Albin Zollinger
Pfannenstiel
Albin Zollinger

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15

Und so hatte er sich einer Toten angetraut. Er nahm ein etwas närrisches Wesen an, welches Wesen mit in den Spitznamen Pfannenstiel, der ihm blieb, einging.

Er hauste in seiner Ruine den Sommer und Winter über struppig, Gott weiss in welchen Geschäften.

Byland hatte mit List seinen Entwurf herausgelockt, aber der Entwurf kam ungekrönt zurück und Stapfer sagte dazu: «Ja, ja.»

Stapfer gab auch seine Einwilligung zum Abguss der Büste, obwohl er sie nicht als fertig erachtete; das war das wehmütigste Anzeichen von Verfall.

Die Gruppe hatte sich konstituiert, ihre Mitglieder nannten sich dem Anreger zu Ehren wirklich die Pfannenstieler, mit welchem Begriff sie ihr Bekenntnis zur Natur ebenso wie das zu einem höheren Ueberblick nicht ohne fröhliche Selbstironie umschrieben. Sie hatten einige Versuche gemacht, bestehende Zeitungen in ihrem Sinne auszubauen; sie scheiterten alle an der Aengstlichkeit und Kleinbürgerlichkeit, am Bonzentum, mit denen sie es zu tun bekamen. So war den Revoluzzern nichts anderes geblieben als ihr Werkzeug aus eigenen Mitteln zu bezahlen; einige zwanglos erschienene Hefte des «Pfannenstiel» bleichten in den Kioskauslagen. Für die Schriftleitung zeichnete Byland. Byland hatte das Vorwort der ersten Nummer geschrieben und den Hauptteil mit einer Novelle und Gedichten bestritten. Dieses Debüt war in der Presse kommentiert worden, wenigstens in der bürgerlichen, deren führende Blätter sich im Instinkt gegen die Auflüpfigkeit der neuen Leute vereinigten. Byland druckte ihre Besprechungen in der zweiten Nummer wortlos ab. «Unter der Aegide des Herrn Dr. Byland, Sekundarlehrer und Schriftsteller,» hiess es da, «hat sich eine Bewegung auf die Beine gemacht, das schweizerische Kulturleben aus seinem Sumpfe herauszuführen. Ihre epochale journalistische Gründung betitelt sich nach unserer heimischen Anhöhe »Pfannenstiel«. Die Verwandtschaften zwischen dem freundlichen Berg und den Bestrebungen der selbstbewussten gekränkten Leberwürste, die sich in diesem Benjamin unserer Zeitschriften zum reichlich vorwitzigen Worte melden, bleiben uns bis auf weiteres unerfindlich. Es wird abzuwarten sein, welcher Art die Gerichte sein wollen, die uns die neuen Gastronomen servieren. Anhand einer ersten Probe lässt sich höchstens das chemische Gesetz der Rotreaktion von Säuren bestätigen. Nämlich die Schullehrer in ihrer Allwissenheit machen gleichzeitig in Politik, einer Politik, zu der in namentliche Beziehung gebracht zu werden der alte Heimatberg sich füglich verbitten darf. Auf den Tatzenstecken der Pädagogen hat die schweizerische Oeffentlichkeit lange warten müssen. Er ist nun da in Form eines Pfannenstiels. Die Pfanne daran und der Braten in Form einiger Beiträge des Herrn Schriftleiters bleibt uns vorderhand mehr Andeutung als Versprechen. Wie sagt doch der liebe freundliche Claudius von seinem Kindlein: «Und geb Dir Zähne mehr in Deinen kleinen Mund, und immer was dafür zu beissen!»

Das einzige Linksblatt, das von der literarischen Novität Vormerk zu nehmen die Aufraffung fand, belegte die Blaureaktion der dilettierenden Schöngeister.

Dann Schweigen, Schweigen! Byland zählte auf die selbsttätige Wirkung der Wahrheit; aber er sprach wie in Watte hinein, die Auflagen blieben liegen, die Rechnungen häuften sich, und das Unternehmen krachte in sich zusammen.

Nachträglich meldeten sich Aufmunterung und Bedauern in Briefen, welche Byland aus allen Ecken des Landes zugingen. Der Klub der Pfannenstieler gelangte an einen Wirtschaftsmann, welcher damals begonnen hatte, auf seinem Gebiete reformatorisch vorzugehen; er hiess Duttweiler; ihm trauten unsere Käuze die ihnen verwandte Unvoreingenommenheit zu und, was sie ebenso brauchten, die Fülle der Mittel. Die Mittel waren nicht anders als wieder mit Mitteln zu schlagen. Byland vermochte die Begabtesten, politisch verfehmte Hungerleider, mit halben Honoraren nicht beisammenzuhalten, davon abgesehen, dass er, der die soziale Hebung des Geistesarbeiters auch im Organ des Schriftstellervereins verfocht, nicht selber die Freiwilligkeit anrufen durfte. Die Verhandlungen mit Duttweiler berechtigten zu den schönsten Hoffnungen, ein neuer Wind begann überhaupt in der Stickluft umzugehen, die Vorgänge im Ausland riefen eine Menge Fronten politisch-geistiger Natur auf den Plan, darunter freilich auch solche, die zu bekämpfen die Patrioten aller Schattierungen sich angelegen sein lassen mussten. Den Pfannenstielern lag es ob, eine Mitte der Politismen, eine Mitte zwischen den Heimattümeleien und nationalem Kleinmut zu wahren. Ihre Absicht war die Pflege des Eigenen im Raume des Allgemeinen. Der Vertrag mit dem kaufmännischen Ketzer richtete sie zu sehr nach dem Grosskonsum aus und blieb ununterschrieben. Stapfers Hilfe war nicht zu bekommen gewesen. «Mir steht es gerade an,» hielt er Byland entgegen, «vor anderer Sünder Tür zu wischen. Zu fehlen ist menschlicher Fluch, das Uebel am Ganzen muss von der Zelle des Einzelnen aus gesunden.»

Er hatte ein zauberhaft schönes Grabmal für Tilly gemeisselt. «Nehmen Sie's als mein Bekenntnis auch dafür,» sagte er still, «dass wir auf Schuld und Schmerz nicht anders als mit der Anstrengung zur Sühne im Werk antworten können.» Das Werk verstrickte ihn in Schwierigkeiten mit dem Naturschutzverein, der die erratischen Blöcke der Gegend verteidigte.

Und Stapfer litt schwarzen Hunger. In der Arbeit am Grabmal den paar Verdienstmöglichkeiten gegenüber gleichgültig, verlor er die letzten Einnahmen. Byland unterstützte ihn zusammen mit einigen Lehrerinnen, die er für eine monatliche Gabe hatte gewinnen können. Die guten Häute unter ihnen, redliche alte Jungfern, die in der Einfachheit lebten, um wohltun zu können, waren gar keine Seltenheit, Byland wusste es. Mit ihrer Hilfe erhielt er den Eigenbrödler am Leben. Er vermittelte ihm auch den Auftrag auf ein Standbild am Sportplatz seines Kreises; der Eremit war für ein weiteres Jahr beschäftigt. Er verbrachte es still wie zuvor, kaum mehr als mit Byland verbunden, mit dem lebenden Byland und seiner Toten. Die Almosen, das erfuhr freilich niemand, gingen grösstenteils in der Fürsorge für das Kind auf. Es rutschte schon längst auf dem Boden herum. Die irdische Gerechtigkeit – das Unglück hatte ein Glück im Gefolge gebracht, die Frucht der Schuld gedieh rosig im Entzücken der Ahne.

