Albin Zollinger
Pfannenstiel
Albin Zollinger

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5

Die Jäger steigen so aus Nebeldickicht in die Wälder hinauf. Es war früh am Tag; Martin ging an der Mühle vorbei wie auf Zehen in der Verhüllung von Laub und Morgendampf. Sein Herz schrie nach ihr, die in dem fremden Hause schlief, und wenn er in den Höhen herumsuchte, so geschah es, um ihr ein Nest ausfindig zu machen. Darüber wurde es Tag und Zeit, sich nach ihr selber umzusehen; er setzte sich in die Gaststube und fing hier bei einem Glase Milch zu zeichnen an.

Er zeichnete eine Ruine und mit lichteren Strichen die Ergänzung darauf, einen Riegelbau von edlen Massen; das Blatt bekam einwenig das Aussehen einer Dürerschen Handzeichnung, halbwegs Planskizze, halbwegs romantisch mit angedeuteter Landschaft des Hintergrundes. Die liebe Tätigkeit beschäftigte ihn genug, um ihn völlig in seiner Aufmerksamkeit zu beanspruchen; damit im Reinen, vertiefte er sich in das Landblatt der Gegend, ein rauhes Papier voll schwarzer Schweinchen und Würste des Inseratenteils, der ihn vor allem unterhielt, seines bäuerlichen Requisites wegen, aus dem ihm der Dorfherbst entgegenroch; einwenig fühlte er sich bereits als Ortsbürger, er würde sein Baugespann hier ausgeschrieben haben, die Namen der Höfe – Steingrub, Zelg, Brunnenloch – füllten sich ihm mit farbiger Gegenständlichkeit, in dem Schulhäuschen gingen dermaleinst seine Kinder ein und aus, die «Handlung» der Schwestern Pfenninger mit Kernseife, Suppenrollen, Zichorie, Knopfwaren, Leinen, Kandiszucker stand für Marie bereit, die in der Holdseligkeit ihres Kauderwelsches und herabhängender Fuchsien ihre häuslichen Geschäfte versah.

Noch trug ihn das Gefühl aus dem innigen Abend mit ihr; sie hatte noch wundervoll aufgelebt, mit dem Ende freilich, dass sie plötzlich der Schlaf übernahm, im Licht der breitschirmigen Lampe ihr Haupt wie ein Nachtfalter ihm an die Seite sank. Er hielt sich behutsam stille solang als es Gott gefiel, ihm das zarte Wunder zu lassen; sie ermunterte sich aber auf einmal – «Du hast recht, ich kann's nicht mehr leisten!» Die Zärtlichkeit überwältigte ihn: «Armer Liebling,» sagte er, aus Rührung lachend, schlang sie in seinen Arm und küsste sie auf den Scheitel. Sie hob das Gesicht zu ihm auf, «Du bist gut und lieb, Martin»; er sah, sie scheute es nicht, sich ihm auszusetzen; er küsste auch ihren Mund, sie fuhr einwenig zusammen nur über die Möglichkeit von Zeugen, gab die Liebkosung, nachdem sie sich umgesehen hatte, mit Bewusstsein und Festigkeit zurück. «Aber wirst du den Weg noch machen, allein in der Nacht . . . ?» «Es wird mir ein Weg wie im Traume sein. Im Herzen bleib ich bei dir. Ich darf einen Blick in dein Kämmerchen tun, auf dass ich alles weiss: wie die Vorhänge sind, in welcher Richtung du liegst, wo die Kommode steht, und ob du den Brunnen rauschen hörst.»

