Albin Zollinger
Pfannenstiel
Albin Zollinger

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21

Zwei oder drei Katzenschwänze waren ihm doch entgangen, auch das eine und andere Kaminfegerchen. «Das wird aber von Jahr zu Jahr besser und eine Wiese mit Kinderstube», versicherte Martin. «Schau?» Die grünen Paketchen von Haselnüssen. Im Fischteich standen Forellen. Er erklärte ihr das mit dem Dynamo. Krautig, mit glänzendem Gestengel schäumte der Hahnenfuss in die Wildnis aus blauem Eisenhut. Das Fenster strotzte von Buben und Mägdlein. «Fallt mir nirgends herunter!» rief ihnen der Hausherr hinauf. Worum es ging, war ihnen nicht bewusst, Stapfer sah es aus heiterer Laune, froh seiner Freiheit, auf Spuren der kleinen Eroberer als stiller Aehrenleser mit der Geliebten zu gehen. Sie gingen von Raum zu Raum Hand in Hand. Eine Laube umfasste die Ecke und schloss mit dem Elfenbeinzimmer. Es stand voll der Süsse des Phloxes.

«Kann ihnen nichts geschehen?»

«Sie haben eine Schaukel im Estrich.»

Der Estrich war eine Halle mit Pfosten und truhenartigem Gesimse. Hier hatten sie Zelte aus Sacktuch und Kastelle in Brennholz aufgerichtet. Martin, der Spender von allem, sass im Schaukelseil und sah sich die Fröhlichkeit an, aus Träumerei ein ganz klein wenig traurig.

Es gab ein Teefest, welchem Elena vorstand, umsichtig und viel beansprucht. Darüber dämmerte es schon zum Abend; schliesslich reichte es gerade noch, Marti zur Not zu beschwichtigen, damit dass der Vater zum Schlafengehen zurück sein wollte. Jetzt, bergab, fiel mit jedem Schritte auch sein Mut, sodass das Dringlichste unbesprochen blieb.

Er trauerte Elena im Herzen nach ohne Sinn diesmal für die Tollheit der Buben, die ihren Tag mit erhitztem Wesen, in den Betten purzelnd, hinauszogen. Als einer sich wehtat und es noch einmal Tränen gab, fand Martin die Stimmung aus Leid und Uebermut dem Wesen der Welt durchaus angemessen. So war sie, eine Lampentraulichkeit mit finsteren Winkeln, einem Stern in Geranien; sie war diese fragwürdige Wachheit am Tor der Träume. Die Bauernmutter erschien und schmückte das Tor mit Gebeten aus Kindermund:

«Abends, wenn ich schlafen geh,
Vierzehn Engel an meinem Bette stehn:
Zwei zu meiner Rechten,
Zwei zu meiner Linken,
Zwei zu meinen Füssen,
Zwei zu meinen Häupten,
Zwei, die mich decken,
Zwei, die mich wecken,
Zwei, die mich weisen
Zu dem himmlischen Paradeischen.»

Beruhigung breitete sich aus als eine wohlige Kühle; man vernahm jetzt den Brunnen im Hof, der Nachtwind trug Nelkengeruch herauf und die fernen Sirenen der Boote. Stapfer zog seinem Söhnlein noch den Daumen aus dem Mäulchen, führte ihm die Hand übers Haar und verliess mit der Bäurin die Kammer voller Bubenschlaf.