Im Herbst nahm ein Basler Buchdrucker Verbindung mit dem Obmann der Pfannenstieler, ein jüngerer Herr von Unternehmungsgeist und Idealismus; der «Pfannenstiel» auferstand. Seine Hefte erschienen mit der Pünktlichkeit der altrenommierten, wenn auch nicht in deren äusserer Feudalität; die Bemessenheit der Mittel zwang zur Einschränkung. Byland leistete seine Arbeit ohne Bezahlung; dafür liess sich der Verleger alles zugunsten der Werbung kosten. Byland schrieb Zirkulare, die gedruckt an den Buchhandel, die Kiosk AG., die Lesegesellschaften und Bibliotheken gingen; Byland schrieb tausende von Aerzten, Rechtsanwälten, Pfarrern, Kunstgewerblern, Beamten aus Adressbüchern heraus, das Doppel der Auflage ging in Freiexemplaren ab; Byland verteilte eintausend Stück in der Lehrersynode, was drei Bestellungen einbrachte. Byland zog sich den Tintenfisch der Schreibmamselln, die Schmähbriefe der Schillerkragen auf den Hals; die Nuditäten seiner Graphik entzündeten Schwefel und Donnerhall in den Landen – nur die Fachschaft schwieg. Auch die Gegner von Format, die er achtete, schwiegen. Die Diskussion über Fragen der Allgemeinheit, die er in Gang zu bringen versuchte, fielen unter den Tisch. Er schrieb Betrachtungen über das Verlagswesen – ein Band Gedichte seiner Feder war gegen Bezahlung herausgekommen – Betrachtungen über den Buchhandel in seiner kulturellen Bedeutung, Betrachtungen über Schundliteratur des Imports, Betrachtungen über das Feuilleton, über die Wirksamkeit des Schriftstellers in Frankreich, über Segen und Konflikt seiner Berufstätigkeit. Er unternahm eine Attacke auf X. Y., den Grossbuchdrucker. Er schrieb von den stillen einsamen Arbeitern der Wissenschaft, Landschulmeistern, die sich zu Autoritäten in Botanik, Geologie, Bienen- oder Wetterkunde hinaufgearbeitet hatten; er brachte in Abbildungen die gemalten Schatullen, die Mazzen, Wurzelmännchen, Wegweiser der zeitgenössischen Bauernkunst. Er erzählte das Leben eines technischen Autodidakten, schilderte seinen Kampf mit Patentanwälten, Lizenzinhabern und, in seiner ermüdendsten Form, mit der Zugeknöpftheit der Geldbesitzer. Ja, und hierin wurde er ausfällig. «Geld die Menge im Lande», schrieb der junge Doktor, «die Banken knarren – vom Stocken der Embolie. Wir wollen den sauberen Volksstaat. Wir wollen den Kreislauf des Blutes. Wir wollen die Mittel frei für jedes Gebiet des Schöpferischen.» Er druckte eine Rundfrage über die Freiwirtschaft. Er machte eine Nummer über Neutralität, mit Beiträgen von Koryphäen der Rechts-, der Geschichtswissenschaft, der Politik.

Das Stillschweigen war wie Granit, war wie Gas.

In seinem Lande hielt man mit Zuspruch zurück, das zog er in Betracht, während Herr Eingesandt, meist anonym, mit seiner Belehrung nicht sparte. «Wer sind denn eigentlich Sie, junger Mann?» hiess es in den Zuschriften. «Worüber, über welche Leistungen haben Sie sich ausgewiesen?» Ist ein Oeuvre im Rücken vonnöten, damit man die Wahrheit sehe? «Wie manchen Doktor haben Sie, da Sie in alle Disziplinen hineinschwätzen? Verwechseln Sie doch nicht das Vaterland mit Ihrer Schulstube, in welcher Zensuren und Rüffel auszuteilen Ihr unbestrittenes Recht sein mag.» Die Künstlernerven ertrugen alldas nicht ohne Anfechtungen. Die Luft von Hass und Verleumdung drückte ihm auf die Seele; im Kleinmut der Zweifel suchte er Stapfers Beistand. Mit all der Nachtarbeit unterhöhlte er seine Kräfte; Wehleidigkeit übernahm ihn. «Ich meine selbstlos ihr Bestes, sie aber verdrehen mir alles ins Gegenteil. Letzten Endes will ich nicht recht haben, nur mit ihnen zusammen über Dinge klar werden, die auch ihnen, ich sehe es ja, Problem sind. In der Demokratie spricht man doch miteinander. Allein es ist alles Tabu: das Positive, das Negative, die Nöte, die Hoffnungen, das Private, das Oeffentliche, das Alte, das Junge, alles ist Tabu. Und da beklagen sie sich, keine Dichter zu haben! Wie soll sich ein Dichter regen, da ihm das Recht der Amsel, Jubel und Herzeleid im Namen aller auszurufen, als persönliche Wäsche, die Behandlung des Oeffentlichen anderseits als Unverfrorenheit ausgelegt wird? Da haben sie ihre «Altmeister», Gottfried Keller als Nationaldichter und Kronzeugen eines Liberalismus, welchen der Freischärler ebenso wie noch der alte Salander weiss Gott anders als die Herren des saturierten Bürgertums meinte. Ich kann mich nicht daran trösten, dass sie mit dem Grünen Heinrich oder dem randalierenden Jüngling Pestalozzi ebenso hochnäsig verfuhren: ich bin in der Tat weder Pestalozzi noch Keller.»

«Reden Sie das den Bonzen nicht leichtfertig nach. Wie deutlich den Grossen das Bewusstsein ihres Genies schon in Jugendtagen ist, darüber wissen wir nichts Verbindliches. Was sie auch waren, vor der Welt waren sie Schnapphähne, unser Landsmann hätte sie damals so wenig wie nachträglich erkannt. Geben Sie mir die Briefe da, ich will mir einen Spass daraus machen, ein Kabinettchen Ihrer Monatsschrift mit Randbemerkungen dazu auszustaffieren.»

So beteiligte sich Stapfer fortan in einer Spalte, die er das Oktogon nannte und mit Schnitzeln verschiedensten Gegenstandes füllte. Er zeichnete mit seinem Namen Pfannenstiel, nahm Lob wie Boshaftigkeit dafür entgegen und hatte von der Sache die Errungenschaft, sich an ihrer Hand in das Weltgetriebe zurückzufinden.

Dieses machte sich auch zunehmend auffällig mit Vorgängen, welche vorerst als Eulenspiegeleien oder bestenfalls historische Reminiszenzen eines abgeblassten Jahrhunderts erschienen. Die drolligen Gesellen, welche die Menschheit eine Weile damit gaudiert hatten, sich allerlei Troddeln, Napoleonshüte und Säbel aus den Truhen der Geschichte aufzustecken, fingen an, ernstere Spässe vorzuführen; es erging der Welt mit ihnen wie Eltern mit ihren Kindern, über deren Kapriolen sie sich totlachen; auf einmal wollen sie sie als zu weitgehend einschränken und erfahren zu spät, dass die Rangen, ihrer Botmässigkeit entwachsen, in keiner Weise mehr zu bändigen sind, es läuft weiter von Streich zu Streich, und unversehens steht die Bude in Flammen. Jedes einigermassen starke Ereignis kommt den Zeitgenossen als Gipfel des Möglichen vor; wie die besagten Eltern lassen sie's noch einmal durchgehen, die Rangen sind aber erfindungs- und listreich – wenn je, so erlebten die Völker davon ein Beispiel in dem Jahrzehnte, das unsern Pfannenstielern an ihrem Orte zu schaffen machte.