Gegen zehn Uhr stieg sie herab. Die Gaststube war getäfelt in einem vor Alter goldenen Holz; sie hatte einen Wandschrank, in welchem die Gläser auf Papier mit Spitzensäumen standen, das Brot roch daraus hervor und Muffigkeit von Grossvätertagen. In diese trat sie herein mit der schmollenden Miene der Siebenschläferin; bevor er sich hatte erheben können, sass sie bei ihm am Tisch, das Aufsehen niederschlagend – «Du, ich hatte ja keine Zahnbürste, und ich schlief in der ganzen Wäsche! Unter einem Berg von Gänsefedern! Was der mich in der Nacht erschreckt hat! Ich erwachte am Mondlicht und glaubte mich verschüttet. Die Schweizer meinen es gut mit den Schläfern. Wundervoll war der Apfelgeruch; auf dem Kasten lagen Aepfel. Zweimal erwachte ich frierend, der Berg hatte sich davongemacht, ich zog ihn an seinem Balg aus der Tiefe empor in meiner Schlaftrunkenheit.»

Sie kicherte, er hatte sie nie so fröhlich gesehen, und er tat einen Schnaufer vor Erleichterung. Sie war sich nicht reuig geworden.

Die Wirtin erschien an dem Tische, bot dem Fräulein ihren guten Tag mit der Hand, nachdem sie sie an der Schürze von Seifenschaum getrocknet hatte. Wie die Ruhe gewesen sei, fragte sie mit einem Lächeln von schöner Natürlichkeit, angenehm selbstbewusst in ihrer Haltung, eine Frau, der es anzusehen war, dass die Besitzung mit Sägerei und Rindern und Gäulen sie auch ohne Wirtschaftsbetrieb hätte leben lassen; dieser schien mehr aus Pietät und Gewöhnung beibehalten zu sein.

Marie war seit langem zum erstenmal wieder unbeschwert vom Gedanken an Krannig aufgewacht; die Sonne schien durch die Vorhänge herein, die Aepfel rochen wie Blumen, und es war in der Welt Kaffee und Honig zu haben.

Martin hielt mit; ein blondes Gärtchen von Butter und Brot und Honig und Milchdampf blühte vor ihnen.

Der Kuckuck schoss vor die Uhr heraus, verneigte sich und rief einen Sommerwald in der Luft hervor. Im Sommer, im Sommer, dachte Martin, kann mein Dachstuhl stehen.

Im Sommer fahren Glühwürmer wie Funken einer Feuersbrunst.

Die Brandruine erstand in Statuen.

Martin hatte sich für seine Zeichnung ein Packpapier ausgebeten; es stand zusammengerollt neben ihm in der Ecke.

Die Stunde, so wie sie war, war die glücklichste seines Lebens; er hütete sich wohl, sie mit eigenem Dazutun zu gefährden.

Sie hatten in der Pariser Dachwohnung mit Freunden gesessen, sie waren durch Vorstadtgärten gefahren, hatten in Sèvres gezeichnet – Corotbäume – hatten vor schwarzen Kathedralen gestanden, in Le Havre das Gewoge der Luft empfunden – und sassen eines Tages hier in dem Landgasthof, die Säge raspelte, Herdenglocken läuteten herein, und die Liebste roch einwenig nach Seife, ihre Hände waren wie Meerschaum, das liebe Gesichtchen lächelte.

Das Bett und der Schlaf waren noch um sie – zum erstenmal verträumte er sich im Gedanken an ihr Körperchen, von dem oben das Linnen verkühlte.

Er war es sich nie bewusst geworden – unter der Behutsamkeit, unter dem zarten Gefühl glühte die Wildheit der Verzückungen.

Klüger, ihnen nicht nachzugraben!

Knechte und Mägde waren zum Imbiss hereingekommen ungefähr zu der Zeit, als Marie ihr Handtuch in die Emailkaraffe tauchte; behaart und harzig stützten sie sich auf die Arme, Brot und Käse in den Händen, vor gleissenden Gläsern Most; Stapfer hatte das eine und andere zu ihnen hinübergesprochen, sie horchten und gaben die kargen Antworten aus ihrer bäurischen Klugheit heraus – in Tennen und Aeckern zerstreut, waren sie nur noch aus ihren Hantierungen vernehmbar; die Herrin wusch in der Küche und nahm seine Münze mit dampfenden Fingern entgegen. «Chömed zuenis,» sagte sie unter der Haustür, was für Deutsche aus seinem alemannischen Dunkel herausgehoben sein will; heisst das, sie wiederholte es aus Freundlichkeit gegen die Pariserin auf Französisch: «Au revoir, monsieur et dame!»

