Albin Zollinger
Pfannenstiel
Albin Zollinger

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16

Das war die Schuld. Er mehrte sie nur durch Wiederholung. Vreneli ass sich nicht satt an der vorzeitigen Frucht, lief ihm in aller Form nach, und er hatte die Grenze überschritten, an der die Verteidigungen lagen. Die Gegenwart der kleinen Geliebten heiligte alles; er würde ihre Jahre abwarten, das noch Zwielichtige wuchs in die Höhen des Erlaubten hinauf, der Mut zu dem jetzt Möglichen war seiner Liebe als geringste Leistung aufgetragen.

Beide hatten sie Ferien, und sie nützten sie in dem ihnen gesetzten Masse. Ihr Gefühl, auf seiner Seite voll Schwärze der Gefahr, tränkte sich mit dem Duft von Blust, durch das ihre Gänge sie führten, mit dem Wohllaut der Amseln, mit Rauschen des Bachgestrudels, der Welkheit von Gras, in welchem sie einsam lagen, mit Strömung der Frühlingswolken. Vreneli hatte nur Seligkeit davon, übergrosses, unverhältnismässiges Erlebnis, nach welchem es die Beschaffenheit des Lebens abschätzte; Walther, im Bereich ihrer Kräfte, hatte seinen Aufenthalt in Arkadien, die Wirklichkeit des Traumes, das, dass der liebe Gott seine Partei mit Billigung des Aussergewöhnlichen nahm – hatte aber auch seine Nächte, die innere Jagd in den Regenräumen, da er sich verloren wusste; der Schweiss brach ihm aus im Entsetzen – das Kind hörte nicht auf ihn, setzte seinen Beschwörungen die Ruhe einer Fraulichkeit entgegen, die um Schicksalhaftes zu wissen schien. Manchmal hasste er sie für die Hartnäckigkeit, fühlte er sich hereingelegt, – der Gedanke, an dem er erwachte: Lieber Gott, mach es ungeschehen! Es blieb geschehen, dass er sich der Verschwiegenheit eines Kindskopfes ausgeliefert hatte, geschehen, dass er eine Seele aufgescheucht hatte, für die er auf langehin die Verantwortung trug, zum wenigsten auf langehin! Er blickte auf sein Vorleben als auf ein friedliches Land des reinen Gewissens, der Geborgenheit im Bürgerlichen – was galten noch Zeitungskriege, Prozesse unter Erwachsenen, denen es um Rechthabereien ging! Jetzt stand er ausserhalb aller Ordnung, im Freien der Urangst, angeweht vom Luftzug aus Gründen des Todes. Heiss und eisig, das war die Art dieser wunderlichen Wochen, für deren Heimsuchungen er Musse besass. Er hatte sie schreibend sonst auf dem Lande am Rhein verbracht; das Schweigen von Vater und Mutter sah auch wie ein Vorwurf herüber auf sein Leben in der Heimlichkeit. Hätte er die kleine Frau ins Atelier bringen dürfen? Martin regte es nicht an, kam von sich aus nie auf die Liebe des Freundes zurück. «Sie ist was du daraus machst», hatte er ihm abschliessend davon gesagt. Stapfer hatte Besuch von Seume. Das Felleisen des alten Landstörzers, das an der Lehmkiste lehnte, erregte Bylands Eifersucht, schändlicherweise. Seume erfüllte die Werkstatt jetzt mit seinem Schneidergeplapper. Er hätte gealtert, sagte Martin, auch im Gemüt; Europa mit den Hindernissen seiner Grenzen sei ihm verleidet, er wechsle nach Amerika hinüber. Nur habe auch das seinen Haken; ehedem – man kletterte irgend ein Tau hinauf, man schwitzte eine Woche vor Heizkesseln. Vielleicht nahm er ein Ruderboot. Einer war im Kanu hinübergekommen. Zeit! Hatte die Welt nicht Vorrat davon ebenso wie von Erdteilen und Ozeanen? Ihr Ende, nicht zu erwandern, war ihm Kummer und Wonne zugleich. Denn auch sein Stück Zeit – ein Brosamen vom Tische der Ewigkeit! «Europa», sprach Seume, «Europa, das ist kein Leben mehr. Eure Sorgen da in der Zeitschrift» – er hatte im «Pfannenstiel» geblättert –, «bildet euch ja nicht ein, die Laster allein zu haben. Sie sind europäisch. Europa verwandelt sich in ein Safe; die einen pflästern in Geld, die andern in Bajonetten. Aus beidem wird ein Safe, ein Riesensafe, ein Sarg der menschlichen Seele. Samt Italien, durch die Hexerei der Tüchtigen. Vordem, was war das für eine gottvolle Wildnis mit Ginster, mit bröckelnder Klassik, mit vergrasenden Eisenbahnschienen – mit Bettlern, mit ritterlichen Banditen! Alles kaputt jetzt, kaputt in verwüstender Ordnung, die Altertümer für die Fremdenindustrie aufgeputzt. Was soll man Europa wünschen? Einen Krieg? In zehn Jahren, die Gott mir schenke, komme ich zurück. Ist's kein Sarkophag, so ist's doch ein Haufen Schutt. In meinen Segeltuchschuhen wandere ich von Trümmer zu Trümmer, stochere mit dem Stock in der Gotik: sieh da, ein Schnörkel von Chartres! Eine Nase Michelangelo. Hier stand die Sixtina. Weshalb nicht? Ich komme von Griechenland. Schicht sinkt auf Schicht. Karnak auf Babylon, auf Karnak Athen und Rom auf Athen. Gott ist nicht zimperlich, Gott ist ein Wandersmann und geht drüber hinaus weiter.»