Sie beteiligten sich an der Debatte freimütig in dem Sinne, dass sie die Gelegenheit wahrnahmen, Art und Aufgabe eines Volksstaates klarzulegen, dem ein Recht zukam, sich seiner Haut zu wehren. Es gehörte dabei zu ihrem Leidwesen, das Bestehende, wenn sie ehrlich waren, nicht durchaus als Vorbild hinstellen zu können; sie kamen durch ihre Kritik an den Verhältnissen des Vaterlandes rechts in den Geruch von Umstürzlern, den Linksleuten schlugen sie damit ins Kraut, dass sie lieber als wie alle Welt auf die Diktaturen zu schimpfen, die Mängel am Eigenen herausstrichen, nicht zum Zwecke der Selbsterniedrigung, vielmehr als gläubige Republikaner, die es kränkte, sich in Dingen verspottet zu sehen, deren Ungehörigkeit ihnen selber schmerzlich zu schaffen machte. Byland fuhr eigens nach Bern, um eine Reportage über das Parlament vorzubereiten; über der Ohnmacht der Feder verzweifelte er an der Hoffnung, mit dem Mittel des Wortes zu wirken: «Man müsste ein Stuhlbein nehmen und hingehen, sie aus den Fressbeizchen an ihre bezahlte Arbeit zu jagen,» schnaubte er unter Freunden. «Andere beugen sich einem Tyrannen – wir beugen uns tausenden, Sekretären, Bonzen, Gelddiktatoren! Aus dem Grunde, als ich gegen den Tyrannen bin, bin ich gegen die Tyrannen. Dass sie sich tarnen, macht sie nicht angenehmer.»

Die Grossdruckerei klagte auf Kreditschädigung. Stapfer machte eine Glosse darauf. «Unser Freund Byland», schrieb er im Oktogon, «soll gegessen werden. Wie kann er aber auch die Bedingungen des Lyrikers mit denen eines Grossverlegers verwechseln! Er irrt in der Ansicht, auf dem Boden des Schrifttums im Kollegenverhältnis mit ihm zu stehen. Er, der sich für einen Diener am Geistigen hält, vergisst, dass ein Unternehmer von der Art des Herrn X. Y. auch den Musen gegenüber als Arbeitgeber auftritt. Die Literatur ist ihm ein Land nicht der Verpflichtung, sondern der wirtschaftlichen Ausbeutung. Er nimmt das Gebiet der Rendite in Pacht und bezahlt für sein Patent auch nicht einmal eine Gebühr. Sie bestünde, behaupten wir, in einer Leistung zugunsten der weniger einträglichen, aber eigentlichen Reservate des Geistigen, einer Fauna freilich, die Herrn X. Y. noch nie vor die Flinte gelaufen ist. Hat er einmal einen Erstling riskiert? Hat er ein Gedichtbuch herausgebracht? Herr X. Y. gibt Belletristik nur in der Form seiner Wochenblättchen, deren Abonnement er kaufmännischerweise mit einer Unfallversicherung verbindet. Apollo AG. mit beschränkter Haftung. Dionysos in der Rentenanstalt. Byland hat diese Wochenblätter rezensiert und nicht gut befunden. Hat jemals ein schlecht rezensierter Dichter das Gericht angerufen? Die Freiheit der Kritik verpflichtet ihn, den Befund des zufälligsten Idioten zu schlucken. Herr X. Y. aber klagt auf Kreditschädigung und geht damit in die ihm gestellte Falle. Ihm sei alles Geschäft, war unser Vorwurf an seine Adresse. Es kränkte das Rudiment von literarischem Gewissen in ihm, und der Kaufmann leitete die Klage ein. Dem Kaufmann sei mitgeteilt, dass die Klage, die er sich anmasst, überhaupt nicht in seiner Kompetenz liegt. Der Kaufmann verlege weiter seine Kursbücher, Revuen, Radiozeitungen und Modejournale; mit Zeitschriften begibt er sich auf das Gebiet unserer Zuständigkeit, aus welcher heraus wir ihm noch so oft als er will auf die Finger schlagen. Pfannenstiel.»

In Beantwortung der Zuschrift eines Ungenannten schrieb er für die nächste Nummer:

«Mitnichten haben wir den Geist gepachtet, aber wir halten uns für Arbeiter in seinem Weinberg und schämen uns nicht, es zu sagen. Aus Ihrer Denkweise heraus müssten Sie dem Priester seinen Talar als Unbescheidenheit ankreiden. Dass der Banaus in seiner Ungeistigkeit die Beschäftigung mit dem Geistigen Unbescheidenheit nennt, ist schon ein drolliges Paradox. Ein Kerl, der hingeht, Kunst publiziert und sie aus dem heraus, was für Bescheidenheit gilt, schlecht macht, übt das Raffinement der Eitelkeit. Der Ehrenmann befleissigt sich der einen Bescheidenheit, sich höchstens seiner Treue und Ausdauer zu rühmen. Treue und Ausdauer sind sein Teil im Gelingen, die ewigen Ordnungen nicht zu stören. Diese sind höheres Eigentum und der wahren Bescheidenheit ausserhalb aller Verdienste. Treue und Ausdauer sind es beiläufig, die uns gebieten, in diesen Blättern keine Eiertänze vorzuführen, vielmehr die Dinge beim Namen zu nennen und sei es der Name des Eigenen, sofern es nur lehrreich für's Allgemeine ist. Die Objektivität, die in Abstraktionen spricht, baut Tempel oder doch Akademien; diese im Lande zu vermehren schien uns kein Erfordernis, und so machten wir diese Klinik auf. Pfannenstiel.»

Ihr Ansehen blieb schleierhaft. Nach den Zuschriften beurteilt, konnte es die Inhaber schwerlich für Arbeit und Plage entschädigen; ihr Aktivposten, das Schweigen der Gönner, war auch aus dem Verkauf nur schwer abzuschätzen. Er bewegte sich stets um die Grenze des gerade noch Tragbaren herum. Bedingungslos war das Lob nur der Glücklichen, denen sie Kinder aus der Taufe hoben, ein Lob auch dies, welches sie mit der nächsten redaktionellen Ablehnung verscherzten. Zweierlei überraschte den jungen Schriftleiter: die Menge der Schreibenden und ihre Kränkbarkeit. Hatte er den Geldbeutel für das verwundbarste Glied der Eidgenossen gehalten, so erwuchsen ihm eigentliche Ueberfälle nun aus der Unvermeidbarkeit, die Meute der schönen Seelen zu reizen. Der Umfang des Künstlertums im Lande hätte ihn angenehm überrascht, wäre das Erlebnis davon nicht im Eindruck des Missverhältnisses von Selbstbewusstsein und Talent der Musensöhne und -töchter so vollständig aufgegangen. Er sah mit Augen ein Vaterland, in welchem jedermann schrieb und daher nicht las. Der Anfechtungen, in denen er verzagte, gab es genug, ihre schlimmste war die aus dem Zweifel, in welchem er sich selber vom Standpunkt der Gegner aus sah und sich sagte: Bin ich unfehlbar? Grosser Gott, wenn ich irrte! Ich machte mich laut mit Tadel im Versäumnis der Leistungen in der Stille! Denn das Blatt frass ihn richtig auf, jagte ihn bis zur Erschöpfung, in welcher die Kräfte zum Schaffen nicht mehr ausreichten, und es waren möglicherweise die wohlmeinendsten seiner Freunde, die es beklagten, ihm sein Wirken als Kärrnerarbeit verwiesen. Gut, sagte er sich in seinem wehmütigen Trotze, gut, ich lese den haufenweisen Mist auf Kosten des eigenen Werkes; gut, ich mache mich völlig unmöglich ohne Aussicht, das Geringste zu bewirken; gut, sie schweigen, sie wollen nicht an den Köder, sie glauben, mit ihren privaten Komplimenten bezahle ich die Honorare: Wer, der ein Ziel vor Augen sieht, erreicht es ohne seinen Ort zu verlassen? Die Händlerweisheit, die nur mit den Garantien geht, ist zuletzt meine Weisheit. Und ein ganz kleinwenig war seine Zeitschrift ja auch die Planke, an der er sich hielt; so gründlich hatte er sich das Feld verdorben; dass er in anderer als eigener Erde so schnell nicht wieder pflanzte.