«Denkst du, sie kann Französisch?»

«Eins aus der Backfischzeit. Habliche Leute schicken ihre Töchter in die sogenannte Löffelschleife, nach dem Welschland, wo sie die Sprache und lateinische Umgangsformen lernen sollen.»

«Dann scheinen die hablichen Leute zahlreich zu sein – nicht aus den Umgangsformen, sondern daraus geschlossen, dass ein Franzose hier kaum in Verlegenheit kommt.»

«Wir sind ein Grenzvolk, Marie, wir sehn ja den Jura, und ausserdem eine Konföderation von verschiedenen Sprachgebieten. Aber die Umgangsformen, sagst du . . .»

«Nein, an die Umgangsformen hab ich mich sehr gewöhnen müssen. Ich habe mich indessen gewöhnt, in der Einsicht, dass all das nicht von der Oberfläche her beurteilt werden darf.»

«Schau, das ist lieb von dir.»

««Woher aber kommt die eigenartige Rüpelhaftigkeit dieses Volkes? Man ahnt, es wendet sie irgendwie als Stachelhaut an – gegen was und wen denn? Man hat euch doch die Integrität eures Landes feierlich garantiert.»

«Zwerge sind aus ihrer Konstitution heraus argwöhnisch und dem Feierlichen abgeneigt.»

«Zwerge. Einmal habt ihr Europa mit euern Landsknechtheeren überschwemmt, soviel mir erinnerlich ist.»

«Gerade davon mögen wir, bei schlechtem Gewissen, einen Dünkel behalten haben. So in der Art: wenn wir wollten! Im übrigen gehn die Instinkte tiefer. Wenn wir Löffelschleife sagen, so persiflieren wir damit etwas, das wir wohl, aus irgend einer Notwendigkeit heraus, übernehmen, im Grunde aber verachten. Wir fürchten für unsere Ecken, wir sind insgesamt ein Bauernvolk. Mit aller Heimtücke aus Krähwinkel. Ein potenzierter Schweizer wie Gottfried Keller ist aber mehr als nur ruppig.»

«Gehn wir da hinauf, Martin? Da sind wir ja hergekommen.»

Er fasste sie bloss bei der Hand.

War nicht auch die Landschaft so, abweisend mit frostigen Schroffheiten und doch ein Wunder an Innerlichkeit? Er führte Marie auf eine Wiesenwölbung hinaus.

«Jetzt pass auf, jetzt kommt –» und er hielt seine Papierrolle wie einen verhüllten Schatz vor sie hin, «mein Geheimnis.»

Die Stauden hingen voll Hagebutten, Spinngewebe von Geissblatt darüber. Es mochten hier Reben gestanden haben, Holzstufen führten durch Gras hinab. Das Besondere der Gegend war, dass nur gleichsam der Geist eines Dorfes darüber, dieses selber in Höfen auseinandergenommen allüberall hingestreut lag. Das Wiesentälchen, das er offenbar meinte, hatte noch Herbstzeitlosen, einige Erlenbüsche deuteten auf Wasser, und ein Haus war vorzeiten hier abgebrannt. Marie verstand und erschrak nicht wenig. Blitzartig erraffte sie die Hilfe sogar eines Gleichnisses.

«Du baust auf eine Ruine, Martin, auch an mir!»

«Du bist schnell von Begriff, muss ich sagen; im übrigen lass alles meine Sorge sein. Ruinen sind die besten Fundamente, indem sie nämlich ein Schicksal in sich haben. Was dem Unglück stand hielt, wird das Glück umso leichter tragen . . .»