Seume schnitt sich die Zehennägel, meerschaumfarbene, dicke Muscheln, deren Späne zwischen die Statuen flogen.

In einem kretischen Tonkrug stand Flieder am Boden. Seume hatte sich nicht übel gewundert, den Freund verwitwet und im Besitz eines Söhnchens zu finden. Viel Missgeschick widerfuhr den Sesshaften im Handumdrehen; der Flieder hing auf eine Büste herab, in der Stapfer die Tote hatte aufleben lassen.

Er log nicht mit Bewusstsein, wenn er von ihr als von seiner Frau sprach. Der Geiger war seinem Gedächtnis entfallen und Tilly ihm vor der Hochzeit gestorben. Das Knäblein, nach ihrem Willen auf Martin getauft, war ihm nachträglich zugesprochen und der Grossmutter in Pflege gegeben worden. In den Buben vernarrt und verzweifelt darüber, ihn dermassen gastweise zu bekommen, hatte Stapfer das ganze Haus unter Dach gebracht; wenn die Wohnung bereitstand, würde sich Tillys Mutter wohl überwinden, sie mit dem Kleinen zu beziehen. Allein der Bau blieb als eine Art Scheune nur mit dem Roost der Bodenbalken stehen. Stapfer fehlten die Mittel, ihm weiterzuhelfen. Die Anwesenheit des Globetrotters liess ihn vollends nicht mehr ruhig Wand an Wand mit dem klaffenden Neubau schlafen. Seume verschwendete seine Arbeitskraft an die Entwässerung der Wiese, Seume, der gelernte Zimmermann! Stapfer durchging in Gedanken seine Möglichkeiten; da wuchs ihm kein Gras mehr! Zu lange hatte er mit dem Ruhm auf sich warten lassen. Ein Gönner wie Herr Sytz fand wohl Gefallen an seinem Werk, doch masste er sich keine Sachverständigkeit an, es fehlte ihm daher auch die Ausdauer der Spekulation; blieb die Bestätigung von aussen aus, so liess er die Schützlinge fallen. Nämlich in aller wirklichen Sammlerleidenschaft rechnete er letzten Endes; die Kunst als Kapitalanlage rechtfertigte auch kaufmännisch, also in oberster Instanz, diese Liebhaberei, die er anders weniger offen und wohl auch mit grösserer Mässigung betrieben hätte. Seine guten Rösslein im Stall waren ihm zugleich Berater; nun aber hatte Martin so ziemlich die ganze Schwadron guter Rösslein im Lande nach und nach vor den Kopf gestossen, was die Ursache auch seiner Misserfolge vor Juryen und Ausstellungskomitees war. Die Wirksamkeit als Pfannenstieler verbesserte sein Ansehen nicht, belegte vielmehr schwarz auf weiss den Hochmut dieses Querkopfs. In den Sitzungen unmöglich geworden, flüchtete er in eine Publizistik, in der er sich über die Bonzenpraxis des Kunstlebens lustig machte, mit Gegenständen, die ihm privat das Bravo seiner Kollegen, verbindlich aber nur die Racheakte der Allgewaltigen eintrugen. Damit dass er auch Dinge wie die soziale Stellung des Künstlers in seiner unverblümten Schreibweise behandelte, machte er sich der Undankbarkeit schuldig; ein schriftstellernder Bildhauer überhaupt, meist war er weder das eine noch das andere. Gehässigkeit der Zunft, Unkenntnis der Menge, er hätte sie leicht ertragen, hätten sie sich nicht eben in dieser Schrumpfung am Allernötigsten ausgewirkt; er lebte wie ein Belagerter, welchem der Feind die Quellen im Gebirge vernichtet hat. Er lebte ein Leben der Askese, in Unruhe nicht um sich selbst – er bedurfte wenig, und das Bauernland gab es ihm – gejagt nur von seiner Verpflichtung und in Aengsten, das Werk zu verfehlen.