Schliesslich stand er am Anfang, war in der Tat niemand, während Stapfer die völlige Einsamkeit mit seinem Manneswerk teilte; man sah ihn jetzt das Söhnchen auf der Lenkstange in seinen Horst hinauffahren; man sah ihn niemals mit Frauen, seit Jahr und Tag in dem Anzug, der ein Stück seines Leibes zu sein schien, lebte er der Arbeit, lebte er aus Gott weiss welchen Mitteln, heiter im Grunde, durch irgend ein Geheimnis überlebensgross von Erscheinung. Bylands bewundernde Liebe war ihm mehr als er sich anmerken liess, und das noch bezog der junge Mann auf die paar Gelegenheiten der Hilfeleistung mehr als auf innere Verdienste, mit denen er dem Meister zur Stärkung diente. Dessen Arm war es gewesen, der den Grossbuchdrucker samt seinem Advokaten über den Tisch hinabstrich, das Oktogon erwies sich als eine Zitadelle, die sich hinlänglich in Respekt gesetzt hatte, selbst Patentjäger von X. Ypsilons Schlag zu vertreiben; sein Prozess war im Sande verlaufen.

War es hierin ein leichter Sieg gewesen, so sollten die beiden Freunde um die gleiche Zeit mit ihren Turnern desto schwerer zu ringen haben. Turnern? Wir erinnern uns der Bestellung, welche bei Stapfer aufzugeben der junge Lehrer in der Lage gewesen war. Die Geschichte dieser Standfigur ist eine Leidensgeschichte. Nicht allein dass Byland mit seinem Liebesdienste zur Unzeit kam, Martin gerade begonnen hatte, auf Baumgartners Land seinen Bach aufzustauen, in der Absicht, ein kleines Kraftwerk zur Beleuchtung seiner Räume anzulegen – der Sportler wollte ihm auch nicht gelingen. Er hatte einen Vorschuss darauf bezogen, durch Bylands Manöver, der die Summe aus eigener Tasche heimlich zum Auftrag hinzugab; ausserstande, das Geld zurückzuerstatten, was er, sich der Plackerei zu entledigen, nicht gescheut hätte, sah er sich obendrein einer Lieferfrist gegenüber, die mit Rücksicht auf Byland einzuhalten er entschlossen war, die ihn daher auch in der Erfindung lähmte. Nun hatte die Zeitschrift den Aufsatz eines Architekten gebracht, welcher die öffentliche Kunst der Stadt Zürich einer Betrachtung unterzog; daraus war eine Kampagne entstanden – die einzige, bezeichnenderweise negative, in der sich die Presse mit den Pfannenstielern auseinandersetzte. Es ging um eine Spezies freundlichen Kitsches aus den Gründerjahren und im Endkampf hart auf hart noch um den Turner am Alpenquai, jenen Poseur mit Becher: «Vaterland, nur dir!» ein gefälliges Bürschchen von belanglosem Naturalismus. «Sein Standort in Gebüsch entzieht ihn wenigstens der Auffälligkeit,» hatte der Pfannenstieler geschrieben; «doch ist schon der Standort eine Usurpation dieses Machwerks: Dem Gebirge genau gegenüber an der Gürtelschnalle des Ufers, schreit er geradezu nach der Zusammenfassung im Ausdruck eines Kunstwerks, das verstünde, das Ganze der einzigartigen Landschaft im Symbol zurückzustrahlen – und der Kranzpatriotismus wirft ihm diesen Knochen hin! Vaterland, «nur» dir! Den Kerlen ist das Vaterland ebenso wie die Kunst Bombast, aber sie haben in beidem zu machen die Verlogenheit, und so kommt es, dass die Kegelbrüder der Quartiervereine in Belangen der Kunst bestimmen, so kommt es, dass sie den Gemeindebesitz mit ihrem Ehrengaben-Geschmack verschandeln.»

War es nun, dass von den gerüffelten Kegelbrüdern noch welche lebten, war es die Nachkommenschaft einer Gattung, ihre Presse antwortete mit einer Zurechtweisung der entschiedensten Art, anhand ihrer Monopole auf vaterländischen Geist, wies den Jugendmut in die Schranken seiner Zuständigkeit, Ideale der Väter mit den eigenen heimzuschicken, aus Naseweisheit, diese für bleibend zu halten. Die Stimme der Arbeiterschaft äusserte sich unter dem Motto «Ihre Sorgen möchte ich haben!» so: «In der Zeitschrift der schweizerischen Kulturspezialisten und Avantgardisten, im «Pfannenstiel» («Pappenstiel»?), unterzieht ein eifernder Schöngeist die Garderobe unserer Stadt seiner kritischen Betrachtung. Nicht ohne Witz macht er sich über den Baustiel des stinkverlogenen Bürgertums lustig, diese Fassadenarchitektur aus zusammengestohlenen Elementen Klassizismus, Jugendstil und Hausfrauenpützelei; er schreibt von der Schuttablagerung des Protzentums mit einem Schneid, der ihn ehrte, wenn nicht eben sein heiliger Zorn der Zorn lediglich eines Aestheten wäre, der, ohne Ahnung der wirklichen Kausalitäten, seinerseits an der Oberfläche herumlaboriert. Zu welchem Unrecht, zu welcher eigentlichen Unverfrorenheit das Messer in der Hand der Halbbildung verführt, erhellt aus des Verfassers Darlegungen über die Arbeiterquartiere noch deutlicher. Hat der Mann einen Hochschein von der Herkunft der Hässlichkeiten, die hier sein empfindsames Auge verletzen! Möchten sie eher sein Herz verletzen, wir zollten ihm unsere Hochachtung. Was schon gar die Bronce betrifft, um die eine Schlacht im Gange ist, so brechen wir unsere Lanze weder für die Sache der Geschmäckler noch für die der Sackpatrioten; wir sparen sie auf bessere Austräge hin und bemerken zum Thema nur das eine, dass wir, weit entfernt davon, am bekennerischen Pathos dieses bürgerlichen Turners Gefallen zu finden, uns für den Ersatz wohl noch schwerer erwärmten. Nachgerade genügelt uns auch der Snobbismus neuzeitlicher Prägung. Vor die Wahl gestellt, entscheiden wir uns ohne Kopfzerbrechen für das Natürliche, dem auch die Liebe der Natürlichen gehört, entscheiden wir uns keinesfalls für die modische Elefantiasis in der Plastik, deren Gummibeine und Birnenköpfe; wir riskieren das Odium des Ignorantentums mit dem Bekenntnis zum Volkstümlichen in Dingen der Künste ebenso wie der Politik. Vielleicht ist die Zeit nicht ferne, da man der sauberen Arbeit, der Ehrlichkeit der Beobachtung und der Schönheit des Schlichten die Ehre zurückgibt, die ihnen die handwerklichen Nichtskönner aller Professionen, einschliesslich der Politik, pfäffischerweise genommen haben.»

Die Pfannenstieler sahen einander an. Es ist aussichtslos, dachte Byland; in dem Zwiespalt aus Ermüdung und Jähzorn schwankte er zwischen dem Entschluss, seine Bude zu schliessen, und dem zu der letzten Rücksichtslosigkeit, den süffisanten Verleumdern ihre Wahrheit herauszusagen: Dreckige Köter, wer seid ihr? Ach, die mit der Gewohnheit, an den Sockel des Höheren zu pissen!

Zwischenhinein erfasste ihn ein Schrecken: Hatte er die Urmasse in Verwaltung? Jeder glaubt sich im Rechte, und einer muss ja wohl irren.

Was ihm als Wahrheit erschien, blickte ihn an mit Augen, die um Verteidigung baten.

Wo grenzen Adel und Anmassung des Erziehers aneinander? Darf er in seiner Schulstube bleiben, wenn er die Themen der Welt sieht? Das Vaterland in der Herrschaft der Rationalisten blickte auf ihn, den Träumer. Das Vaterland hatte Anspruch auf seinen Teil der Erkenntnis.

Somit mässigte er sich im Affekte, begab sich ins Oktogon mit dem Ernste des guten Willens.

