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Des zweiten Buches drittes Kapitel:
Von blauen und von schwarzen Augen.

Zeichnung von B. Gestwicki.

Vision.

(Das Mädchen spricht:)

Die Glut im Ofen
Zerfällt mit Knistern –
Ich bin bei den Eltern,
Unter Geschwistern;
An jedem Abend
In engem Zimmer
Sind wir versammelt
Beim Lampenschimmer.
Sie alle grollend
Und finster schweigend –
Ich in Gedanken
Zu dir mich neigend.

Du bist geächtet
In diesen Räumen –
Du steter Gast mir
In stummen Träumen.
Ich bin gefangen
In dumpfer Klause;
Ich bin verlassen
Im Elternhause!
Und oft doch will mir's
Die Brust zersprengen,
Ans Herz der Eltern
Mich hinzudrängen –
Ich bin verlassen
Unter den Meinen;
Ich bin gefangen
Und darf nicht weinen.
Da – welch ein Klingen
Durchflog den Raum?

Es fiel wie Amen
In meinen Traum!
Ein helles Jauchzen
Und leises Klagen,
Ein wehmutbanges
Und süßes Fragen!
Von ferne hört' ich's
Herüberwehen,
Wo durch das Dunkel
Die Winde gehen.
Kaum, daß ich vernommen
Den Hauch der Töne –
Da standst du vor mir
In aller Schöne,
Mit hellen Augen,
Mit blühenden Wangen,
Als könnt' ich mit Armen
Dich liebend umfangen ...

Du wolltest mich grüßen
Aus dunkler Weite,
Und gabst dem Verlangen
Ein Lied zum Geleite.
Es hat mich gefunden,
Da ich getrauert,
Es hat mir selig
Das Herz durchschauert!
Du hast mich wieder
Mit Licht umgeben;
In meinem Kerker
Blüht neues Leben!

Otto Ernst.

 

Lockung.

Schönes Kind von fünfzehn Jahren,
Gertenschlank, mit blonden Zöpfen,
Mit dem Strickstrumpf vor den Töpfen,
Ach, was läßt sich da erfahren?
Mußt mit hellen Augen schaun
Übern Zaun.

Hast du übern Zaun gesehen,
Gertenschlank, mit blonden Zöpfen,
Mit dem Strickstrumpf vor den Töpfen,
Magst du dann nicht länger stehen.
Ist im Zaun kein Pförtchen drin?
Sieh doch hin.

Zaun und Pförtchen erst im Rücken,
Schönes Kind von fünfzehn Jahren,
Ach, was wirst du da erfahren!
Kann das Leben so beglücken?
Wieviel Glanz und Herrlichkeit
Weit und breit.

Gertenschlank, mit blonden Zöpfen,
Wirst nicht lang alleine bleiben,
Und wie anders ist solch Treiben
Als das Stricken vor den Töpfen.
Ist im Zaun kein Pförtchen drin?
Sieh doch hin!

Schönes Kind von fünfzehn Jahren,
Durch den Garten katzenleise
Machst du bald dich auf die Reise.
Darin bin ich schon erfahren.
Klirrt der Riegel? – Siehst du! da
Bist du ja.

Gustav Falke.

 

Von blauen und von schwarzen Augen.

Die blauen Augen und die blonden Haare,
Die dunkeln Haare und die schwarzen Augen:
Es ist dasselbe heiße, wunderbare,
Unsäglich selige Ineinandersaugen.
Es ist, wohin ich immer treib und fahre,
Dasselbe süße Zueinandertaugen –
Die dunkeln Haare und die blonden Haare,
Die blauen Augen und die schwarzen Augen.

Gustav Schüler.

 

Fahrende Leute.

Eine der fahrenden Leute,
Wie glomm ihres Haares Geflecht,
Sing so von Licht umschlungen,
Als kam' sie aus anderm Geschlecht,
Weither über die Berge,
Damit sie hier die Trommel schlägt
Und mit dem Bettelteller
Die Münzen zusammenträgt.

Sie kam bei mir vorüber,
Ihr Auge hob sich zu mir auf.
Ich legte mit zitternden Fingern
Ihr meinen Groschen auf. –
Und als dann lange vorüber
Der grelle, klägliche Tand,
Stand ich am Gauklerwagen,
Mit dem Ohr an der Wagenwand.

Gustav Schüler.

 

Entbietung.