Die Magd wusch im Hofbrunnen Kraut; Martin stand plaudernd noch eine Weile bei Vater Baumgartner, scheute sich fast vor seinem Ruinenhaus, das er anders, von Elenas Aufenthalt verwandelt vorfinden würde. Er zehrte von der Kraft des Hofes, dieser Wohligkeit alter Gemächer, durch die die Geschlechter gegangen waren; der Absud von Kraut, das Oel breitschirmiger Lampen, Balsam des Heus und der Lebensgeruch tätiger Menschen hatten das Holz gebeizt, warmes Holz, das in der Endgültigkeit seines inneren Gesetzes ruhte, so wie die Bauern selber, wenn sie, alt und gelöst, schon in die Ueberzeitlichkeit ragten. Sie gingen herum in einer Luft von verwelkten Sommern, einer Ablagerung all der Abende mit Betzeitläuten, Kindergekreisch und Staubgeruch, gingen durch Schlittengeröll und Christbaum, durch Grabkränze, Kirschen, Astern und Quitten, durch das Reissen des Feuers, Geplansch in Milch, durch das Aroma der Aepfel. Dem gegenüber hatte der Städter auf seine Ruine aufgebaut und baute über alles hinaus in Statuen. Die Gefährdungen in der Luft, Krieg der Bekenntnisse, schien es ihm, fanden ihn ausgesetzter, ohne das Hinterland einer Ahnenschaft von der Tiefe der Vergangenheit, aus welcher sie nicht zu verjagen war. Er baute nach vorn in das Ungewisse. Wunderlich melancholisch in Elenas Haus, setzte er sich nicht zum Schreiben; er las in Zeitungen herum, die sich hier angesammelt hatten. Abessinien – sein Kaiser glaubte noch an die Regierungen, suchte das Recht in Europa; die Zuversicht um Spanien wankte.

Es war kein würdiger Geist, der aus den Zeitungen sprach; Stapfer warf sie zur Seite.

Hatte nicht Post im Kästchen gelegen?

Byland schrieb aus dem Militärdienst, schrieb von Formalismus auch hier, davon, dass Bürolisten den Krieg hier machten, die Zeit in Pedanterien hinging. «Was mich immer entsetzte, der satte Anspruch auf Wohlergehen, das Vertrauen in die Noblesse der Geschichte, es scheint Gepflogenheit sogar der Militärs zu sein. Nirgends der Ernst der Annahme, die Dinge möchten sich auch bei uns einmal anders als in Zeitungspapier und auf der Leinwand vor Polsterstühlen ereignen. Die Gefahr muss noch näher treten, um die Auflockerung zu bewirken, die unsrer Verhocktheit vonnöten ist. Der Anschein ist indes nicht die Wahrheit. Man lernt hier den Einzelnen kennen, den Arbeiter, der keinem Bonzen gehorcht, den Bankangestellten, der wie ein Sozi spricht. Glaube mir, das Teil ist besser als das Ganze, das Ungenügen gross, und eines Tages muss es gelingen, den Stand des Landes auf den Stand des Bürgers zu bringen. Die Menge der Bewegungen von Oxford bis zur Tatgemeinschaft der Jugend bürgt mir für die innere Lebendigkeit dieses Volkes. Die Grossorganisationen, die zur Eroberung der Welt aufmarschieren, richten den Bürger auf die Ziele der Machtpolitik aus; das ist in potenziertem Verhältnis die Umkehrung unserer Gebundenheit im Vergangenen, dem gegenüber wir in der Freiheit nicht Schritt gehalten haben. Wir haben nicht Schritt gehalten, wenn in unserem Volksstaat die Verwaltung, etwa die Käseunion auf Kosten des Bergbauern blüht. Auf der schaffenden Kraft aller Zweige wuchert das Händlertum. Es ist nicht Patriotismus, es ist sträfliche Blasphemie, Historizismus der Unwissenheit – oder, noch schlimmer, des Wissens? – dabei von Freiheit der Väter zu reden. Dass die Väter ihre Pflicht getan haben, entbindet uns nicht der Notwendigkeit, die unsere zu tun. Die Vögte sind, wie alles in der Welt, integraler geworden. Die politische Freiheit, die uns die Väter erstritten, ist erst das Haus, in welchem die Wohnlichkeit zu erhalten fortgesetzte Bemühung der Generationen bleibt. Meine ich Boiler und Taschengeld? Ich meine das Grundgesetz von der Freiheit des Schöpfertums und denke dabei nicht einmal zunächst an die Künste, die als Disziplinen des Metaphysischen möglicherweise auch der metaphysischen Tragik unterstehen, es in dieser Welt nicht leicht haben zu können. Indem wir unsere Unabhängigkeit verteidigen, verteidigen wir wohl eine Freiheit; wir hätten darüber hinaus Europa in unseren Gemarkungen zu erhalten, Jacob Burckhardts Europa der Individualität, Goethes Europa der Persönlichkeit. So ist es ein Paradies nur der Krämer, auf jedem Gebiet nimmt der Vermittler den Gewinn der Arbeit vorweg, und die Persönlichkeit, recht eigentlich unbequem, wird in gebührenden Schranken gehalten.»