«Nicht, nicht, Martin, wenigstens nicht unter Berufung auf mich! Ich weiss mich in nichts mehr sicher.»

«Armer Liebling, nicht unter Berufung auf dich. Abgemacht, ich baue einfach. Ich baue aus Spass an der Sache, bin Maurer und Zimmermann in einem, und hab ich's beisammen, so rufe ich nach der Weise der Kinder: Wer kommt in mein Häuschen? – Da hab ich's zu Faden geschlagen.»

Er rollte sein Blatt auseinander. Marie sah bekümmert hinein; doch war alles so überzeugend und artig ausgestaltet, dass es an sich entzückte.

«Schlimmstenfalls könntest du's mit Gewinn verkaufen?»

«Ich verlege mich jetzt auf Renovationen. Das Gemäuer bekomme ich hinzu, vorausgesetzt nur, was sich erweisen muss, dass das Tälchen hier feil ist, und ich hab schon das halbe Haus.»

«Da willst du dir jetzt einen Zipfel Welt käuflich erstehen und weisst nicht, an wen dich wenden.»

«Ich war es nicht, der bis zehn Uhr schlief.»

«Gelt, ich hab dich geärgert . . . ?»

«Insgesamt alles war wunderschön. Wir sind auf dem Grunde da Herrliberger; komm, ich zeig dir das Kirchlein am See.»

«Das eine ist schade, dass du nicht vorn bauen kannst.»

«Im Gegenteil, Marie! Nichts mag ich weniger als Paraderundsicht vom Bett aus. Die Wohnlichkeit soll versteckt sein, die Arbeit abseits der Verführung. Ich werd mir's sogar überlegen, ob hier nicht ein Nussbaum hinkommt.»

«Vorausgesetzt dass er wächst wie der Rittersporn deines imaginären Gärtleins. Der Boden scheint reichlich sauer.»

«Ein Liebling versteht das nicht besser. Hat er vielleicht schon einmal etwas von Drainage gehört? Der Mensch kann das machen, und ein Bildhauer ist auch ein Mensch. Da unten liegt Herrliberg.»

«Schön und gut und einem wackeren Manne wie dir zu gönnen. Die Welt wird so ein Abfall auch nicht kosten. Krannig leiht es dir gerne.»

Sich des Fehltritts bewusst zu werden, macht ihn nicht ungeschehen. Stapfers Ingrimm wand sich nach innen. Die längste Zeit zerknirschte sogar sie sich vergeblich vor ihm; alle aufgejagte Leutseligkeit, ihr Eifer der Anteilnahme hatte dasselbe Gesicht hilfloser Gebundenheit – er liess alle Pläne fahren, stapfte schweigsam mit ihr von dem Berge hinab. Ihre Bekümmernis freilich, sowie das Gefühl, ihr Unrecht zu tun, vermochten ihn milde zu stimmen; sie weinen zu sehen, ging schon vollends über sein Vermögen – auf der Strasse nahm er sie an sein Herz:

«Verzeih mir das Ungestüm, Armes. Wie gehen wir Männer mit so etwas um! Weine! Weine dich nur einmal aus! Ist deine Treue doch das Schönste an dir. Was gäbe ich nicht darum, dass sie mir gehören dürfte; aber hab ich ein Anrecht darauf? In nichts sind wir anmasslicher als darin, mit eines Menschen Liebe zu rechten. Steht es mir an, die deine besserwissend schulmeistern zu wollen? Du schüttelst den Kopf – »

«Nicht so. Nur weil es doch alles anders ist.»

«Wie findest du dass es sei?»