Schmück dir das Haar mit wildem
Mohn.
Die Nacht ist da,
All ihre Sterne glühen schon!
All ihre Sterne glühn heut Dir,
Du weißt es ja:
All ihre Sterne glühn in mir!

Dein Haar ist schwarz, dein Haar ist
wild
Und knistert unter meiner Glut;
Und wenn die schwillt,
jagt sie mit Macht
Die roten Blüten und dein Blut
Hoch in die höchste Mitternacht.

In deinen Augen glimmt ein Licht,
So grau in grün,
Wie dort die Nacht den Stern umflicht.
Wann kommst du?! – Meine Fackeln loh'n!
Laß glühn! laß glühn!
Schmück mir dein Haar mit wildem Mohn!

Richard Dehmel.

 

Die Heiratsjagd.

(Aus Gustav Hochstetters gleichnamigem Roman.)

Um halb neun stieg der Baumeister in den Fahrstuhl, der ihn zu Herrn Herzogs Etage tragen sollte. Schon in dem engen Geviert der fahrbaren Kassette war die spröde Steifheit der Berliner Hausfeste zu spüren: ein Herr und eine Dame stiegen vor Fritz in den Fahrstuhl; der Herr nannte dem Liftführer die Herzogsche Etage; Fritz kannte die beiden nicht, aber im Bewußtsein, den Abend mit ihnen verbringen zu müssen, grüßte er sie höflich, als er durch die Fahrstuhltür zu ihnen trat; der Herr dankte mit betonter Zurückhaltung, die Dame überhaupt nicht; sie sah mit einem eisigen, stahlharten Blick am linken Ohr des grüßenden Baumeisters vorüber ...

Droben in der Etage war die weitläufige Diele als Garderobe eingerichtet.

»Die Herren – rechts!« befahl ein weißblonder Lohndiener, der mit unerbittlicher Strenge dafür sorgte, daß kein fürwitziger Herrenpelz sich zwischen die seidig raschelnden Überkleider der Damen drängte; ängstlich und stumm schlichen die Gäste umeinander. Man hätte sie ganz wohl anreden können mit: »Hochansehnliche Trauerversammlung!« ... Ein zweiter Lohndiener – er war rabenschwarz von Haar und sein Gesicht lag in Trauerfalten wie das Antlitz des Küsters beim Begräbnis – bot jedem Herrn das große silberne Tablett, auf dem die Tischkarten lagen. Mit Bitterkeit und Ernst, wie man aus des Küsters Hand die Schaufel nimmt, um drei Würflein Erde in ein teures Grab zu schicken, so nahmen die Herren die Tischkarten entgegen. Es war ja vielleicht auch wirklich eine Art von feierlicher Beisetzung: hier wurde in der Blüte seiner Stunden ein Abend zu Grabe getragen, den man so schön und nützlich hätte anderswo verleben können ...

Rauh, wie das erbarmungslose Schicksal, riß da eben wieder der hartherzige weißblonde Lohndiener ein junges Ehepaar auseinander: »Mein Herr, drüben ist die Herrengarderobe – rechts.« Der junge Ehemann wagte nicht, seiner Frau beim Ablegen von Luch und Mantel behilflich zu sein: unter dem zurechtweisenden Winke des Lohndieners schlich er nach drüben, gab seinen Biberpelz ab und erhielt eine Marke. Auf der andern Seite gab die junge Gattin ihren zobelgefütterten Seidenmantel ab und erhielt gleichfalls eine Marke; fast erschien es dem jungen Gatten als Unrecht, dass er so kühn war, nun beide Marken in die gleiche Westentasche zu stecken. Mit finsterer Miene stand er dabei, wie seine Frau mit ebenso finsterer Miene vor einem großen Spiegel sich noch ein bischen zurechtzupfte. Als sie damit fertig war, schauten die beiden einander an und ihre Blicke verrieten herzliche Betrübnis; aber wie sie dann – zugleich mit Fritz – in den Salon traten und der Hausfrau ansichtig wurden, begannen die Augen zu strahlen, die Lippen zu lächeln, und eitel wonnige Heiterkeit lag in der lärmenden Begrüßung ...