«Es gibt nichts Kleines. Wir meinen nicht Häuser, wir meinen die Architektur. Wir meinen nicht die Architektur, wir meinen den Geist, der sie bildet. Wenn ein Mensch, überfahren, auf der Strasse verblutet, laufen die Lebenden um ihn zusammen. Wir sehn eine Stadt, eine Architektur, ein Jahrtausend verbluten und sollten nicht auch zusammenlaufen? Wir sollten nicht davon reden dürfen? Wovon zu reden verlohnt es sich, wenn die Agonie des Geistigen in der Welt uns kein Gegenstand mehr ist? Von der Leiche zu reden verlohnt sich den Würmern. Oder wollen uns die Materialisten davon überzeugen, der Leib sei vorangegangen? Die Sozietät, wäre sie primär im Axiom, verbürgte der Gegenwart die kulturelle Ueberlegenheit vor dem Mittelalter. Die Sozietät ist, der Vollkommenheit fern, doch wohl so, dass der Bauer von heute nicht mit dem Bauern des Feudalismus, der Lohnarbeiter nicht mit dem Hörigen von damals tauschte. Dessen ungeachtet hatte das Mittelalter seine Kathedralen und Riegelhäuser, wir haben das Simili allerenden. Das macht, es hatte uns den Geist voraus, eine Wohlgestalt des Glaubens, deren Gesetzlichkeit sich im Griff ihrer Hand abformte, und das ist genau was wir meinen: Ein Brunnen, der es sei, ein Gitter, ein Giebel, eine Klinke, immer war es im Ganzen zu Hause; die Harmonie wuchs ihnen Zelle an Zelle aus sich selber, wuchs organisch, wo wir kleben und zerren, wir mit unserer Allwissenheit und dem Gelegenheitskönnen – wir schaffen nur Einzelschönheit. Schönheit? Mit euerm Lächeln, ihr Toren! Die Schönheit ist nicht in der Netzhaut, sie ist der Grundriss Gottes.

Ihr kommt nicht zu Rande mit den Anordnungen im Teile, ihr erreicht die Schönheit der Gesellschaft nur aus dem umfassenden Geiste. Die Technik ist ebenso böse als gut, sie ist Provinz, nicht das Ganze; die Kunst ist in ihrer Anwendbarkeit nie anders als gut; sie ist, wo sie Kunst ist, das gnadenhaft empfangene Ganze, Chiffre des Geistes und als Chiffre dem Sehenden lesbar. Die Sehenden sind keine Kaste, so wenig wie die Gläubigen eines Glaubens oder die Guten und Gerechten. Geht mir mit dem, was ihr volkstümlich nennt; es ist eine Scheidemünze.»

So schrieb Byland in seinem Oktogon, schrieb es anscheinend im Selbstgespräch.

Nun war es eine weitere Ueberzeugung von ihm, dass nichts so sehr wie Stapfers Märzjüngling die Eignung für jene Krokuswiese haben konnte; er brachte ihn durch Fotomontage hinein und setzte dem veränderten Bild eine schöne Aufnahme des Seeausblicks gegenüber.

Das brachte über den Handel nachträglich die Beleuchtung der Vetternwirtschaft; Martin war der erste, ihn zu tadeln.

«Für den Freund», erwiderte Byland, «verrate ich eine Idee; wieviel mehr diene ich ihr für ihn.»

Die Wirkung war sichtlich nicht gut ausgefallen; Walther Byland kam es auf eine Scharte mehr oder weniger längst nicht mehr an. Er hatte das Grüpplein seiner Pfannenstieler, hatte den einen und anderen Bewunderer seiner Kunst; im übrigen empfand er die Feindschaft im Lande wie Leermond, empfand sie mit wechselnder Widerstandskraft – das noch, die Schulkinder hingen ihm an. In der Aufsichtsbehörde hatte er auch Verteidiger seiner eigenwilligen Art; im ganzen kam es ihm zustatten, nicht unmittelbar von ihr abhängig zu sein. Den Auftrag auf die Statue verdankte er einem Kollegen, einem Mitglied des Sportvereins im Quartier; der Presseskandal warf seinen Schatten auf die Angelegenheit auch. «Seid ihr euch reuig geworden?» fragte er den Vertrauensmann, ruhig entschlossen, die Enttäuschung entgegenzunehmen. Um die Frist einzuhalten, hatte Martin den Akt in Gips giessen lassen; das Provisorium hatte seinen Ort bezogen, sein Schöpfer ein Doppel davon angefertigt, das er weiter der Vorstellung entgegen entwickelte. Versionen pflegte Stapfer mit grosser Behendigkeit auf den Ausgangsstand zu bringen; hier begann freilich sein Bergsteigerschritt.

Der Turner, ein umflorter Sinnierer wiederum, hatte keine drei Tage auf seinem Postamente gestanden, als auch schon die Intrigen gegen ihn einsetzten. Walther stellte sich taub, liess auch nichts gegen Stapfer davon verlauten. Soviel er verstand, ging es nicht um das Werk als Kunst, sondern darum, dass es ein Akt war und dem Gefühl einiger Kollegen nach aus dem Grunde nicht in das Weichbild der Schule gehörte. Ist ja nicht möglich, sagte sich Walther, dass sie auf solchem Einwand beharren. Allein sie beharrten und machten die Statue zu einem Konventstraktandum.

Der Konvent ist das halbgewerkschaftliche Kollegium des Lehrkörpers. Sie achteten Byland und vermochten seine innere Beteiligtheit abzuschätzen. Es war auch nicht einer in dem Plenum, der als Museumsstück des Schulmeisters hätte gelten können; welcher hielte sich gegen den Spott des Schlagworts? Das Schlagwort ist eine Waffe, furchtbar nicht minder als die Zweihänder, die in den Waffensälen rosten, lange nachdem ihre Wucht den letzten Kopf vom Stengel gehauen hat. Die Wortführer der Gegenmeinung waren kirchlich gesinnte Ehrenmänner, weitsichtig genug, einleitend die eigene Beweisführung von einem vorausgesetzten Standpunkt aus in Relativität zu versetzen. Sie hielten sich denn zunächst auch mehr an fachliche Ueberlegungen, wiesen auf die Nachbarschaft eines etwas odiösen Waldbestandes und der Klosettanlage hin, mit Betonung ihrer Nachteiligkeit für das Kunstwerk selber.

Alles das liess sich hören und beschwichtigte Byland; nur zog er den umgekehrten Schluss. «Lasst den Akt stehen, so verleidet ihr den Pornographen die Arbeit.» Darin stak eine Weltanschauung, die zu belegen er nach einem kleinen Atemholen unternahm.