Oder war es die Klugheit eines unsentimentalen Volkes, seine Persönlichkeiten zur höchsten Kraftentfaltung durch Widerstand anzureizen? Es billigte ihnen eines Tages alle nur denkbare Liebe zu, wie sich's am Beispiel jenes Duttweiler zeigte, auf den auch die Pfannenstieler eine Weile ihre Hoffnung gesetzt hatten. Dieser Wirtschaftsreformer war in der Zeit Nationalrat und mit seiner Anhängerschaft eine Partei geworden. Die Partei der Unabhängigen. Er unterhielt eine «Zeitung in der Zeitung» und plante ein Tagesblatt, gegen dessen Verwirklichung die Ritter der Presseburgen insgeheime Gebete verrichteten. Byland erfuhr es an Ort und Stelle, Byland, der Sonderbare in seinem Ansehen aus Begabung und Anstössigkeit. Er erlebte Verweise der schlimmsten Art, fand aber die Türen immer zuletzt wieder offen, hatte, ein Nichtraucher, Zigaretten abzulehnen und bei einer Tasse Kaffee den literarischen Herren die eigentlichen Gründe seiner Missvergnügtheit darzulegen. Es waren dieselben, die er so freimütig nannte, dass man noch welche dahinter suchte; er war ein bekümmerter Geistesmensch von vielleicht zu hohem Anspruch, und die Barbarei des Jahrhunderts trieb ihn in eine Enge, in der er Ausbrüche versuchte.

Sein Bildhauerfreund, der ihn kannte, schätzte mit Besorgnis den Umfang der Gefährdungen ab, welchen das Gemüt des jungen Dichters schliesslich erliegen musste. Stapfer, wenn er von der Weltlage mit Byland sprach, beschönigte sie in dem Sinne, dass er die Aufgewühltheit der Zeit an sich als Errungenschaft hervorhob. Er nannte sie einen gewaltigen Eisgang, einen Föhn im Frühling der Menschheit; der Frühling würde anders als der Föhn sein, Brutalität befreite das Leben des Stromes. «Der Föhn brüllt mir das selber ein bisschen zu laut in die Welt», entgegnete Byland. «Ich fürchte es ist nicht der Frühling, ich fürchte, es sind die Spartaner. Die Spartaner sind auch ein Weltgesetz. Um die Vergänglichkeit der Kulturen zu wissen, macht ihren Verlust nicht leichter. Es ist gewiss nicht Athen, um welches der Untergang dunkelt, aber es ist das Eigene, es ist Europa, es ist die Vision aus Dante, Michelangelo, Kepler, Kolumbus, Mozart, Schiller, Newton, Descartes, Shakespeare, Velasquez, Hölderlin, Hofmannsthal, Tolstoi, – Trakl.»

Es fehlte nicht viel und er weinte.

Martin hatte wieder Anzeichen seiner Hautkrankheit an den Fingern; diese betrachtete er dazu dass er sagte: «Du hast mir noch nie dein Bräutchen vorgestellt. Das gehörte sich eigentlich und wäre wohl an der Zeit.» Der junge Lehrer wand sich in Missbehagen.