»Wo nehmen die Leute ihre Verstellungskunst her?« dachte Fritz. Er fühlte, er selbst würde es nie so weit bringen. Er begrüßte die Hausfrau und den Hausherrn mit einer steifen Feierlichkeit, über die er in solcher Umgebung einfach nicht hinwegkam. Der unappetitlichen Sitte des Händeküssens, die ringsum fleißig geübt wurde, huldigte er grundsätzlich nicht.

Das Kärtchen, das ihm draußen der Lohndiener mit dem Begräbnisgesicht geboten hatte, trug ihm auf, ein Fräulein Stephanie Röder zu Tisch zu führen. Fritz bat Herrn Herzog, ihn mit der Dame bekannt zu machen; der Fabrikant griff ihn beim Frackärmel und zog ihn durch das Menschengewühl. »Sie, Baumeister«, flüsterte er dabei vertraulich, »also ich sage Ihnen, widmen Sie sich Ihrer Tischdame! Die Nichte von dem berühmten Professor Röder, Sie kennen ihn doch? Und Waise. Der Vater war Bankier. Mindestens hunderttausend Mark! Das ist schon schön!« Wieder betonte er das »schon« und zog es so lang, als ob es drei o hätte. »So ... hier ... gnädiges Fräulein gestatten?«

Als Fritz sich von seiner Verbeugung wieder aufgerichtet hatte, sah er zwei eisige, stahlharte Pupillen auf sich gerichtet: die Dame aus dem Fahrstuhl war Fräulein Stephanie Röder, seine Tischdame.

»Mit der werde ich mich ja brillant unterhalten!« dachte Fritz grimmig.

Aber da hatte ihn Herr Herzog schon wieder beim Rockärmel und stellte ihn noch unzähligen anderen Damen und unzähligen Herren vor. Es fiel dem Baumeister auf, daß jeder zweite Gast Herzog hieß, also mit dem Hausherrn verwandt war. Von den übrigen Namen verstand er nicht einen einzigen. Er war überzeugt davon, daß die anderen auch den seinigen nicht verstanden; ihnen war es gleichgültig, wie der fremde Mensch da hieß und was er war. Kaum unterbrachen sie ihre Unterhaltung für die Sekunde, die der Hausherr ihnen beim Vorstellen raubte. Und so oft eine Gruppe von drei oder vier Personen ihr – durch die Vorstellung unterbrochenes – Geplauder wieder aufnahm, begannen die sämtlichen drei oder vier Leute gleichzeitig zu sprechen.

Keinem von ihnen erschien es wichtig, was der andere sagte.

Keiner hörte aufmerksam zu.

Jedem erschien nur das wichtig, was er selbst sagte. Fiel ihm ein anderer ins Wort, so schwieg der erste Redner durchaus nicht etwa, sondern er verstärkte den Ton seiner nächsten Sätze, um dadurch den Unterbrechenden mundtot zu machen. Der aber seinerseits ließ sich durch dies Manöver nicht verblüffen, sondern redete, wenn seine Kraft ausreichte, noch lauter. Auf diese Weise erzeugten die vier Dutzend Menschen, die in dem großen Zimmer standen, saßen und herumgingen, einen Lärm, der nahem, grollenden Donner ähnlich war. Die Herrin des Hauses flüsterte im Vorübergehen ihrem Gatten zu: »Heute wirds sehr nett!« Für sie war dieses Donnergepolter ein wesentlicher Bestandteil wahrer Gemütlichkeit.

Warum – fragte sich Fritz – kamen die Menschen denn hier zusammen? Warum – fragte er sich – besuchten sie Gesellschaften? Wahrhaftig nicht um Gemütlichkeit zu pflegen! Die einen kamen, um ihren geschäftlichen Beziehungen das Rückgrat der privaten Bekanntschaft zu stärken. Die anderen kamen, um sich selbst oder ihre Kinder unter die Haube zu bringen ... oder um wenigstens nach dieser Richtung nichts versäumt zu haben. Viele wußten überhaupt nicht, weshalb sie zu Gesellschaften gingen. Dort drüben stand ein kleiner, fetter Herr, dessen Gesicht trotz der Bartlosigkeit an das eines Satyrs erinnerte; von dem kleinen fetten Herrn ging das Gerücht, daß er sich an gastlichen Tafeln schon sechs Mal empfindliche Unannehmlichkeiten geholt hatte, weil seine Lackschuhe mit den Füßchen der Nachbarin Freundschaft schließen wollten ... nun, dieser kleine, fette Herr wußte wenigstens, weshalb er heute hierher gekommen war: er wollte sich wohl – ein siebentes Mal Unannehmlichkeiten holen.