Das schmale Leben war ihm nicht anzusehen; in aller Wohlgestalt war er massig geworden, er litt aber an Furunkeln, deren er eben nicht weniger als drei gleichzeitig austrug, einen am Gesäss, ein Zwillingspaar im Nacken, weshalb er mit Behinderung, doch immerhin arbeitete. Es war der Turner, mit dem er sich noch immer herumschlug, dieser Bursche, den er widerwillig unternommen, im Kampfe aber liebgewonnen hatte. Wie sieht er aus, um «Vaterland, nur dir!» nicht auf einem Täfelchen zu tragen, sondern es zu sein? Stapfer hatte die Vision davon sozusagen aus den Füssen heraus entwickelt und bis an den Hals hinauf zäh und siegreich bezwungen; das alles sollte der Kopf enthalten, abschliessen und in der Steigerung krönen, es war schwer zu erreichen, es war die zehnfache Arbeit; Martin formte die Lockenhäupter in Serien, Münder und Halsansätze in Serien, oben in seiner Dachkammer, wohin er seinen Brocken wie ein Huhn geflüchtet hatte – vor der Störung, vor der Gewalttätigkeit des Fragments, vor der Enge des überfüllten Raumes. Noch wenn er's schaffte, blieb es ihm wieder im Hause, die Kirchenmänner würden es schon erreichen – verfluchte Wirtschaft, wozu und wie lange? Klüger, ein Steinmetz zu werden und redlich dem Kinde zu gehören! Der Modelliertisch stand unter dem offenen Fenster. Er liebte es zu sehr, mitten im Bachrauschen zu arbeiten. Jetzt, in Unglück und Misserfolg, behindert von Schmerzen, gab er die Jagd der Ueberlegungen zugleich mit der Bemühung am Lehm durch stillen, ingrimmigen Beschluss jählings auf. Er stiess dem Kopf seine Faust vor das Kinn, stiess ihn vom Tischchen und begann auf einmal, mit brüchigen Büsten durchs Fenster zu schmeissen. Sie schlugen vor dem Hause wie Quitten auf, knallten aufeinander und klatschten ins Wasser. Stapfer sah aus wie ein Landsknecht von Hodler, meisterte den Ausdruck von Schmerz, der ihm vom Nacken her brannte; plötzlich nahm er die Fäuste vor den Mund.

In der Tiefe weinte das Knäblein.

Tilly, Tilly! dein Kind!

Vor dem Hause sass der kleine Martin, weinte zum Fenster herauf.

Wimmernd stürmte der Riese hinunter. «Seume!» Landstreicher, verfluchter!

Er warf sich auf sein Knie zu dem Kleinen nieder, verhielt den Schrei seiner Schmerzen nicht: «Büblein, Büblein, wo tut's dir weh?!» Er tastete es mit zitternden Händen ab, drückte den Lockenkopf an sich, lachte, schrie nach Seume, packte sich das Bündel auf die Arme.

Seume mit dem Spaten kam hervor, sah den Vater seinen Jungen tragen, dahin und dorthin auf der Wiese, einwiegend, mit Zuspruch und Zärtlichkeiten; Seume stand in dem Hagelschlag, mit dem Stapfer auf einmal losbrach.

Unwetter – er sah den Balkan, die Vogesen; Seume stand offenen Mundes. Er sah den Balkan, den Olymp mit Schnee im frischen Grün aufleuchten – Stapfer hatte das Bübchen ausgezogen, wie eine Putte stand es im Grase, streckte sein putziges Bäuchlein.

Stapfer, wie ein in der Sonne vertropfender Regen, säte einen Redeschwall umher.