«Verse in einer Zeitung voll Krieg und Schmach, und sein bisschen Privates auf diesem Hintergrund!»

«Nun schäme dich, Walther. Was ist Gottes, Gedicht oder Krieg, Liebe oder Hass?»

Er brachte das Mädchen zugleich mit den Druckbogen eines neuen Versbuches seiner Hand. Vreneli trug sie in ihrem Täschchen.

Sie waren von der Forch herabgewandert und trafen es insofern schlecht, als Besuch da war, Krannig. Auch von Stapfer gab es Drucksachen vorzulegen; zwei seiner Bildwerke waren nach Deutschland weitergegangen und hier in einer Zeitschrift zu sehen. Für mehr war die Zeit vorbei, Martin im deutschen Raume zu spät angekommen.

«Ihr habt es ja besser,» sagte Byland, «ihr sprecht eine Menschheitssprache.»

Vreneli in ihrer Jugend sprach sie offenbar auch; Krannig fing sichtlich Feuer.

«Und für das», murrte Stapfer, der in den Bögen las, «hast du nun wieder bezahlt?» Sie Krannig hinüberbietend: «Ein Dichter legt tausend Franken zu diesem Geschenk an sein Volk.»

«Sind sie hereinzubringen?»

«Jedenfalls nicht zu seinen Händen. Auch nicht zu denen des Verlegers, und der Buchhändler kauft sich kein Auto davon.»

Krannig, der alles, nur kein Leser war, blickte so, dass Martin das Blut aufwallte.

«Aber Strassenbahnhäuschen, sag ich dir! Kinopaläste! Gottes ist der Orient – der Okzident muss des Teufels sein!»

Das Pärchen ging alsbald weiter, und Wochen verstrichen bis Martin dazu kam, dem Liebenden seinen Eindruck zu sagen.

«Sie sprach ja vor Schüchternheit keine drei Worte. Hat Paul sich noch nicht gemeldet? Schlag es ihm rundweg ab, wenn er sie zum Modell will; in dem Punkt ist er skrupellos.»

«Ich brauch es ihm nicht zu verweigern; – sie und sich ausziehn! Mir, wenn ich sie bäte, gewiss ohne Wimperzucken, wie alles.»

«Ich fürchte das eine, Walther, in ihrer kindlichen Hörigkeit kann sie dir auch im heilsamen Sinne zu wenig Widerstand sein. Ich meine Widerstand so wie der Ranke ein Stab. Du weisst, wir Männer, irgendwo bleiben wir Babys.»

«Die Frauen – irgendwie sind sie uns schon als Babys überlegen! Was ich an dem Kinde anstaune, ist gerade diese immer noch wunderbar zunehmende Weite des fraulichen Empfindens. Hier war sie erschrocken und Krannig missfiel ihr. Findest du sie sehr kindlich?»

«Von mir aus hätte ich sie, wie Krannig es tat, auf wenigstens siebzehn geschätzt.»

«Sie wird im Frühling konfirmiert, ist alsdann etwas über sechzehn und Gott sei gelobt der Grenze des Gesetzlichen näher. Ich wollte sie über die Verlegenheitsjahre ins Welschland bringen; dagegen waren der Proletenstolz des Vaters und zugestandenermassen meine Furcht, sie auf die Weise zu verlieren. Ich sah sie so wenig, als es ohne Kränkung zu machen war.»

«So bringt der Frühling uns beiden Feierlichkeiten –»

«Im Frühling?»

«Ja, und ich stürze mich auf die Gelegenheit, dich zum Trauzeugen auf Gegenseitigkeit zu bitten!»

Sie kämpften beide mit der Rührung.

Stapfer machte sich eine Weile mit seinem Giesskännchen am Lehm zu schaffen.