Der strenge Lohndiener meldete, daß serviert sei. Die kreischende Stimme der Hausfrau übertönte das Donnergepolter, den Herren befehlend, ihre Damen zu Tische zu führen. Das Gewitter verstummte allmählich. Ein gefährliches Gedränge herrschte, bis die gewandtesten Herren ihre Tischnachbarinnen gefunden und ins Speisezimmer geführt hatten.

Als der Empfangssaal halb geleert war, fand Fritz endlich die eiskalten, stahlharten Augen. Er führte seine Dame zum Tische und dachte dabei, daß weder das schmucklose Weiß ihres Kleides noch das Strohblond ihres Haares nach seinem Geschmack seien. Aber eine gewisse Harmonie lag doch in diesem Mädchen: alles an ihr paßte zu den eiskalten Augen.

Als sie saßen, sprach er mit ihr über die neuesten Theaterstücke und über die letzten Konzerte – was sollte er anderes mit ihr reden? Sie sagte manchmal ja und manchmal nein. Dabei aßen sie beide von den vorzüglich zubereiteten Gerichten, ohne zu wissen, was sie verzehrten und wie es schmeckte.

Während er die gleichgültigen Speisen zu sich nahm und gleichgültige Worte sprach, fielen ihm des Hausherrn Worte wieder ein: »Widmen Sie sich Ihrer Tischdame! Mindestens hunderttausend Mark!« Nun ja, so benahm sie sich auch. Ob man ihr gesagt haben wird, daß er Junggeselle ist? Ganz ohne Absicht setzt man die »ledigen Paare« im Berliner Westen selten zu Tisch. Und wie selten finden sie trotzdem einander! In den vielen Jahren, die Fritz nun schon in diesen Kreisen verkehrte, hatte er nicht ein einziges Mal das Schauspiel erlebt, daß das »Nebeneinandersetzen« zu einem Eheergebnis führte. Wie war es doch bei allen seinen Bekannten gewesen? Eines Tages kamen sie von der See oder aus den Bergen zurück und erklärten, daß sie – rein zufällig – im Hotel eine Persönlichkeit kennen gelernt hätten, ohne die sie nicht leben könnten. Das »rein Zufällige« wurde immer so stark betont, daß selbst der Gutwilligste kaum gläubig bleiben konnte.

Ach, die Chancen, durch wirklichen, wahrhaftigen Zufall die Richtige zu finden, die einzig Richtige, für die das Schicksal den Mann vorher bestimmt hatte – was waren die Chancen gering! Allein in Europa kamen dreißig Millionen Damen in Betracht für einen Mann, der ein paar moderne Sprachen beherrschte. Dreißig Millionen Mädchen! Selbst wenn man jeden Abend, den Gott werden ließ, in Gesellschaft ginge, und jeden Abend zehn oder zwölf junge Damen kennen lernen würde, so müßte man ungefähr zehntausend Jahre leben, um alle Kandidatinnen kennen zu lernen. Und wenn – wie's ja meistens beim Aussuchen geht – das Passende zuletzt entdeckt wird, dann wäre jene einzig Richtige, die heute als Zwanzigjährige irgendwo an der Tafel sitzt, genau zehntausendundzwanzig Jahre alt.

Freilich, wenn man die Ledigen immer so geschickt zusammensetzte, wie ihn heute mit der Fahrstuhldame, – dann war's weiter kein Wunder, daß das Heiraten so schwer war. Was lag ihm an ihrem Geld! Er verdiente genug, um eine Familie bescheiden durchs Leben zu bringen. Bescheiden – da lag's! Welche von allen Damen aus dem Berliner Westen wollte bescheiden leben?

Hätte das Mädchen statt seiner hunderttausend Mark glänzendes, weiches Blondhaar und ein frisches, rundes Gesichtchen! ...