«Der Mensch hat doch immer wieder ein unverdientes Glück! Er hat überhaupt nur Glück! Siehst du, vorzeiten, das mit Tilly: ich glaubte mir das Leben nehmen zu sollen. Ich sah in allem nicht den geringsten Sinn – sah nur Schauerlichkeit, Entsetzen – und dann hat es mir das hinterlassen! Gab ich's für Marie? Ich gab es für nichts. Ihr könnt mir die Vollkommenheit aller Statuen anbieten: die Unversehrtheit dieses kleinen Fleisches – ach, Vergleiche! Ich hab's noch einmal wieder! Von dem was Gott und der Mensch tun, ist Gottes immer gut, das des Menschen in der Richtung zur Hölle. Nie, nie, nie wieder will ich klagen! Denn übers Gute ist nicht zu klagen, das andere Selbstverschulden. – Sieh dir's an, Seume, und schaff es weg, tu mir die Liebe; vergrab den Dreck! Und hernach bauen wir!»

Er hatte die eine Hoffnung seiner Schwester am Bodensee. Es war freilich bitter, seine Demut aber süss in ihrer Reife. Ein Wind von Wohlgeruch schlug von dem blonden Schopfe herauf; Kindermund, baumelnde Beinchen, und sanft hinab durch die Säle des Laubes! Alles was Gott tat – recht sinnbildlicherweise hatten die Furunkel ihren Weg gefunden, so wie der Schrecken ihn selber voranstiess; es ging, Martin radelte, er veränderte wieder einmal den Ort, spielte in seinen Verhältnissen Seume. Er sang auf seinem Rade. Er weitete die Freiheit aus durch Abstecher ins Launische. Wegweiser verhiessen ihm Seligkeiten; er fuhr in Salbei und Rebland. Fuhr durch Riegelbaudörfer. Was die Heimat nicht alles hatte! Sie hatte diesen Wald auf dem Irchel, den entlang er fuhr. Man hatte nicht nur die Herkulesarbeit seines Werkes, nicht nur Hausbau, Drainage, den Fischteich, die Stunden mit dem Bübchen und den Büchern, man hatte auch allerlei nachzuholen. Gelegentlich diesen Irchel. Wie brachte nur Seume die Welt hinein, wo das Nächste nicht zu bewältigen war! Er begegnete dem Rhein, diesem Lebewesen! Von Norden kam er herangezogen, seinem Ursprung entgegen; langsam und grün und tief, in einem Pelz von Gebüsch, das er schleifte. Stapfer hatte lange hineinzusinnen, riss sich denn endlich los mit einem Gruss an die Ebenen, ihre Brückenstädte, das Meer und sein Salz. Seit Ewigkeiten warf es den tropfenden Schweif der Winde herauf übers Hochland, auf Firn und aufs Moos; im Kristall schlief der Traum von Salz, im Moos der von Tang, kleinfüssig machte es sich auf den Weg, stiess zum Rinnsal, zum Bache, mit dem Bache zum Fluss und zum Strome – die Thur kam daher durch ein Grasland mit Reihern und Lerchen, gesprenkelt von Apfelbaumgärten, Heu in der Mähne, mit dem Kuckuck in seiner Spiegelung. Die Thur im Gefunkel ihres heidnischen uralten Namens! Bauernland, Bauernland! Staub der Strassen puderte die Kirschen, Wegwarte und Spitzwegerich; ein jedes Dorf mit Bogenfenstern seines Theatersaals, blauem und rosa Gezeddel an den Anschlagbrettern – liebe Demokratie! – mit Spritzenhäuschen und Feuerteich, Froschquarren und Grillenglitzern! Aber das Moor! Er schwankte auf Türmen versunkener Torfkathedralen. Libellen darüber starrten in Abgrund des Himmels. Kleine Fische gingen im Himmel. Säume, Seume, laufe der Welt nicht in die Welt hinein davon!

Was ist das nun auch wieder für ein Geheimnis, schattenhalb eines Bergzuges, der Seerücken heisst? Die Strasse steigt durch Meilensteine, und jenseits flutet der See an das Ufer, ein See mit Dampfern und Fischerkähnen. Bald kommt der Phlox in den Gärten, die Wäsche weht riesenhaft vor der Insel.

Einhändig steuert er hinab in eine Landschaft von Sommerwiesen, fernen Türmen und Wasserbreite.


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