«Es gibt nichts Kleines!» begann er in lächelnder Anspielung auf seine allenfalls bekannte Replik im «Pfannenstiel». «Wie stehen wir diesbezüglich? Wir leben in der Schweiz, im Lande des freien Wortes, das aus dieser oder jener Weisheit oder Klugheit oder Vorsicht oder Feigheit nicht zu ergreifen eine Spezialität von uns ist, über welche sich manches sagen liesse. Zur Diskussion steht das Thema der Nacktheit. In meiner Gegenwart sozusagen als Angeklagter, sehe ich mich da der Aufgabe gegenüber, die Bläue des Himmels zu beweisen. Ich soll einen Hasen schiessen, welchen ich nicht erblicke. Was ist an der Nacktheit, welcher Art die Gefahr? Sie verletze das Schamgefühl. Nur der Naturalismus verletzt es; ein Kunstwerk in der Souveränität seines Geheimnisses verletzt das Schamgefühl nie. Es kränkt nur die Prüderie, oder das Muckertum freut sich, einen Gegenstand seiner wollüstigen Anfeindung in ihm gefunden zu haben. Prüderie und Muckertum sind nicht die Tugenden, für die wir uns einsetzen. Denken wir die Konsequenzen aller Dinge zu Ende. Wäre es die Wahrheit, dass das Kunstwerk verletzt, welches müsste die Folgerung sein? Alle Unverhülltheit zu vernichten oder in Galerien zu verbergen. Der Gedanke verletzt ein Schamgefühl, sublimer als das der alten Tanten. Mir geht es hier nicht um ein Kunstwerk, mir geht es um die Einschätzung der Kunst. Entweder glaubt man an die Funktion der Kunst, dann haben wir kein Kunstwerk zuviel, wohl aber einige zu wenig im Lande, oder man glaubt nicht daran, dann gibt man auch keine Bestellungen auf. Es ist wahr, bei uns bleibt kein Kunstwerk vor Narrenhänden verschont – aber spricht das gegen das Kunstwerk? Es spricht allein gegen den unter uns herrschenden Geist. Hat die Verhüllung je eine Neugier entmutigt? Sie hat sie stets nur gereizt und auf Wege des Gemeinen abseitsgelockt. Vertrügen wir's weniger als andere Völker, die Schönheit an unsere Strassen zu stellen? Ich darf's ohne Probe nicht glauben. Das Neue an der Sache, ich versichere Sie, wird seine Sensation bald verloren haben. Was wollen wir uns wünschen, das Duckmäusertum einer Jugend, die in den Aborten herumzeichnet, oder die Ueberlegenheit aus innerer Freiheit, die Umgebung des Schönen nicht nur zu dulden, sondern in ihrer Wirkung auf das Unbewusste auch zu empfinden? Wir sind nicht reich am Musischen und können es uns schlechterdings nicht leisten, uns um den Besitz von Vollendungen zu verkürzen; das nebenbei gesagt – meiner Auffassung nach geht es in dem Beispiel um einen Entscheid von Bedeutung der Grundsätzlichkeit, weshalb ich nicht, wie es mir angenehmer wäre, darüber hinweggehen kann, vielmehr mich verpflichtet sehe, Sie mit der Hartnäckigkeit eines Menschen zu bemühen, der seine Lebenshaltung verteidigt.»

Wie immer, wenn er sprach, umgab ihn Stille der äussersten Aufmerksamkeit, einer Aufmerksamkeit aus Erwartung, Anspannung, zu verstehen, und ein kleinwenig spöttischer Reserve. Kollege Byland war ein Schriftsteller, ein Dichter von heimlicher Geltung, als Publizist umstritten; selber gewohnt, sich ein Urteil zu machen, pflegten sie seinen Wunderlichkeiten unbestechlich, aber respektvoll auf die Finger zu sehen; minder liebenswürdig und bescheiden in seinem Umgang, hätte er den Grad von Wohlwollen nicht besessen, der Widerspruch ihrer anderen Art hielt sich stets auf den Beinen.

«Wir kennen alle Herrn Dr. Bylands hohe Auffassung der Kunst und seinen Ernst, die Probleme in ihrem Kern zu ergreifen», sprach der Kirchenmann, der als Hausvorstand die Sitzung präsidierte. «Nichts könnte mir ferner liegen als die Absicht, seinen Ueberzeugungen nahezutreten. Sein Vermögen, das scheinbar Beiläufige in höchsten Zusammenhang zu bringen, ist Dichtervorrecht, um welches wir ihn beneiden. Seine menschliche Reife in der Allgemeinheit vorausgesetzt, hätten wir nichts für sie zu fürchten; leider leben wir nicht in Athen –»

Das war von dem christlichen Schrittmacher spöttisch triumphierend gewiss eher als so gemeint wie er's aussprach. Walther stieg das Blut in den Kopf: «Das kann man wohl sagen,» rief er mit dunkler Stimme vor sich hin.

Auch der Sportsmann hatte so gehört. «Nicht dass mir der Puritanismus besser gefiele», votierte er. «Ich bin mit Herrn Dr. Byland der Meinung, dass wir ein paar hellenische Götter ohne Schaden für unser Bekenntnis hereinbringen dürfen.»

«Kollege Isler betont den Puritanismus nach dessen kleinlicher Seite hin,» antwortete der Hausvorstand.

«Gerechtigkeit der Etymologie lässt ihm sein eigentliches Wesen, das im Streben nach Reinheit besteht –»

«Er hat es», maulte Isler, «zu viel mehr als Reinlichkeit nicht gebracht. Für solche sind wir weltbekannt; die Properkeit unserer Quartiere, Omnipotenz der Verkehrspolizei und dergleichen halten wir für Kultur. Was aber die Reinheit anbetrifft, die Schönheit der Seele selbst bei Fehlbarkeit des Fleisches, so bin ich mir nicht im Zweifel darüber, wofür sie sich hier entscheidet, wenn sie zwischen einer Statue und der mit allen Schikanen ausgestatteten Bedürfnisanstalt zu wählen hat, und was will man auch sagen: das Bedürfnis ist unbestreitbar.»

Wie ihn Walther für seine mürrische Gradheit liebte, diesen alten Hagestolz und heimlichen Säufer mit dem Stumpen im Schnurrbart! Auch er genügte der erforderlichen Vorbildhaftigkeit eines Volkserziehers nur mit Ausnahmen, wurde in den Schenken beduselt vorgefunden und verausgabte sich vielleicht ein bisschen zu sehr in seiner Liebhaberei für das Turnerwesen, dessen Feste einen altbewährten Initianten und Organisator in ihm besass – er war ein kurzweiliger, beliebter Lehrer, von schönem Mass seiner Kameradschaftlichkeit und Strenge gegen die Kinder; er las, er bedurfte der Bücher für seine einsamen Abende, machte aber kein Aufhebens von seiner Belesenheit, und dahin zu kommen, dass er trank, mochte in Entbehrung der Liebe – er war hässlich – ebenso wie in geistigem Ungenügen begründet sein. Indem Byland ihn mit Träumerei seiner Dankbarkeit umgab, sprach Isler immerfort weiter. « . . . Von Tugenden erwarte ich Taten, von Ueberlegenheiten die Sichtbarkeit. Ich sehe die äussere Bravheit, die Konvention der Schicklichkeit, und sehe die Pornographien, den tappigen Eros des Stammgastes, den Keglerverein in Paris. Wo man das Böse am Fremden herausstreicht, unterstreiche man dessen Gutes; das Eigene wird zur Genüge gelobt. Auf der ganzen Welt und in allen Jahrtausenden hat der Puritanismus keine anderen Früchte als die von Verdrängungen gezeitigt. Schwören wir nicht zu hoch darauf, sehen wir lieber der Natur in die Augen. Wenn das Pissoir stört, kann man ja auch das Pissoir entfernen. Das andere wäre ein gar zu peinliches Symbol.»

Damit guckte er seinem Zigarrenstummel ins Gesicht und verstummte.

«Beide Kontrahenten vergessen, dass ein Widerstand da ist, auch im Volk –»

«Selbstverständlich.»

«Ich fände es nachteilig für die Lehrerschaft, wenn der Antrag von aussen kommen, ihr sozusagen mit dem Dreschflegel gewinkt werden müsste –»

«Ich fände das Gegenteil schandbar», brach der Doktor nun aus, «und müsste mir vorbehalten, mich von dem Inquisitionstribunal öffentlich auszunehmen!»

«Mir scheint denn doch,» rief ein jüngerer Mann in den Tumult hinein, «wenn Leute da sind, deren Gefühl sich an dem Gegenstand stösst . . . » «Der Gegenstand ist diskret reduziert,» warf Isler dazwischen. « . . . , dann wäre es undemokratisch, ihnen den Anblick aufzuzwingen.»

Isler verging der Humor. Die Aussprache wogte durcheinander, er aber hatte das Turnerorgan, sich vernehmbar zu machen.

«Aha! Wogegen es demokratisch ist, dass die Mucker ihr Gesetz diktieren! Kommt nicht in Frage! Demokratie ist nicht die Verbindlichkeit der Durchschnittsmeinung.»