Aber man hatte sie ihm als Tischdame anvertraut, er mußte sie mit Unterhaltung versorgen. Er nahm sich vor, an eine verführerische Freundin zu denken, die unter dem Riesenhut weiches, glänzendes Blondhaar trug und ein frisches, rundes Gesichtchen, die man aber wieder aus anderen Gründen nicht heiraten konnte. Er bildete sich ein, die frische Blondine säße neben ihm, und nun redete er tapfer drauflos. Er kannte sich. Er wußte, wenn er wollte, konnte er den Damen ein gewisses Interesse abzwingen, und er war neugierig, zu sehen, auf welche Art dieses kühle, stählerne Geschöpf ein Interesse zu erkennen geben möchte. Beim Rehbraten wurde seine Neugier gestillt: die eisige Dame taute auf und sagte: »Haben die Baumeister so im allgemeinen große Revenuen?«

Eigentlich wollte Fritz antworten: »Das kommt darauf an, ob sie eine reiche Frau haben«; denn er hatte aus der Frage das Geknister der Tausendmarkscheine gehört, die zu wissen wünschten, ob sie in seinem Kassenschrank wohl aufgehoben seien. Aber er unterdrückte die boshafte Regung und führte die Unterhaltung flink auf ein anderes Thema. Er wußte jetzt, wie dieses stählerne Geschöpf sich verhielt, wenn es einem männlichen Wesen Avancen machte .... Und er wußte: mit der strohblonden Dame würde er nach dem Dessert oder spätestens nach dem ersten und einzigen Pflichttanz keine zehn Worte mehr wechseln ....

Der strenge Lohndiener nahm einen hohen Tafelaufsatz fort, der vor Fritz gestanden hatte; nun erweiterte sich des Baumeisters Gesichtsfeld, das durch den Aufbau beschränkt gewesen war. Man speiste an sechs gleichgroßen runden Tischen. Und am nächsten Tische links – wie hatte er das nur übersehen können – saß eine entzückende, zarte, blutjunge Dame, deren Züge ihn ungemein anzogen und fesselten. Er fand, daß in ihren dunkelbraunen Samtaugen und in der geflochtenen Krone ihres glänzenden, dunkelbraunen Haares etwas lag, was er zugleich hoheitsvoll und pikant nennen mußte. Wie eine Königin saß sie stolz da in ihrem fließenden blauen Seidenkleide, und hatte doch auch jenen koketten Zug um die Lippen, den etwa hübsche Verkäuferinnen zur Schau tragen, wenn sie einen schwierigen Kunden durch liebenswürdiges Wesen zu besiegen versuchen; sie schien ein wenig gelangweilt; ihr sehr junger Tischherr sprach zwar fortwährend auf sie ein, aber in dozierendem Tone, oft mit hochgehaltenem Zeigefinger. Leichte Tischunterhaltung schien dem Manne nicht zu liegen, die blauseidene Königin aber schien danach zu dürsten. Des Baumeisters Augen ließen kaum für Sekunden von der lieben, hoheitsvollen, pikanten Erscheinung ab. Er stellte mit einer gewissen Schadenfreude fest, daß ihres Tischherrn Gesellschaft sie immer mehr zu langweilen schien.

Die eigene strohblonde Blondine wußte er nach aufgehobener Tafel rasch loszuwerden. Als der Sturm des »Mahlzeit«-Wünschens sich ausgetobt hatte, trat Fritz an die Hausfrau heran und fragte sie nach der blauseidenen Dame.

»Ach, Sie sind nicht vorgestellt?« war die fast angstvolle, hastige Gegenfrage, »entschuldigen Sie nur, Herr Baumeister, das soll gleich nachgeholt werden!«

Man ging auf die Suche und fand das schöne Mädchen in Frau Herzogs Boudoir, das neben dem Salon lag.

Das Boudoir war ein einfenstriger Raum von erlesener Diskretion.

Die schöne Dame stand allein vor einem Ecksofa und blätterte in einem Buche.

»Herr Baumeister Möller – Fräulein Veronika Gassen«, und die Hausfrau rauschte weiter, sich um andere Gäste zu kümmern.

Das schöne Mädchen schaute mit froh grüßendem Lächeln zu dem blonden stattlichen Manne auf und rief heiter: »Ach – Sie sind also der Baumeister Möller!« Das Sie betonte sie, als ob sie schon auf ihn gewartet, schon nach ihm gesucht hätte. Und das »Herr« vor dem Namen ließ sie weg mit jener Selbstverständlichkeit, mit der man nicht »Herr Schiller« und nicht »Herr Goethe« sagt. In ihrer kurzen Frage lag das ehrliche Zugeständnis, daß sie ihn erwartet, ihn gesucht und daß sie über ihn schon Vorteilhaftes vernommen hatte.

