm voll kühler Ruh –
Ein paar Worte dazu –
Dann fielen die Wimpern herab.

Aber ihre Seele tauchte
In diesem einzigen Blick,
Der keine Sekunde brauchte,
Viele Jahre zurück.

Und zwischen dem Steigen und Fallen
Des Vorhangs dieser Lider,
Mitten im Saal unter Allen,
Sahn sie sich plötzlich wieder:

Nackt – wild – toll –
Verschlungen in Liebesrasen,
Wie sie sich einst besaßen
Lange Nächte voll – – – –

Ein Lächeln alter Bekannter ...
Dann küßte er galant
Ihr die behandschuhte Hand.
Und sie gingen kühl auseinander.

A. De Nora.

 

Katalog der Eide.

Der kleine Reise-Schwur. Ein Ehrenwort, bei dem zwischen ja und nein kein Unterschied ist.

Der Schlau-Eid. Ein Falscheid, dem der § 193, Wahrung berechtigter Interessen, schützend zur Seite steht.

Der Eid mit Nebenluft. Vom Jesuitenkollegium approbiert und bei allen ihren Filialen zum vollen Wert angenommen.

Der 24 PS. Eid. Ein Schwur, mit dem man sehr rasch vorwärts kommt und unter Umständen ebenso rasch um die Ecke geht.

Der Eid m. b. H. Ein Schwur, für dessen Richtigkeit der Schwörende eine beschränkte Haftung übernimmt.

Der olle ehrliche Schwur. Wird mit dem Brustton der Überzeugung abgegeben und bisweilen von Richtern in jüngeren Amtsjahren geglaubt.

Der zusammenstellbare Eid. In einem Schwur können Eide verschiedener Nichtigkeitsklassen vereinigt werden; die Summe der falschen darf aber nicht größer sein, als die Hälfte der Summe der richtigen. Die Eide müssen in ununterbrochener Reihenfolge entweder von vorn nach hinten oder von hinten nach vorn geschworen werden. Im Falle der Verurteilung: Kein Freigepäck zur Haftstation.

Der lenkbare Schwur. In niederen Schichten nicht zu gebrauchen. Ist man erst ordentlich hoch, so wird er lenkbar und gehorcht dem Willen des Schwörenden auf den leisesten Zweifingerdruck, vorausgesetzt, daß der aus andern Zeugenaussagen wehende Gegenwind nicht zu stark wird.

Der gefärbte Eid. Grundfarbe: blau. Spezialität der Leute, die das Blaue vom Himmel herunterschwören.

Alexander Moszkowski.

 

Syringenduft.

Im Garten hinter der Mauer –
sind so viel Syringen drin – –
und weiß wie ein Blütenschauer
wehts über die Seele hin.

Schaut nicht aus dem lichten Gezweige,
vom glänzenden Grün umlaubt,
lieblächelnd zur Tagesneige
ein blondes geliebtes Haupt?

Und dann – aus dem Pförtlein der Mauer –
wie immer im blassen Gesicht
den heimlichen Zug der Trauer
du selber, so schlank und licht?

Deine Hände wollen mir bringen
den Strauß, den dein Herz mir gibt ...
du hast die weißen Syringen
so über alles geliebt.

Und du selbst – in früher Reife –
in tiefster Seele wahr –
die schwarze Samtbandschleife
im blonden Wellenhaar, –

mit Augen, umflort von Leide,
arm – nur an Liebe reich,
warst in dem weißen Kleide
einer zarten Syringe gleich.

Deine Füße – wie Kinderfüße ...
– wo du gingst, da war die Luft
immer voll Sang und Süße
und weißem Fliederduft ...

* * *

Hinter der grauen Mauer,
da liegt ein weites Feld –
das ist das Feld der Trauer,
vom Totengräber bestellt.

Und einmal – im Abendprangen,
da bist du – zerwühlten Haars –
heimlich von mir gegangen – –
ein Abend im Frühling war's.

Der Mann mit der eisernen Schippe,
der grub so tief dich ein ... –
da schläfst du mit lächelnder Lippe,
und ich – bin – ganz – allein ...

Die Frühlinge kommen und gehen
und kommen mit Glanz und Glühn,
und flüsternde Winde wehen,
und die Syringen blühn.

Sie schützen den Ruhehafen,
sie wuchern um deine Gruft,
sie wissen – du kannst ja nicht schlafen
ohne Syringenduft ...

Eugen Stangen.

 

Abend bei Klothilde.