«Ich muss», versuchte das Präsidium anzubringen – der Mann in Goldbrille wartete die Beruhigung ab – «ich muss schon dringlichst bitten, Apostrophierungen wie Mucker zu unterlassen. Herr Dr. Byland wie Herr Isler belieben sich ihrer zu bedienen und geben der hoffentlich erlaubten Aussprache damit nicht den Ton, der ihre Sache förderte . . . »

Jetzt wurde es Isler zu viel. Er würgte seinen Stumpen im Aschenbecher aus und schrie den Widersacher an; ein allgemeiner Aufbruch, halbwegs der Ratlosigkeit, halbwegs des Protestes setzte ein, sodass die drei oder vier Kampfhähne, stehend, ihren Strauss allein fortführten. Sein Verlauf ergab eine plötzliche Besänftigung, in der man einander zu verstehen suchte; Bylands höfliche Natur litt den Ausgang in Hässlichkeit nicht, davon abgesehen, dass sein Bewusstsein die Verwirrung der Begriffe überblickte; Isler freilich schwieg melancholisch ernüchtert.

«Man muss ihnen Zeit lassen,» äusserte Byland nachträglich gegen ihn, überzeugt, dass sie am Ende der Ueberlegungen das Ding auf sich beruhen lassen würden.

«Da kennst du die Sorte schlecht, und ich verüble es dir einwenig, nicht im Stolze durchgehalten zu haben. Man vergibt sich immer etwas, wenn man den Banausen Gerechtigkeit widerfahren lässt, sie so ernst nimmt wie sie es weder verdienen noch vertragen; jetzt tun sie dir schön, um hinzugehen, ihre Kindsköpfe durchzusetzen. Sie geben sich so versöhnlich nur weil sie sich entschlossen wissen, die Schlacht für Christum zu gewinnen.»

Isler kannte die Menschen richtig. Die Frommen reichten auch ihre andere Backe noch dar: es gab eine zweite Sitzung über das Thema. Isler bestritt es allein, auf die Backen zu schlagen; Walther drückte sich davor, aus Gründen, über die er sich mit dem Bildhauer aussprach.

Diesem war Byland zerknirscht vorgekommen, die letzten Wochen. «Du müsstest es als einen Verrat von mir empfinden, auch wenn die Eingabe an den Stadtrat nicht zustandegekommen wäre. Ich konnte innerlich nicht mehr, ich will dir gestehen weshalb. Ich fühle mich schuldig und daher ausserstande, die Festigkeit gegen den Gegner aufzubringen, aus der heraus man, wenn irgend, überzeugt. Ich habe inzwischen einen moralischen Defekt bekommen und fühle mich den Ehrenmännern gegenüber wie Jeanne d'Arc nach ihrem Sündenfall. Damals sprach ich aus reinem Gewissen heraus; meine Schuld setzt die pathetischen Ausrufungen rückwirkend ins Licht der Heuchelei. Wenn sie wüssten oder erführen! muss ich mir nur immerzu sagen; manchmal in der Nacht glaube ich Schluss machen zu müssen.»

Wird nicht so schlimm sein, besagte des Freundes Miene.

«Auch du überschätzest mich. Was ihr von mir denkt, entspricht der Wahrheit, aber nur ihrer einen Hälfte. Für das Ganze sinnbildlich ist die Doppelnatur meines Eros . . . »

«Darin stehst du einzig da!»

«Es gibt erlaubte und unerlaubte Fehlbarkeit, verzeihliche und unverzeihliche. Ganz allgemein erschrecke ich zuweilen im Gedanken an meine Streitbarkeit, in der ich möglicherweise doch unrecht habe. Plötzlich sehe ich alles anders. Nehmen wir das eine, dass die Stadt, so zeigt es sich uns, doch gerade in diesen Jahren viel für die Kunst getan hat durch Schmuck, den sie sich gab. Ich hab's ihr zu wenig anerkannt. Ich war selber allzusehr Schweizer dadurch, dass ich in allem das Lob überm Tadel vergass. Andere, die ich sehe, schweigen und sind bloss gut; ich erröte vor ihnen.»

«Wer sein Schwert in den Kampf trägt, nimmt Scharten mit heim; sie ehren ihn. Deine Skrupeln sind mir wohlbekannt. Nicht streiten, nur schaffen – es müsste schön sein. Indessen, auch die Arbeit – da fliegen eben Späne, Dinge müssen weg, Dinge müssen hinzu, wo eine Form in ihrer Entschiedenheit bleiben soll. Jetzt aber heraus mit der Sprache! Du treibst die Heimlichkeit auf die Spitze, um das Ergebnis an der Spannung zu verkleinern.»

Der Jüngling wand sich noch eine Weile, bevor er mit plötzlichem Entschluss ins Bekenntnis sprang:

«Ich habe herausgefunden, weshalb mir bisher in der Liebe ein volles, verpflichtendes Gefühl nie gelungen ist. Ich habe immer einen Teil davon an die Klasse verausgabt. Jeder scheint sein Mass an Liebesvermögen zu besitzen. Es ist die Wahrheit, dass die besondere Form von Verliebtheit sich nur schöpferisch in meinem Berufe ausgewirkt hat. Sie schuf jene Stimmung herzlicher Lebendigkeit, die meinen Unterricht für eigentliche Schulmeisterfähigkeiten vielleicht ein wenig entschädigt. Ich habe sie alle stets geliebt, mit etwas mehr als Väterlichkeit, sie erschienen mir als so süss, die Buben mehr noch als die Mädchen, – diese Mischung aus Zartheit und Männlichkeit, dieses Brachland im Frühling . . . »

«Eros zusammen mit dem Ethos ist das Gespann der Erziehung, aller Erziehung. Einspännig geht's nicht; pass auf was du machst. Ich verstehe dich aber.»

«Nichts von der Art, die du meinst. Vielleicht schlimmer. Wir sind edel und ethisch bis zur ersten Versuchung. In meinem Falle bestand sie darin, dass das Gefühl Erwiderung fand. Geschwärmt haben viele, in Kinderaugen ertrinkt man nicht; sie ist vierzehn, sieht aus wie eine Jungfrau und blickt aus der Landschaft des Weibes.»

Das sagte er ruhig und rasch heraus, sah aber dabei zu Boden.

Schliesslich äusserte sich Martin.

«Sitte ist von Erdteil zu Erdteil verschieden, gleich nur in der Strenge ihrer Herrschaft. Selbst wenn du das Letzte zu bekennen hättest, fänden sich Länder und Zeiten, denen es natürlich wäre.»

«Das Letzte ist es nicht, aber mehr als ich selber gutheissen kann. Siehst du, so bekommen die Kirchenleute irgendwo gegen uns recht. Die Luft um mich riecht nach Zuchthaus, das Debakel meines Lebens in seiner Gänze, mit Ehre, Ansehen und Schönheit, schwebt über mir, über einem, der sich als Erzieher der Oeffentlichkeit aufspielte. Daraus setzt sie sich ja zusammen, aus Tugenden und Mängeln des Privaten.»

«Soll der Mensch das Streben nach dem Bessern im Blick auf seine Unzulänglichkeiten aufgeben? Umgekehrt hat nur der Schuldige die Berechtigung zur Predigt, denn er allein predigt aus dem Erlebnis heraus. So habe ich mir das eines Tages zurechtgelegt.»

«Da ist dann eine Zahl vierzehn, die einen in Schuld versetzt!»

«Nimm an, du heiratest die Kleine später, das sanktioniert alles, verwandelt die Zuchthausluft in lauter Elysium. So relativ ist unsere moralische Rechtsprechung.»

Stapfer forschte nicht weiter darnach, dem Jüngling aber brannte es auf der Zunge, und so ging der Abend nicht vorbei ohne dass er es gesagt hätte.