«Auch so, aber weniger einfach. Ebenso richtig wäre es, zu sagen, ich spielte mit deiner Langmut, verzögerte mich in einer hoffnungslosen Sache auf Kosten deines armen Herzens. Du bist so warm und edel. Kam es nur darauf an, dass ich es jederzeit wüsste, ich hätte mich bald entschieden. Ich brächte auch mehr als nur Hochschätzung; es ist nicht, dass ich dich damit beleidigte. Allein, was ist meine Liebe noch wert! Bald wollte ich denken, ich vermöchte Jeden zu lieben.» Sie hatte die Stimme fallen lassen und behielt einen eigentümlichen Ausdruck von Grauen und Belustigung im Gesicht. Noch eines blieb ihr zu sagen: «Gesprungenes Porzellan. Ich bin für diese Zeitlichkeit kaputt gemacht.»

Nachmittags zu Hause, setzte sich Stapfer hin, um an Krannig das folgende zu schreiben:

«In Ausführung deines Auftrages habe ich mich nach Marie umgesehen und referiere Dir mit der Mitteilung, dass Du denn schon ein Hundsfott bist, so mit einer Frau umzuspringen, die Du im Leben nicht wert sein wirst mitsamt deiner beschissenen Kunst. Sei es ein Geldsack oder ein Ruhm: sich aus seinem Besitz der Liebe gegenüber Sonderrechte abzuleiten, ist beides die Art nur eines Scheisskerls. Vor der Liebe sind wir, Holzknecht oder König, Adam in seiner Blösse, verstehst Du mich wohl. Alle liebe Mühe, die ich mir gab, Marie für mich zu gewinnen, scheiterte an ihrer Treue zu einem Subjekt, das in seinem Dünkel diese Treue mit Füssen tritt. Immer dem Amte gemäss, mit welchem Du mich fürstlicherweise betrautest, mache ich Dir ferner Rapport darüber, dass es schwerlich gelingen dürfte, die Frau an den Unterhändler zu verschachern, was sichtbar in Deinem Plane lag. Es erwächst Dir somit die Pflicht, in der einen oder anderen Richtung vorwärts zu machen, Marie entweder die Ehe anzutragen oder sie aus dem wunderlichen Dienstverhältnis mit klarem Bescheid zu entlassen. Solltest Du das weiter hinausziehen wollen, so lass Dir gesagt sein, dass Du die Sorge um Marie nicht Irgendeinem überbunden hast, dass ich vielmehr verstehen werde, ihren Anwalt auf eine Art und Weise zu machen, von der Dir Hören und Sehen vergehen soll.»

Das trug er zur Post, bevor er sich noch einmal hinsetzte, um auch an Marie zu schreiben – ein Dutzend Strassen auseinander wohnten sie und sprachen sich nicht anders mehr als in Briefen, Wochen und Monate hindurch, in Liebesbriefen, über denen sie das eigene Wesen fanden; die Inseln von Glanz bekamen Zusammenhang, verbanden sich zu Kontinenten, die fortwuchsen, so wie aussen der Winter, der so und so oft im Tauwetter fleckig zerfiel und doch eines Tages in seiner makellosen Einheit blieb. Zahllos waren die Gänge, die für Martin vonnöten waren, sich den Berg zu erringen – jetzt war er aber Grundbesitzer, Eigner eines märchenhaften Reiches unter Schnee, das er nur in Ruten und Schuttkegeln sah. Die Bestellung auf Balken und Bretter lag in der Kittenmühle; er äufnete sein Warenlager um Leitungsröhren, Schlösser, Beschläge und Schrauben, er hatte Posten von Fenstern, Kreuzstöcken, Türen, Dachziegeln bei einem Abbruchgeschäft liegen. Die Zeit verging ihm im Fluge über all seiner Tätigkeit; er vergraste wieder in Bartstoppeln.