«Es wird auch jetzt nicht sehr leicht sein. Es sind keine Zeiten der Kunst, die Menschheit hat andere Sorgen. Krannig sogar wird abbauen, sich mit seinem Namen begnügen und wieder auf Verdienst arbeiten müssen. Nächstens geb ich ein verspätetes kleines Fest mit Aufrichtmahl und einem Bäumchen . . . »ein Tännlein grünet wo, wer weiss, im Walde«. Du bist, natürlich mit deinem Bräutchen, vor allen geladen.»

Byland hatte seit Jahren auch ein Romanmanuskript auf Lager, samt einer schmeichelhaften Kollektion von Verlagsbriefen dazu. Die Wanderung der Handschrift hatte seinen Namen im Stillen verbreitet, den Ruf seiner problematischen Begabung in Fachkreisen gemehrt; es gab Lektoren, die bedauernd nach dem Schicksal seines Buches fragten, aber auch staubige Herren, welche ihm mit der Bekundung ihrer Ungnade einen Stein auf den Weg zu rollen glaubten. Byland indessen – das war die Frucht seiner journalistischen Tätigkeit – hatte längst jenen Hochmut in sich ausgebildet, auf Urteile wohl zu hören, die letzten Verantwortungen aber allein zu tragen, in keiner Weise weder aesthetisch noch moralisch noch menschlich gefallen zu wollen, seinen Ehrgeiz nur darein zu setzen, die Erkenntnis mit grösstmöglicher Wahrheit in die Welt zu stellen. Ratschläge – du lieber Gott, an ihrer Hand kam einer dazu, sich den Esel auf den Rücken zu laden. Von Natur verletzlich und auch eitel genug, dumme Missdeutung schmerzhaft zu empfinden, war er dahin gekommen, es als einen Teil seiner Leistung zu tragen. Wahrlich nicht in Gefahr, sich Unfehlbarkeit anzumassen, fand er die Auseinandersetzung mit der Welt seine Mannespflicht, die ihm so wenig als den Meistern des Ungenügens eitel Wohlgefallen und Friedenspalmen einbringen konnte.

Der Herbst war ihm vergällt durch Qual des Wartens; das Gedichtbuch wollte und wollte nicht kommen; dazu die Entbehrung Vrenelis, die Weite des Weges zu ihr. In Nordspanien war der Marsch der Nationalisten plötzlich verheerend vorgestossen; es gab da nun, während man lebte, die umzingelten Städte, die Menschen am Meer mit dem Todfeind im Rücken; es gab die Bestialität des Materials, den Hohn der Usurpatoren, die Flucht der Greisinnen und Kindlein, irgendwo hinauf in den Schnee – und man lebte, man übte die täglichen Verrichtungen, sah die Sorglosigkeit derer im Wohlergehen, und Gott schien es alles zu billigen.

So blieb denn das kleine Hausfest am Pfannenstiel nicht ohne Streiflicht des Makabren; Bilbao war gerade gefallen, die Biscaya schwemmte Leichen nach Frankreich, in Hendaye beobachtete man von Autos aus die Salven auf Mütter und Greise. Man sprach von dem allen und von der rechten Art jetzt, zu leben, welches die gebührliche Mitte zwischen Sorge und Vertrauen, Abwehr und Offenheit, Welthaftigkeit und Geistigkeit wäre. Martin und Elena trugen ihre Ringe; Krannig, der es sich nicht hatte nehmen lassen, für den gastronomischen Teil der Veranstaltung auch mit seiner Kochkunst aufzukommen, fand es denn doch schliesslich gottlos, das heilige Leben mit Politik zu verschandeln. «Dass ihr an diese mehr als zweifelhafte Dame überhaupt noch ein Wort verschwendet! Ich verstehe nichts davon, aber so viel wette ich mit jedem, dass wir die kurzweiligsten Dinge von ihrer Laune erleben werden. Um die Freiheit der Völker soll's gehen? Die Völker sind immer beschissen. Ihr glaubt jetzt an dieses Russland als an den grossen Versuch; ich aber sage euch, das Volk wird auch dort den Popanzen noch in ganz anderen Lug und Trug als diese Moskauer Prozesse hinein folgen. Die höhere Gerechtigkeit distanziert sich von diesen Händeln. Die höhere Gerechtigkeit ist in dem und in dem und in dem –» er zeigte von einer Terrakotta auf den Knaben und – seine gebackenen Felchen.