Erst gegen den Schluss des Jahres hatte er das Mädchen in seiner Klasse entdeckt, war sie ihm das Besondere geworden, das sie nun so wunderbar unterschied. Sie hatte sich fast plötzlich ausgewachsen, bekam ihre Brüstlein und das spargelhafte Körperchen unter dem leichten Kleide. So ein Gefühl zu verbergen, verriet es ihren Augen, die es suchten. Fortgehend zog sie sein Herz hinter sich nach. Das war ihm kein neues Erlebnis, wohl aber das, dass sie ihrerseits beim Abschied mit ihrem Händchen verweilte. Sie war arm, Kind eines Schnapsers, und er erklärte sich ihre Anhänglichkeit zunächst aus Herzensentbehrung einer einsamen Jugend. Seine Ritterlichkeit war still, zart und von unendlicher Ehrerbietung. Was wunder, dass sie ihm mit ihrem ganzen Wesen verfiel! Eines Sonntags läutete es bei ihm zuhause; es schien, die Gassenjungen hatten ihm einen Streich gespielt. Es war damals schon so, dass er die Tage ohne sie in Verzweiflung voll entsetzlicher Unrast verbrachte. Es war Frühling, es war Sonntag, der Huflattich blühte; er sah sie in der Kinderlehre mit Kindern sitzen, sah sie in ihrem Buchsgärtchen vor dem Hause, Sonne im Haar, Aepfel schälend, eine Handorgel spielte, Fahrräder klingelten, und wahrlich, der junge Doktor lief in die Strassen und weinte. Die Feiertagsstille wühlte ihm schmerzhaft im Herzen. Sie wächst ihrer Konfirmation, ihrem Jungmädchenzauber, den Unbekanntheiten ihres heiligen, heiligen, vielleicht schweren Lebens entgegen! Er ertrug den Gedanken nicht, davon ausgeschlossen zu bleiben, ertrug nicht die Möglichkeit, sie aus seinem Wissen zu verlieren. «Liebling, komm doch!» hatte er so manchmal im Ueberdruck seines Herzens ausgerufen, und nun stand sie da vor dem Hause, hatte, das kleine Fräulein, ihrerseits die Sehnsucht nicht mehr ertragen, aber auch nicht hinaufzukommen gewagt. Der Lehrer in ihm blieb linkisch, wusste sich nicht aus der Lage zu helfen. Er plauderte eine Weile vor der Tür, väterlich, bot ihr dann seine Hand dar, und Vreneli ging. Er war nicht so bald in seinem Mietzimmer angekommen, als die Reue mit Messern über sein Herz herfiel. O ich Trottel und Feigling und Klotz von einem Burschen! – was tut sie nun in dem Sonntag? Er lief hinaus, ihr nach im Instinkt seiner Liebe – die Liebe führte ihn in die Irre, und es wurde der schauderbarste Tag seines Lebens. Morgen, morgen, war die einzige kleine Erleichterung, morgen will ich sie für die Sprödigkeit entschädigen! Er hielt nicht Wort, und die Woche hindurch verriet er den Vorsatz der Abende. Es schien ihm, die rettende Ueberlegenheit hätte sich wieder gefunden. Ihm glückte es gar einmal, sie vor der Klasse einwenig anzufahren. Das nahm sie gerade zum Anlass, am Sonntag wieder zu kommen. Er servierte ihr Tee und Süssigkeiten. Ueber die Bagatelle ihrer Verfehlung lachte er privaterweise. Vreneli wusste um seine Gedichte, und er zeigte sie ihr. Sie behielt das Bändchen auf ihrem Schosse, alle die Zeit; so oft als er es ihr lachend wegnehmen wollte, vertiefte sie sich ins Lesen. So alle Viertelstunden mahnte er zur Trennung; aber der Vater war fort, die Mutter unterwegs mit Traktätchen, niemand vermisste sie; ihm aber, Gott wusste, hätte sie gefehlt. Er wollte gelegentlich mit den Eltern darüber verhandeln, dass sie dem Töchterchen noch ein Jahr Schule bewilligten. Es blieb ihm auch so nicht, er bekam eine erste Klasse.

Sie kannten einander nun auf eine Weise, die sie berechtigte, unschuldige Heimlichkeiten zusammen zu haben, süsse Nuancen des Verständnisses. Ohne seine Ausreden wäre sie Sonntag für Sonntag gekommen. Sie wurden ihm bitter genug bei seiner Papierarbeit, die für ihn auch von ihrer Dringlichkeit eingebüsst hatte.

Das also waren Vater und Mutter Vrenelis, der mürrische Säufer und die ausgemergelte Sektiererin, die kein Mass ihrer devoten Redseligkeit fand. Holdes Schoss zweier verkümmerten Wurzeln – es hielt sich zu ihm, das Mädchen gab den Gegenstand seines kindlichen Herzens nicht aus den Augen. Aus der Erlaubnis wurde nichts, Vreneli sollte verdienen, davon abgesehen, dass der Vater ein drittes Jahr gut für Herrschaften fand. Walther streichelte Vrenelis Händchen, leise erblasst in dem Wagnis vor den Eltern. Sie erlaubten ihm alles, aus Vertrauen oder Ergebenheit dem gelehrten jungen Herrn gegenüber. Die Vertraulichkeit hatte zugenommen. Er fuhr ihr mit der Hand übers Haar jetzt auch in der Schule. Derweil sprach er ihr stetsfort zu: Wir dürfen nicht, Vreneli; lass nur den Schwamm und geh mit den andern. Einmal im Monat; es kommt jetzt doch, dass wir uns lassen müssen. Ihr ertranken die Augen in Tränen. Was bist du für ein Fräulein, Vreneli? was machst du? Er legte einen Eid vor sich ab, ihr zu helfen. Ihr weh zu tun, dazu allein verpflichtete ihn seine Liebe. Sie über ihre Krise hinwegzuführen, war seiner Männlichkeit aufgetragen.

Jedoch die eigene Schwermut! Er hielt es wirklich für das Ende, wollte es und glaubte sich's daher gestatten zu dürfen, ihr den Abschied schön zu machen. Ruten und Finkenschlag in den Wäldern am Pfannenstiel – der Frühling erglänzte! Bald würde der Kuckuck herüberrufen. Vreneli wanderte alsdann in der filzigen Luft der Verschollenheit. Wie machte er ihr den eigenen Kummer glaubhaft? Er las von ihrem Gesichtchen, was sie dachte: Ich bin ihm zu jung, vielleicht auch zu unansehnlich meiner Herkunft nach. Ich bin ihm doch nur ein Kind gewesen, und er hat sich aus Mitleid herabgelassen. Er sah die Versonnenheit in ihren Augen wachsen. Sie war blond, ganz licht von Erscheinung; mitten in allem aber standen die Augen fremdartig braun und ernst. – «Vreneli, verstehst du's nicht?» Er zog sie behutsam an ihren Ellenbogen einwenig heran; da schlang sie die Arme um seinen Nacken. «Wir dürfen nicht, Vreneli!» klagte er, presste sie aber an sich. Ihr Haar roch nach Weizen. Er streichelte ihr heftig darüber; mit Mühe löste er ihr Gesichtchen von seiner Brust, blickte hinab in die Augen. Das weiche Bild der Verlorenheit im Gefühl verhüllte ihm Zeiten und Gesetze; er sah nur die Inbrunst der Hingebung, sah ihren Griff nach dem Trümmer – «Liebes, Liebes!» rief er über das Gesichtchen aus und stiess seine Wange darauf hinab.

«So ein heftiges Herzchen bist du nun schon? Liebes – sag Lieber zu mir!» Sie schien zum Gehorsam bereits nicht mehr willens; sie blickte nach seinem Munde.

Herz floss zu Herz hinüber in stillem Austausch. «Sag Lieber zu mir, Liebes!» «Du Lieber.» «Liebes, Liebes!» und beiden kamen die Tränen.


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