Krannig hatte den Brief nach der Seite freundschaftlicher Burschikosität verstanden und die Beziehungen keineswegs abgebrochen. Stapfer schrieb ihm unmissverständlich ein zweites Mal, worauf die Verwalterin seine Einladung nach Berlin erhielt; er wollte sich bleibend dort niederlassen und das Haus in der Heimat liquidieren. Daraufhin verfügte sich Marie zu dem Freunde hinaus. Sie traf ihn zusammen mit dem Gipser, der die erstaunlicherweise fertiggewordene Statue hätte abgiessen sollen. Der Preis dafür ging über die Mittel ihres Schöpfers, die Verhandlungen stockten in Ratlosigkeit. Marie erkannte wohl, mit welchen Dingen er seine Kredite ausgeschöpft hatte; sie schlugen ihr aufs Gewissen und setzten sie ihrerseits vor Entscheide, die nun nicht länger hinauszuschieben waren. Sie verschwieg den Anlass ihres Kommens vor ihm, erschöpfte sich in Erwägungen dessen, was für das Bildwerk getan werden könnte. Es blieb nur die Möglichkeit, durch Vermittlung Herrn Sytzens die Stadt an dem Werke zu interessieren. Er selber, der es sich kurz vor Vollendung angesehen hatte, übertrug den Vorschuss auf eine andere Bestellung, auf die ihn die Unterhaltung mit dem Künstler brachte. Eine zweite Hypothek auf den Gegenstand, die er aus freien Stücken gewährte, milderte einwenig den Eindruck seiner Haltung; er hatte die Art der Mäzene, mehr anregen als belohnen zu wollen.

Eben den Grundsatz schien auch die Kunstkommission zu befolgen, ein Grüpplein gewichtiger Herren, die ihm an ihren Galoschen Schnee in die Werkstatt hereintrugen und ihren Augenschein mit undurchsichtigen Mienen vornahmen. Es waren Stadträte in der Begleitung einiger Kollegen aus dem Bund schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten, solcher, die auch in der Gewerkschaft den Ton angaben, weshalb Stapfer den einen und andern Span mit ihnen gehabt hatte; innerlich wütend auf die Fügung, durch welche die Hoheiten über sein Werk zu befinden hatten, liess er es an der ratsamen Unterwürfigkeit gegen die Jury durchaus fehlen; es schaute nicht mehr als die unverbindliche Bestellung auf eine Brunnenfigur aus dem Handel heraus, und ein Flötenspieler hatte es obendrein auch noch zu sein. «Flötenspieler?» fragte Stapfer, mit einem unverstellt höhnischen Blick auf den Kunstpapst vor ihm. «Darf's nicht ein Saxophonbläser sein? An dem arkadischen Flötenspieler ist die Bildhauerei wie Arkadien selber flöten gegangen. Enfin, auf das Was kommt's nicht an; ich mache Ihnen auch einen Flötenspieler.»

«Hast du dir's übersetzt, Marie?» Sie war herbeigeschlüpft in der heimlichen Hoffnung auf ihren vorteilhaften Einfluss als Freundin Krannigs. «Ich biete ihnen das an, sie aber wollen ein Brunnenmännlein. Der Kunst an sich misstrauen die Schweizer; sie nehmen sie nur in ihrer Anwendung, in einer Verbindung mit dem Nützlichen.»

Marie lachte. «Es liegt ja auch etwas sympathisch Gesundes in diesem Instinkt,» meinte sie.

Stapfer schien es zu überhören. «Das da,» sagte er in der Dämmerung seiner Plastik, «stünde in ihrer Seeanlage als Ausstrahlung der Natur, ein Krokus, in welchem ihr geistiges Inneres erblühte. Ein Volk, dem der Sinn für das Unbedingte verkümmert, verliert seinen Auftrieb. Und die Rattenfänger da mit ihrer Flöte ersäufen es vor der Zeit in den Brunnen.»

«Dein Umgang mit ihnen erfüllt mich mit Sorge, Martin. Ich fürchte, du wirst Blöcke von Widerstand auf deinen ohnehin steinigen Weg herabrollen.»