»Wollen wir uns nicht setzen?« fragte Fritz zu der schlanken, blauen Dame. Er sagte das ohne jede Förmlichkeit; ihm erschien es als selbstverständlich, daß dies liebe, herrliche Geschöpf sich jetzt zu ihm auf das Ecksofa setzen und mit ihm eine, zwei, drei Stunden verplaudern mußte. Sie setzte sich rechts, er setzte sich links – vergessen waren Herr und Frau Herzog, vergessen die eiskalte Strohblondine, vergessen der langweilige, junge Tischherr, vergessen alle die anderen Menschen, die sich unterhielten, ohne einander zuzuhören. Nur das schmale Ecksofa war da, und links ein Herr Fritz und rechts ein Fräulein Veronika. Das schöne Mädchen wußte eine Masse von unserem Helden; sie kannte eine Villa in Schlachtensee, die er gebaut hatte, eine in Wannsee und eine in Großlichterfelde.

»Wie kommen Sie denn zu all diesen Wissenschaften?« fragte Fritz erfreut.

»Man hat so viele Bekannte und Verwandte im Westen,« erklärte sie; und dann sprach sie von der Einrichtung und dem Grundriß dieser drei Villen mit einem Gedächtnis und einer Sachkenntnis, die den Baumeister in Erstaunen setzten.

»Sie reden ja, als ob sie die Kunst des Häuserbauens von Grund aus studiert hätten?«

»Ein wenig davon hab' ich wirklich studiert; soviel sich ein kleines dummes Mädel aus Büchern zusammenstehlen kann.« Es war eine reizende Selbstironie, wenn dieses kluge, liebe Geschöpf sich ein »kleines dummes Mädel« nannte.

»Aber Sie sprechen auch alle lateinischen und griechischen Fremdwörter so korrekt aus, als ob Sie die beiden Sprachen in der Schule gelernt hätten.«

»Oh – das habe ich erst recht!« freute sich Veronika. »Zwar nicht in der höheren Töchterschule, aber nachher im Seminar.«

»In was für einem Seminar? Sie setzen mich in Erstaunen.«

»Im Lehrerinnenseminar. Ich will Lehrerin werden. Meine Eltern wünschen, daß ich mich auf einen Beruf vorbereite.«

»Armes Mädel!« dachte Fritz, »also in diesem Kreise reicher Leute sitzt ein armes – ein wirklich armes – weibliches Wesen, das sich mit eigener Arbeit sein Brot verdienen muß? Und in Fritz zuckte etwas auf, das hieß, wenn man's genau besah: »Nein! Sie soll nicht Lehrerin werden, soll nicht mit fremden Kindern sich plagen und sorgen müssen! Meine Frau soll sie werden! Ich will mich für dieses liebe, kluge Geschöpf sorgen und plagen! Und unsere Kinder soll sie erziehen – sonst keine.«

Aber das konnte er in diesem Augenblick doch nicht gut aussprechen. Er beschränkte sich auf die Worte: »Sie haben vernünftige Eltern, gnädiges Fräulein! In Ihrem Seminar also müssen Sie griechisch und lateinisch lernen?«

»Müssen? Nein. Obligatorisch sind die alten Sprachen nicht. Aber ich habe Lust zum Sprachenlernen.«

»Was sprechen Sie denn sonst noch alles?«

»Außer Französisch und Englisch noch ein bißchen Russisch, Holländisch und Italienisch!«

»Sie sprechen sieben fremde Sprachen?« fragte Fritz. »Ich glaube, Sie sind die klügste junge Dame des ganzen Berliner Westens!«

»Wollen Sie mir Komplimente sagen?«

»Ja«, rief er begeistert aus, »das will ich! Schon als ich vorhin noch bei der Tafel saß, habe ich Ihren Tischherrn beneidet.«

»Um mich?«

»Um was denn sonst? An die Ritterfräulein auf alten Bildern erinnert der Zug von Stolz und edlem Selbstbewußtsein, der beim Sprechen um Ihren reizenden Mund liegt. Und wenn Sie zuhören – so wie eben jetzt – dann pressen sich diese feingeschwungenen Lippen zusammen mit einem Ausdruck von Klugheit, den ich – Sie müssen mir's schon gestatten – bezaubernd und hinreißend finde. Wär ich, anstatt Häuserfabrikant zu werden, ein Bildhauer geworden – Ihr Gesicht würde ich einer Pallas Athene, der Göttin der Klugheit, geben.«