Er hatte die Hilfe einer alten Bauernfrau, kam aber nicht zu Tische, sondern lief in seiner Küchenschürze, rundlich und rosig, hinaus und herein. Man sass in der grossen Stube, dem Zimmer Elenas nebenan; Stapfer hatte die Mittelwand nach der Werkstattseite durchbrochen und die Küche dahinter angelegt. Die Eschen am Bache sausten, der Albis rauchte von Sturmgewölk, Martin sorgte sich um das Bäumchen, das er am Abend eines märzlichen Herbsttages auf den First gesteckt hatte, und in der Tat, als er mit Marti auf die Wiese hinauslief, sah er's in all seinen Bändern schon auf das Dach herabhangen. Seine Gebärde dazu wirkte auf Marti nicht humorvoll, die starre Betrachtung, in der das Büblein gestanden hatte, löste sich in Geschrei. «Pass auf, was wir machen!» rief der Vater und lachte. Marti hielt im Lamento ein, neugierig darauf, durch welches andere das Unglück ersetzt werden sollte. «Und du darfst mit dabei sein.»

Er nahm seinen Labormantel und führte den Kleinen in den Estrich hinauf. Der Wind trieb Schauer von Regen durch die Ziegellücke herein, die der Vater, gewaltig ragend, wie ein Loch im Eise abschuppte. Es regnete denn in den Estrich herein, sprühte dem Büblein auf den Schopf; es sah das Gewölk über die Oeffnung jagen und endlich den Baum wie ein Meertier in seiner Buntheit herniederkriechen. Es lag ihm zu Füssen, zahm und des Schutzes froh; dem Vater gelang es, das Leck zu verlegen. Die Grösse des Vorgangs stimmte den Knaben zu einer heiteren Sanftmut, er führte an einem der Bänder mit und fragte und unterhielt sich als Mann mit dem Manne, in dessen Gemeinschaft er ein Unheil gutgemacht hatte.

«Da haben wir den Sünder», erklärte Martin der bass erstaunten Gesellschaft, und das war abermals ein Wort voll Tiefsinn für Marti, der es in der Folge dauernd wiederholte – «Da haben wir den Sünder!» rief er freundlich strahlend auch als das Tännchen, hochzeitlich mit Bändern und Konfekt behangen, eine Weihnacht im Raume verbreitete.

Im übrigen hielt er sich zu Vreneli und schleppte es nach Tisch in den Estrich zu seiner Schaukel hinauf. Byland traf beide vor der Gesimstruhe in Spielsachen kniend, nicht ohne einen kleinen Knacks im Gewissen zu verspüren. «Baumgartners wollen gehen, Herzing», sagte er und sah in die Auslage hinab.

Alsobald wach, erhob sich das andere Vreneli zu ihm, ein Rosenbusch, der ihn gewichtlos umblühte.

Noch fehlte es an allen Ecken und Enden in diesem Haushalt ad hoc, doch behalf man sich mit Humor. Die zweite Schicht, die Jugend der Baumgartner, rückte auf Ohrtassen und Bechern trommelnd an; es folgte die Festivität der Kleinen, diesmal unter der Führung Vrenelis, welches zur Tante aufrückte und seinen Kindergarten von Lustbarkeit zu Lustbarkeit mit aller nur wünschbaren Findigkeit lockte, sodass sich das Kabinett der Bedächtigen, unten im Atelier, unabhängig wiederum seinen sorgenden Beratungen hingeben durfte, aufblickend nur wenn Krannigs Wagen vor dem Hause mit einem lockeren Bleche in Windstössen schepperte.


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