Er drehte sich zu ihr um, ergriff ihre beiden Hände und schwärmte mit zärtlich umflorter Stimme:

«Blöcke, sagst du? Blöcke – sprich mir nicht von Blöcken; sie sind mir wie dem Hungrigen das Wort Brot! Blöcke auf Steinen – was für eine schöne Vorstellung! Die Sonne scheint in den leisen Rauch unterm Fusse der Götter. Die Dreckerei mit Lehm, weisst du, Liebling: das ist recht für die Schmierer und Blender, und den Habenichtsen meiner Art ein Ersatz. Steine, wenn ich hätte! Der Pfannenstiel hat! Der Gletscher vererbte sie mir!»

«Im übrigen,» fuhr er, eine Maske von Ernst aufsetzend, fort: «Meine Reverenz! Dich haben sie angestaunt wie ein Meerwunder; als hätte Krannig das Modell, nicht das Modell Herrn Krannig erschaffen.»

«Das Modell ohne Krannig wäre immerhin eine Pariser Buchhändlerin ohne Typik des Ausdrucks geblieben.» So viel an Verteidigung musste sie ihm gegenüber wohl riskieren. Sanfter konnte sie nicht andeuten, dass sie das Urteil von Künstlern über Künstler, wenn auch nicht übel, nicht durchaus verbindlich nahm.

Sie hatte ihren Weg zwischen beiden aus eigenem Entschluss festzulegen. Nach Berlin ging sie nicht, nach Berlin nicht und nirgends hin zu Krannig, der überall Krannig blieb; als er anfuhr, um den Umzug selber an die Hand zu nehmen, reiste sie nach Paris ab, unter Hinterlassung eines Briefes auch an Martin Stapfer.

«Du Treuer,» schrieb sie ihm; «so ist es das einzige, was einigermassen in Sauberkeit und Anstand durchgeführt werden kann. Ein bisschen Feigheit und Roheit steckt auch darin, ich weiss und bitte es Dir pflichtschuldigst ab. Darf ich mich auf das einlassen, was Du in Deiner Herzensgrösse von mir verdient hättest? Es gehört mit zu meinen Schmerzen, hierin hart sein zu müssen. Ich hatte vor, mir ein Jahr »Bedenkzeit« zu nehmen; allein, ich liesse Dich warten in einer Sache, über die ich mir im Grunde klar bin. Ich liebe Dich, Martin, ich liebe Dich sehr und genug, um zwischen Dir und dem Andern nicht mehr zu schwanken. Wäre ich nur nicht inzwischen zu alt geworden! Es fehlt mir die Vertrauensseligkeit, jener Schwung der Jugend, ein Leben auf sich zu nehmen coûte que coûte. Indessen, nicht was es mir nehmen möchte, bestimmt die Rechnung; es ist, darf ich sagen, vielmehr mein Mangel an Leistungsfähigkeit, zu geben, der den Verzicht gebietet. Irgendwie, siehst Du, kann ich alldas nicht mehr ganz ernst nehmen, mich selbst nicht und nicht den Zufall, allein oder vermählt zu leben. Die Dinge, um die wir uns Schmerzen machen, sind vielleicht ebenso nichtig wie die drolligen Gründe von Kindertränen. Eines steht für mich fest: Wer am eigenen Bündel genug trägt, soll sich aus Redlichkeit nicht vermessen, das eines Nächsten hinzuzunehmen. Und Deines hat Steine und Blöcke! Schön wäre es, mit Jugendmut davon abzusehen, ein anderes, draus zu erwachen. Ich sehe das Bild eines Weibes, das die Voraussetzungen an sich hat, Deiner schönen Vision zu genügen. Sie wird entweder sehr jugendlich oder von völliger Reife sein. Lache mich aus: sie wird blond sein! So sehr habe ich mir Deinen Traum zu eigen gemacht, dass er mir deutlicher als dem Träumer ist. Gott weiss, mit welchem Wunsch ich ihn segne.»


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