Albin Zollinger
Pfannenstiel
Albin Zollinger

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4

Er war kein ungeselliger Mensch, nach der Pariser Kameradschaft schon gar nicht, er sprach gern in Diskussionen mit, und nach seiner Zeit des Einsiedlertums bekam er Hunger auf Menschen. Eine Verbindung gab die andere; er trat der Gesellschaft schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten bei, durch einen Schriftsteller, dessen Bekanntschaft er im Hause Sytz gemacht hatte, wurde er im Literarischen Club eingeführt; wenn auch selten, hatte er nach und nach in ungefähr allen Künstlercafés gesessen.

Krannig war geschäftlich nach Berlin verreist. Der Name, den er hatte, war in Deutschland entstanden, in der Heimat nur nachgesprochen; die Schweiz verwöhnt ihre Söhne nicht, schickt sie in die Welt, und falls sie es dort zu etwas bringen – einer Plantage oder Ruhm – zeigt sie sich willig, sie mit dem Vorbehalt einer etwas altmodischen Erzieherstrenge anzuerkennen. Die Deutschen aber waren damals splendid, der Aussenwelt in einer höflichen und intelligenten Weise offen – welche warme Bläue strahlte da von der Spree herab in tausend Zeitungen und Zeitschriften des geräumigen Landes! Krannig sah seine Werke in Abbildungen der Kunsthefte ebenso wie exquisiter Modejournale, wo er, glanzvoll gedruckt, im Wechsel mit Aufnahmen von Pferden, Wolken und olympischen Trümmern erschien. Neuestens war ihm der Vorschlag auf Herausgabe einer Monographie unterbreitet worden; Krannig sah Marie an – mit der Monographie war der Grundstein jeder Unsterblichkeit gelegt, und Krannig fuhr nach Berlin.

Die Schweiz blieb zurück in der Stille halkyonischer Tage; Marie blieb zurück, indem Krannig schon nachgerade etwas wie einen Verwalter benötigte, der das Haus bewachte, Anfragen beantwortete, den Ausgang und Eingang von Statuen beaufsichtigte, die auf den europäischen Ausstellungen zirkulierten; die Museen meldeten sich, welche das modische Ornament des neuen Meisters in ihren Sälen nachzutragen hatten, und es gab viele Museen, zeigte es sich. Krannig mietete auch in Berlin noch ein Atelier. Stapfers Arbeitsraum blieb kühl in der Folge der Nachsommertage, kühl und von lieber Luft des Gelingens erfüllt – die Inseln von Glanz breiteten sich aus an dem Werke. Zuweilen fühlte er sich angerufen, und da er die Müdigkeit merkte, setzte er sich vor die Türe mit seinem Stück Brot, den Grabsteinen gegenüber, und dann war es nur die Herbstbläue gewesen, diese schwere Versonnenheit, die einen Laut von sich gegeben hatte – war es nicht eine Schneeschmelze von Blau und Rost, jetzt in der Landschaft, die er sich in Gedanken ausmalte; der Oktober schüttete die blauen Tage aufeinander, himmelhoch, sie vergoren in einem lautlosen Läuterungsvorgang, das Buchenlaub wehte zu Boden, die Wälder gingen auf mit Ausblicken auf frisches Schneegebirge.

Martin wusste, dass sie allein in der Nähe lebte, und so wie der Gedanke an sie ihn in seiner Arbeit anfeuerte, verwirrte er ihn zu anderer Zeit; sein eigentliches Leben bestand darin, dass er auf ihr Kommen wartete, der Wunsch äffte ihn mit Geräuschen vor dem Hause, denen er vergeblich nachging; manche Stunde versass er auf der Lehmkiste, in Grübelei darüber, ob er hingehen sollte, ob es an ihm lag, aus der freundlichen Gebärde des Schicksals etwas zu machen; die Stille flüsterte in Stimmen. Die freundliche Gebärde mochte aber auch nur eine Blösse des Schicksals sein, eine schwache Stelle, die sein Erbarmen anrief; im Kampfe von Mann zu Mann unerbittlich, versagte er sich's, aus seiner Abwesenheit Nutzen zu ziehen. Es wäre denn schon, dass sie, deren Innerstes ihm verborgen blieb, ihre Freiheit dazu verwendete, zur Klarheit über sich selbst zu gelangen.