Draußen bläst der Wind in den Schnee,
Flatterndes Flockengestiebe –
Klothilde schenkt Karawanentee
Und spricht von unserer Liebe.

Du liebtest viel in der Welt herum,
Und was – daß Gott erbarme!
Und hattest Mädel blond und dumm
Besonders gern im Arme.

Das Mieder voll, das Köpfchen hohl,
Im Hause die Hand am Besen.
Die letzte – na, hör' mal – ist ja wohl
Gar irgendwo Stütze gewesen.

Nun hast du die Torheit abgestreift
Und weißt dich zu konzentrieren;
Du liebst, was geistig und sittlich gereift
Und von ästhet'schen Manieren.

Nun liebst du tief und innerlich
Und was dir das Sehfeld erweitert –
Du liebst mit einem Worte mich
Und hast dich seelisch geläutert.

Dein animalisches Liebespläsier,
Dein Traum verbummelter Lenze
War nur ein taumelndes Irren nach mir,
Die ich dich harmonisch ergänze.

Ich suche der Dinge tiefsten Kern
In reiner Gedanken Kühlung;
Ich bin bis tief auf die Knochen modern
Und steh' mit den Besten in Fühlung.

Ich teilt' Ellen Key mich brieflich mit
Und schwärmte mit Nietzsche titanisch;
Ich hörte den Faust bei Erich Schmidt
Und malte bei Orlik japanisch.

Ich las die Weden so nebenbei,
Sanskrit kommt wieder in Mode;
Und lernte bei Strakosch den Wolterschrei
Noch kurz vor seinem Tode.

Ich übe Solfeggien am frühen Tag
Und münze mein Gold in der Kehle
Und schreibe jetzt für den modernsten Verlag
»Aus Urabgründen der Seele«.

Aus diesen Versen sollst du jetzt
Das Allerheiligste wissen ...
Sie sprach's und hat sich zurecht gesetzt
In sieben Libertykissen.

Sie griff nach Blättern und las und las
Und tat sich sehr erregen –
Ich aber träumte und vergaß,
Wie, wo, warum und weswegen.

Und ihrer hohen Gedanken Zier
Und ihre empörten Gefühle,
Das alles kam nicht anders zu mir
Wie das Klappern aus einer Mühle.

Ich sah einen Garten, ein Läubchen darin,
Rings glühten die Königskerzen;
Da lag ein Mädel mit Kindersinn
An meinem lachenden Herzen.

Und legt' mir einen Kranz um den Hut,
Den tät' der Wind zerstreuen,
Und sagt mir leise »ich bin dir gut
Und harr' auf dich in Treuen«.

Hat lange wartend auf mich gewacht
Und konnte kaum schreiben und lesen;
Hat niemals ein Gedicht gemacht,
Aber ist eins gewesen.

Rudolf Presber.

 

Der Schlüssel.

Über meinem Schreibtisch hängt ein Schlüssel von merkwürdiger Art. Vor Jahren, als ich von einer Reise aus dem Norden zurückkehrte, habe ich ihn dorthin gehängt, und seitdem hat sich der kurze, gedrungene Gesell kaum vom Nagel gerührt; höchstens wenn ihn der Federwisch meiner Haushälterin sanft gestreichelt hat, um den Staub zu entfernen, der sich namentlich in seinem kreuzförmig durchbrochenen Bart anzusetzen liebte. Gegen den ärgeren Gast, den Rost, half kein Streicheln, brauchte auch nicht zu helfen; und so hat der Schlüssel, ehedem blank vom Gebrauch, einen dunkelbraunen Anhauch erhalten, der in der Sache, in welcher der Schlüssel die Hauptrolle gespielt hat, ein Zeugnis für meine Unbescholtenheit bildet.

Den Schlüssel hat mir einst eine schöne Frauenhand gegeben; eine kraftvolle, weiße, schmale Hand.

Ich saß in einem sezessionistisch möblierten Zimmer auf einer harten Bank aus weichem Holz, die ebenso wie die anderen Möbel von einem bedeutenden modernen Künstler mit großen orangefarbenen Blumen bemalt war, dauerhaften Blumen, die doch kein Polster zu ersetzen vermögen. Ich gestehe, daß ich trotz meiner Gemütsverfassung die Bank sehr genau spürte; die Sezession ist erst einige Jahre später dahinter gekommen, daß Bequemlichkeit nicht nur das halbe Leben, sondern auch schon die halbe Schönheit ist.