»Mein Gesicht,« betonte Veronika, aber nicht meine Figur!«

»So zart wie Sie war Athene allerdings nicht; so anspruchsvoll waren die alten Griechen nicht, dass sie von einer Göttin gleichzeitig die Weisheit der Palles und die Anmut der Grazien verlangten. So anspruchsvoll darf auch ein moderner Spreeathener nicht sein. Aber wenn er in Ihnen, gnädiges Fräulein, diese entzückende Vereinigung gefunden hat, um so größer muss da seine Freude sein.«

»Sie halten mir ja eine richtige Vorlesung über meine Vorzüge; Sie wirken beinahe überzeugend auf mich.« Ihre braunen Samtaugen streichelten ihn.

»Waren Sie bisher nicht überzeugt von Ihrer Schönheit?«

»Wenn ich ehrlich sein darf: nein. So wie Sie hat mir das alles noch niemand gesagt. Ich mache jetzt im dritten Winter Gesellschaften mit, und natürlich haben mir die Herren schon manches Nette gesagt; aber wenn ich es recht überdenke, ist das nie über eine halb ironische Anerkennung hinausgekommen. Sagen wollen hat mir vielleicht mancher dergleichen; aber nicht jeder findet überzeugende Worte wie Sie.« Und wieder streichelten ihn die braunen Samtaugen.

»Jetzt wollen Sie mir meine Komplimente zurückzahlen?« fragte Fritz.

»Nein; ich sage nur, dass alles Lob, was ich bis jetzt hörte, immer halb wie Ironie klang. Aber was Sie mir heute sagten, das klang so, dass ich mir keine große Mühe zu geben brauche, um alles für lauteren Ernst zu nehmen. Ich glaube, Sie sind der erste, der die rechte Art hat, mich zu nehmen.«

»Und all diese Jugend, Klugheit und Schönheit soll in einer Mädchenschule lebendig begraben werden? Sie werden allen Ernstes Lehrerin?«

»Ich stelle es mir entzückend vor, die lieben, kleinen Kinderchen zu unterrichten.«

»Und sind doch selbst noch fast eines,« sagte Fritz mit aufrichtiger Bewunderung.

»Halten Sie mich dafür?« kokettierte die blaue Königin.

»Ich habe mich noch nie im Leben mit einer jungen Dame so gut unterhalten, wie mit Ihnen heute abend,« erwiderte Fritz, und seine Worte trugen den ehrlichen Klang der Wahrheit, »ich halte Sie für den besten, verständigsten Kameraden, den ich mir wünschen kann.«

»Ich will Ihr Kamerad sein!« sprach das schöne Mädchen einfach und schlicht; sie reichte Fritz ihre feine, winzige Hand. Die hielt er in seiner Rechten und kam sich wie verzaubert vor.

»Ihnen,« sagte er, »Ihnen ganz allein muß ich ein Geheimnis anvertrauen. Ein großes schweres Geheimnis. Sie dürfen es keinem Menschen weiter sagen. Wissen Sie, was Sie sind? Sie sind mein Geburtstagsgeschenk; denn heute ist mein Geburtstag.«

Sie erwiderte den Druck seiner Hand. »Ich gratuliere – uns beiden!« sprach sie schlicht und lieb. Fast ohne Pause fuhr sie fort: »Wie alt sind Sie heute geworden?«

»Raten Sie ...«

»Fünfunddreißig?«

»Getroffen! Was für ein kluges Fräulein hat man mir zum Geburtstag geschenkt!«

Und nun hatte er ihr noch so viel zu erzählen ... und hatte ihr noch so viel zuzuhören ....

Mit einem Mal steuerten in diesem Traum von Glück und Hoffnung ein wunderlicher alter Herr und eine wunderliche alte Dame hinein: »Veronika!« riefen die wunderlichen Herrschaften, »komm, Veronika! Wir müssen nach Hause!«

Der Göttersitz der jungen Liebe wandelte sich zum damastbezogenen Ecksofa zurück; der Himmel ward wieder zum Boudoir der Frau Herzog; Veronika erhob sich, war ganz Dame: »Darf ich euch Herrn Baumeister Möller vorstellen? – Meine Eltern!«

Gustav Hochstetter.

 

Zeichnung von F. de Bayros.


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