Auch den Pfannenstiel hatte er im Warten auf sie zurückgestellt. Er hatte in seinem Unterbewusstsein hier eine Rechnung ohne den Wirt gemacht, ohne Marie nämlich, von der er sich inne wurde, dass es ohne sie nicht dasselbe war; nun, in der Stille, rief ihn der Berg, dass er sie brächte – es kam vor, dass er plötzlich sein Modellierholz niederlegte, um sich fertigzumachen, das Herz schlug ihm zum Halse hinauf; aber der Unternehmungsgeist erlahmte in Skrupeln und allerlei Aengsten, noch bevor er das Haus verlassen hatte. Da geschah es, dass Krannig in einem Brief ihn unter anderm auch darum bat, sich der gemeinsamen Freundin ein wenig anzunehmen. Na, na; die inneren Vorgänge erschienen auf Stapfers Gesicht als ein Grinsen. Er verunstaltete sich im Rasieren so, dass die erhastete Zeit in Reparaturen mit Alaunstift und Watte gründlich verloren ging; er wetterte und klagte. Ein Fetzchen Zeitungspapier unterm Kinn war in Gottes Namen mitzutragen, er fand Marie auch gar nicht zu Hause; eine halbe Stunde, die er vor ihrer Türe versass, erlöste ihn nicht aus den Qualen des bitter verspielten Nachmittags; zuguterletzt blieb ihm nichts, als ihr einen Zettel im Briefkasten zurückzulassen. In seiner faserigen Verfassung zur Arbeit untauglich, verlegen dem Vorrat des Schönwetters gegenüber, fühlte er sich wie in einer Halle verloren, zu nichts nütze, die Zeit stand still, die Welt verglaste in einem Zustand der Geisterhaftigkeit, es schien ihm fraglich, dass alles noch da war, Paris, der Ozean, Marie irgendwo – er schlenderte herum, und Seufzer lösten sich ihm in der Brust.

Vermutlich war sie zu spät in der Nacht heimgekehrt; sie erschien erst am Morgen, dann aber zeitig, mit einem Netz voll Fressalien, wie eine Hausfrau in Gartengeruch des Marktes. Sie legte ihren Hut vor sich auf die Couch, sah sich in der Behausung des Junggesellen nach einem Spiegel um; Martin rannte, er besass doch alles in seiner Sammlung, deren Zweckdienlichkeit sich einmal mehr erwies; Marie stand in der Scherbe aus Clignancourt wie eine Madonna auf Silbergrund.

Noch mit ihren Händchen am Scheitel blickte sie zu ihm auf. «Ich fürchte, du vernachlässigst dich nicht nur im Essen, sondern auch mit zu vielem Stubensitzen. Da du mir schon einen Tag deiner Arbeit schenkst, wäre ich eigentlich dafür, dass wir ihn dort aufsuchten, wo er am schönsten zu sein verspricht; du machtest dich einmal geheimnisvoll mit dem Pfannenstiel . . .»

«Liebling, den meine ich ja! Aber wir haben Zeit . . . ich kann sagen: wir haben Zeit; das ist wie wenn einer König geworden ist, und er weiss: ich habe ein Reich. Andere sind König auf Lebenszeit; Länge oder Kürze der Lebenszeit war nie ein Mass für das Königtum.» Sie ging herum zwischen den Dingen, die sie wiedersah; sie erinnerten sie auch an Krannig, der hier seine Talente entfaltet, einen Fisch und pommes frites gebacken, italienischen Salat und einen Pudding zubereitet hatte; der Schatten streifte sie bloss, sie schien eine gewisse Unabhängigkeit zurückgewonnen zu haben, sie schien sich der Gegenstände zu freuen, und Martin schenkte sie ihr alle im Herzen; er beobachtete sie heimlich voll sorglicher Scheu. Sie wollte auch seine Arbeiten sehen; sie standen in nassen Lappen maskenhaft wie Lemuren; enthüllt, erschreckten sie mit einer gewaltigen Art von Leben, das unter dem Glasdach gewissermassen ausholte; die Reglosigkeit verströmte melancholische Düsternis, hatte etwas von der Dämmerung unter Eis, das Stumme der Gefangenschaft; es überkam das Mädchen eine Beklommenheit ähnlich der vor dem Raubtierzwinger, über dessen Festigkeit sich zu vergewissern der Mensch in seiner Wehrlosigkeit nicht unterlassen kann. Nur die Figur des «März» wuchs korallenhaft, gleichsam aus lichterem Ton; Marie hatte genügend Unterricht über Stapfers künstlerische Absichten erhalten, um in der richtigen Weise zu blicken, der Willigkeit des Herzens erschloss sich auf einmal vieles, was ihr unverständlich geblieben war. Martin erfuhr es aus ihren Bemerkungen ebenso wie aus einer Wandlung zum Ernst ihrer Haltung gegen ihn; er spürte auch ihr Frohlocken darüber, zum Wesentlichen des Mannes, den zu lieben ihr vielleicht bestimmt war, vorgedrungen zu sein. Ihn selber bewegte es zu sehr, als dass er noch irgend etwas zur Sache hätte beitragen mögen; wo er sich früher in Erklärungen ereifert hatte, schwieg er jetzt demutsvoll.