Durch die Glastüre sah ich über das Gitter eines Altans hinweg in den Garten, der sich rings um das Haus zog, einen Garten mit Hecken, Sträuchern, Beeten, Lauben und ein paar alten Nadelbäumen. Die waren wohl noch von der Zeit her stehen geblieben, als die Ackersgade noch zu dem Waldbestand gehörte, der sich von der Höhe der die Stadt im Halbkreis umgebenden Berge bis knapp an den Fjord hinuntererstreckte.

Neben mir aber stand die schöne Gudrun in einem schwarzen Reitkleid – man weiß, wie Reitkleider sitzen! Besser als die Reiterinnen. Es saß auch besser als ich.

Gudrun stand mit dem Rücken gegen die offene Tür des nächsten Zimmers, in welchem ihr Mann kramte. Der gute Nielssen hatte heute noch manches vor. Er hatte noch einige Briefe zu schreiben und eine kleine Handtasche zu packen und sich in den Reitanzug zu stecken, denn obzwar er gegen Abend verreisen sollte, mochte Gudrun nicht auf ihren täglichen Reitausflug verzichten, auf welchen er, sonst ein Stubenhocker, sie gern begleitete. Von dem Grün des Gartens wandten sich meine Blicke zu den grünen Augen Gudruns empor. Und ihre Augen bohrten sich tief in meine; wie zwei Stahlbohrer waren sie.

Da oben im Norden lernt man Ibsen verstehen; man lernt verstehen, wie schwer die Frauen zu verstehen sind. In unseren Gegenden liegen sie vor einem, wie ein aufgeschlagenes Buch, aber im Norden sind sie rätselhaft. Vielleicht hätte ich sie besser verstanden, wenn ich Norwegisch gekonnt hätte. Ich hatte mich leider darauf nicht vorbereitet; auch mein Englisch war mangelhaft, während ich Deutsch sehr gut spreche. Doch das ließ wieder bei ihr viel zu wünschen übrig.

Aber wenn ich sie auch nicht recht verstand – wir verstanden uns. Sprach sie von ihrem Manne, dann zuckte es so geringschätzig, so höhnisch um ihre Lippen, daß ich mir genug zusammenreimen konnte. Und dann waren ja ihre Augen da, diese grünen, ibsenhaften Augen, und die Hand, die die meine blau drückte, und das Füßchen mit dem hohen Rist, das das meinige blau drückte. Ich wiederum wußte so melodisch deutsch zu sprechen, so eindringlich zu flüstern – nur ein halbes Wort manchmal – wußte so leidenschaftlich zu beben, daß sie über meine Empfindungen nicht im Zweifel sein konnte.

So kam denn der Moment, wo sie mir den Schlüssel zur Gartentür in die Hand drückte. Er schien mir glühend heiß und ich steckte ihn rasch in die Tasche. Der Schlüssel! O holdes Symbol der Offenbarung! Der widerstandslosen Übergabe! Und nicht bloß Symbol, nein, eherne Gewißheit! Er machte mich zum Herrn, wie mich dünkte, tatsächlich aber machte er mich zu seinem Sklaven. Ich empfand und dachte nichts als den Schlüssel.

Wie im Traum sah ich noch Gudrun und Nielssen ihre Pferde besteigen und mir freundschaftlich grüßend zuwinken. Dann ging ich, den Schlüssel in der Tasche von Zeit zu Zeit befühlend, langsam zum Fjord hinab, betrat einen kleinen Dampfer und ließ mich auf die unruhige See hinausfahren. Die Wellen schlugen manchmal spritzend über das Deck, ich aber stand unbeweglich, ein sicheres Ziel vor meinem Auge, ganz vorn am Bug. Ich starrte in die dunkel bewaldeten Ufer. Dort schimmerte Oskars Hall weiß hervor. Was war mir König Oskar! Hatte er meinen Schlüssel? Und wenn er mir dafür den Schlüssel zu seiner Schatzkammer angeboten hätte – den Schlüssel zur Kammer meines Schatzes hätte ich ihm nicht dafür gegeben.

Heute – nun – heute, – doch nein, auch heute nicht. (Heute hab' ich einen anderen Schlüssel.)

Wir fuhren weiter. Dort lugt die Villa Fridtjof Nansens heraus. Bevor ich den Schlüssel hatte, hegte ich die größte Hochachtung vor dem kühnen Mann. Nun konnte ich ihn nur bedauern. Er vermochte beinahe bis zum Nordpol vorzudringen – aber vor der Gartentür, zu der ich den Schlüssel besaß, hätte er unverrichteter Dinge umkehren müssen.