Aber sie reisten in einer Herzlichkeit des Einvernehmens ab, die an Ausgelassenheit grenzte. Das Bähnchen, mit dem sie fuhren, war ein Mittelding zwischen Tram und Bummelzug; es brachte Milchkannen vom Lande herein und städtische Menschen hinaus, nicht viele zu der Zeit, und sie verloren sich unterwegs, – die Pariserin blickte sich um; da sie Felsabstürze und Wasserfälle erwartet hatte, fiel die Ueberraschung genau so aus wie Martin sie gewollt hatte: die Wiesenhöhe hatte nichts an sich, was ausserordentlich gewesen wäre, es lag nur gleichsam in allen Richtungen eine luftige Verheissung, ein Glast von Gesichten: Sommer mit Wolkengebirgen, Staub auf Salbei, die Nähe Berlins irgendwo, Kornblumentiefen, Napoleon, Feuersbrünste. Es war kein Berg, es war unter den Himmel erhobenes Hügelland mit einer Asphaltstrasse mitten durch, mit Bauerndörfchen, kleinen Schindelkirchen, mit Schulhäusern und Wegweisern; in den Obstbäumen lehnten noch Leitern, die Lattenzäune bauchten sich aus unter Lasten von Herbstblumen, verbliebene Sonnenblumen ragten wie alte Jungfern. Das Madönnchen sagte nicht viel, doch genug um ihn zu beruhigen: sie sah; sie hatte das Auge für das Unsichtbare, das ihm so besonders wert war. Sie gingen, nachdem sie die Bahn verlassen hatten, in der Art von zwei Kindern auf den Tramschienen noch ein Stück weiter. Das Gebirge kam über den Rand herauf, die Zeile von Telefonmasten, ein kleiner Weinberg, wölbte sich anscheinend in Seewasser hinab, ein See lag unverhofft da, der Berg schien zu schwimmen. Das Pärchen bog rechterhand in einen Feldweg von der erstaunlichen Landstrasse ab, von der man nicht anders dachte, ein italienisches Küstenstädtchen läge an ihrem Ende. «Das hier hinauf», sprach Marie und hob den Arm über die Landschaft, «habe ich schon einmal gesehen. Es sind die Albanerberge. Ungefähr dort läge Tivoli.» «Es ist aber Bäretswil!» antwortete Martin bedeutungsvoll. «Im Verlaufe des Tages wirst du sehen, dass die Häuser mit Lichtbrillanten ihrer Scheiben aus den entferntesten Gründen hervorzünden, und abends steht das Land voller Feuersbrünste. In Wirklichkeit hängen die Fenster voll Nelken und Geranien, von denen die Stuben dunkel sind, jahrhundertalte Stuben geduckter Holzhäuser; auf dem säuberlich aufgeschichteten Brennholz davor dörren die Weiber Bohnen und Apfelschnitze, Zöpfe von Zwiebeln und Knoblauch tragen Barock an den Kreuzstöcken auf, heute wie damals, da sie in Vatermördern und karrierten Hosenrohren durch die Kerbelwiesen herab wanderten, ein Volk von Leinewebern, das einen Tagesmarsch machte, um seine paar Batzen von den Zürcher Tuchherren entgegenzunehmen. Du siehst da zwischen den beiden Seen Uster, wo vor genau hundert Jahren die erste Fabrik des Kantons verbrannte, ein Novum und Symbol des Weltunterganges, gegen das sich eines nebligen Novembertags der Grimm der Handweber wandte. Sie irrten. Die Industrie hat ihren Kindern alle die Dörfer erbaut, von denen du das Land gesprenkelt siehst. Noch unsere Grossmütter hatten alle ihr Seidenwindrad im Hause, ich höre das hölzerne Surren aus der Kindheit herüber; es überzog den Buben mit grauer Langeweile, die Frauen hatten vom Fingernetzen ausnahmslos Hängelippen, ich hasste sie dafür; sie trugen auch schwarze Haarnetze, die unter den Stündelern bis auf den Tag geblieben sind, und das Oberland wimmelt von religiösen Schwärmern. Ich verbrachte dort meine Ferien bei zwei alten Tanten, die auch einer Sekte angehörten und mich mit einer Miene von Betrübnis und Eigensinn an den widerwilligen Händchen in ihre Andachten mitschleppten. Es waren Sitzungen einer sturen Feme, der sich mein Kindergemüt aus allen Kräften widersetzte, nicht immer erfolgreich übrigens; ich hatte meine Anfälle heulender Zerknirschung, auf welche die Tanten beseligt als auf Symptome der Heilung blickten.» Der drollige Ausdruck in Maries Gesichtchen ging ihm zu Herzen; er hätte es um ein Haar in seine Hände gefasst. «Ja, wir sind eine komplexe Gesellschaft und nicht leicht zu beurteilen. Ich erinnere mich der Tanten im übrigen gerne. Sie verstanden eine heimelige Art von Quittenkonfitüre zu machen, in deren Gallerte ich Städte aus Gold und zaubrische Abendhimmel erblickte; sie tauchten mein Brot in Rahm, und schon gar nicht zu beschreiben sind die Heimlichkeiten des Winters in ihrer Obhut: ihre Bedachtsamkeit, mir das Tuch um den Hals zu legen, Apfel und Brot in den Schnee hinaus, und der liebe Bettsack aus Kirschensteinen, duftend von der Wärme des Ofenlochs . . .» «Und ein schnauzbärtiger Gutenachtkuss». «Im Leben nicht, Liebling, im Leben nicht! Der Kuss ist streng verpönt, eine Ungehörigkeit, deren sich jedermann hierzulande schämt. Ausgenommen der Kuss der reichen Leute, die ihn als Privileg ihrer Vornehmheit mit einer gewissen höheren Kränklichkeit gerne am Bahnhof demonstrieren. Dieses wird dann vom Volke halbwegs erheitert, halbwegs mit Respekt beobachtet.»