Der Abend war hereingebrochen. Der Wind legte sich, wir steuerten wieder dem Lande zu. Jetzt spürte ich, wie durchnäßt ich war – aber was tat das? Aus hellem Himmel leuchteten die Sterne herab, in grünlichem Glanz wie die Augen meiner Gudrun. Ich stieg ans Land, suchte das Klubrestaurant auf, in das der gute, gastfreundliche Nielssen mich einige Tage vorher eingeführt hatte, verzehrte den größten Hummer meines Lebens und spülte den letzten Bissen mit einem Glas Aquavit herunter. Damals war ich noch nicht Abstinenzler.

Endlich war es Zeit und ich machte mich auf den Weg, den ich mir sehr genau gemerkt hatte. Es war so heimlich still in der Luft, kein Mensch in dem vom Mittelpunkt der Stadt weit entlegenen Viertel zu erblicken. Von frohen und glühenden Phantasien erfüllt, schritt ich die Hecken entlang, bis ich an der Gartentüre stand, zu der ich den Schlüssel in meiner Hand hielt. Durch das Gesträuch sah ich das Haus, das wie in tiefem Schlummer lag. Aber ich wußte: Eine wachte!

Mit klopfendem Herzen hielt ich vorerst noch Umschau, spähte vorsichtig nach rechts und links – dann öffnete ich die Gartentüre.

Öffnete! Ja, wenn der Schlüssel sich gedreht hätte! Aber der Schlüssel steckte im Schloß, drehte sich nicht, wie sehr ich mich bemühte. Ich drückte mir die Finger wund, ich zog den Schlüssel immer wieder heraus und steckte ihn immer wieder hinein – er paßte. Aber das Schloß rührte sich nicht. Ich rüttelte an der Gartentür mit aller Vorsicht, ich stemmte mich gegen sie – es half nichts, sie blieb unerbittlich. Diese nordischen Gartentüren sind gezimmert wie die Wikingerschiffe: sie halten Jahrtausenden stand. Ratlos lehnte ich am Pfosten, der Schweiß perlte mir auf der Stirn. Was tun? Ich mußte Gudrun verständigen. Aber wie? Und wie konnte sie mir zu Hilfe kommen, ohne daß sie Gefahr lief, im Hause bemerkt zu werden? Ich wartete wieder eine Weile, dann erneuerte ich meine Anstrengungen – vergebens. Ich wartete wieder und sah das dunkle Haus an, als könnte ich die Wand mit meinen Augen durchdringen. Vielleicht, daß sich dort etwas regte oder ein Licht erschien – nichts. Ich zündete ein schwedisches Zündhölzchen an, wie Hero einst die Lampe ans Turmfenster stellte; aber Schweden verbrannte mir die Finger, damit ich sie mir nicht an Norwegen verbrenne. In stummer Wut blickte ich zum Himmel empor und begann die Sterne zu zählen, bis mir der Hals steif wurde. Noch einmal versuchte ich den Schlüssel – das Schloss rührte sich nicht.

G. P. Hasenclever: Des Pastors Kinder.

Und das wollte ein Schlüssel sein! Das wollte der Schlüssel sein, der mir den Weg zur Seligkeit öffnen sollte! Was ist ein Schlüssel, der ein Schloss nicht öffnet? Ein gemeiner Betrüger, ein niederträchtiges Nichts, ärger als ein Nichts. Adam und Eva sind aus dem Paradies vertrieben worden, aber sie waren doch einmal drin gewesen. Erst als sie draußen waren, zog der Engel mit dem Flammenschwert den Schlüssel ab. Ich jedoch kam gar nicht hinein. Und hatte den Schlüssel! Meine Lage war also wohl schlimmer, trostloser.

Es blieb mir nichts übrig, als endlich den Weg zurückzugehen, den ich gekommen war. Der Morgen stand ohnehin schon am Himmel, und die Glut, die mich bisher erfüllt, wich einem tüchtigen Schüttelfrost. Jetzt spürte ich auch die Nässe meiner Kleider wieder. Es dauerte lang, bis ich in meinem Zimmer, in dem es trotz der herabgelassenen Vorhänge schon hell war, einschlief.

Erst um Mittag wachte ich auf. Mein erster Blick traf den Schlüssel, den ich auf den Nachtkasten gelegt hatte.

»Du verdientest«, knurrte ich grimmig, »daß ich Dich ins Meer werfe, wo Kraken und Krabben kriechen.«

Da brummte der Schlüssel in seinen Bart: »O nein, das verdiene ich nicht. Willst Du mich ungehört verdammen? Willst Du nicht erst unsere Herrin befragen?«

»Unsere Herrin! Wie kann ich noch vor ihr erscheinen? Hab ich mich nicht furchtbar blamiert? Wenn ich mir vorstelle, daß sie die ganze Nacht auf mich gewartet hat und sich den Kopf zerbrochen hat, warum ich nicht komme, sich nach mir gesehnt hat, heiß gesehnt, wie ich mich nach ihr, und daß sie sich gar nicht erklären konnte, warum ich nicht komme, und daß sie sich vielleicht gedacht hat, ich habe Furcht, oder ich hätte mirs zuguterletzt überlegt – sie muß mich doch hassen oder verachten!«

»Aber wenn ihr«, so klang der Schlüssel wieder, »gerade das richtige eingefallen ist? Wenn sie sich vorstellt, daß Du mich, den Du zum erstenmal gebraucht, nicht zu gebrauchen verstandest?«

»Das ist ja die Blamage, die jammervolle, schmähliche Blamage!«

»Nun, eine schlimmere Blamage kann Dir auch bei Gudrun nicht passieren. Du mußt ihr jedenfalls eine Erklärung geben.«

Ich sah ein, daß der Schlüssel, so unrecht er in der Nacht gehabt hatte, diesmal im Rechte war. Am frühen Nachmittag ging ich die Ackersgade hinauf. Die unselige Gartentür war offen.

Gudrun saß im Garten unter einer Lärche. Sie hatte ein grünes Kleid an, das ihre volle Gestalt in weichen Falten einhüllte. Sie lächelte mir zu! Ihre Augen strahlten! Sie drückte mir die Hand wie noch nie!

»Oh, lieber Freund, das war – diese Nacht – das war unangenehm!«

»Es ist mir sehr peinlich, gnädige Frau –« begann ich.

»Aber was hätte ich sollen tun? Er ist zu Hause gebleibt.«

»Nielssen?«

»Yes! Es ist gekommen ein Telegramm, daß seine Fahrt nichts nutzig.«

»Er ist gar nicht weggefahren?«

»Gar nicht. Und ich konnte Ihnen nicht verständigen mehr.«

»Welch ein Glück, daß der Schlüssel die Türe nicht öffnete!«

»Glück? Aber ich habe ja den Riegel vorgeschoben! Der ist fest! Da kann sich der Schlüssel nicht rühren!«

»Sie haben –?«

»Sie Armer! Nielssen schlief schon, aber ich habe gehört Sie arbeiten. Und wenn ich gemerkt habe, daß Alles vergebens, dann bin ich beruhigt eingeschlafen.«

»Leben Sie wohl, Gudrun!«

»Oh, Sie gehen?«

»Um nicht wiederzukommen. Ich sollte ja schon längst zu Hause sein. Sie haben mich hier festgehalten. Nun wars vergebens.«

»Aber nächsten Monat er reist ganz, ganz bestimmt.«

»So lange kann ich nicht warten.«

»Schade! Aber Sie lieben mich doch noch?«

»Hier nehmen Sie Ihren Schlüssel. Er hat mir Seligkeiten verheißen, ich habe ihn verflucht, er ist unschuldig.«

»Den Schlüssel? Oh, behalten Sie ihn nur!«

»Wozu?«

»Oh, man kann nicht weißen!«

Man kann nicht weißen!

Sie lächelte mich an; die Augen waren absolut nicht zu verstehen. Ich küßte ihre Hand zum letzten Mal und ging.

* * *

Das ist der Schlüssel, der über meinem Schreibtisch hängt, seit Jahren ungebraucht, wie damals. Wieviel Schlüssel sich Gudrun seither hat machen lassen? Oder bin ich der einzige, der ihn besitzt? Man kann nicht weißen.

Manchmal packt mich eine ungeheure Sehnsucht. Dann sehe ich ihre Augen wie durch dunkle Nacht zu mir strahlen, und ich sehe das schöne Weib vor mir, bald im Reitkleid, bald in dem grünen – und vielleicht ist es die Gewalt ihrer Seele, die mich in solchen Augenblicken zu sich ruft. Da sitzt sie nun oben im Norden, sitzt auf der harten Bank aus weichem Holz, auf den gemalten orangefarbenen Blumen, und ihr Mann ist abgereist und ich habe den Schlüssel zur Gartentür.

Aber ich bezwinge die Sehnsucht. Und ich begnüge mich dann, zu wissen, daß ich könnte, wenn ich nur wollte.

Dieser Gedanke aber ist immer tröstlicher, als meine damaligen umgekehrten Empfindungen.

Heinrich Teweles.

 


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