Stapfer ging mit den Händen am Rücken in seiner langsam wiegenden Weise, ziemlich abseits von Marie, zu der hinüber er sprach. Er spickte nach Knabenart dann und wann einen Stein mit dem Schuh vor sich her, einwenig bergauf nunmehr; der Glanz des Tages, der Waid, der heranroch, alle die webende Gegenwärtigkeit – seiner selbst auf der Ackererde, Maries, der Gewissheit des Glückes – durchdrang ihn mit wohliger Schwere. Er sah die Geliebte gehen, ein Entzücken an Duft und Anmut, sie trug ihre Jacke über dem Arm, sie hatte warm bekommen und glühte, sie setzte Fuss vor Fuss, um die Wege mit ihm zu gehen; sie gingen in den Tunnel der Schatten und in Hochwald hinein, auf dessen Grund die Brombeerranken verdorrten, sie gingen am Rand einer Wiese, Büsche von Hagebutten, bastfarbenes Waldgras entlang. Auf einem Hofe wehten, wie Löwenzahnflaum, die Hühner vor ihnen zurück; sie kamen auf Polster von Fichtennadeln, in bleiernes Buchengestämme und noch einmal vor das Tiefland, das in einem Rahmen von Herbstlaub mit Kirchen, Baumgärten, Hagen und blauem Hügelgewoge aufging. «Es sieht sehr schön aus, all das», sagte Martin; «aber der Mehltau liegt auch darüber, bei näherem Zusehen. Die Arbeitslosen schlendern in den Strassen herum, die Bahnhöfe sind Treffpunkt der gewissen Jünglinge.» «Am Ort sind die Dinge überall unzulänglich. Wir haben Klischeevorstellungen von Italien, Amerika, wir sehen eine Plakatschweiz; mit den Jahrhunderten wird es nicht anders sein – wer weiss, wie Griechenland war! Und im Persönlichen: wir lieben die Liebe der Vorstellung und scheitern an ihrer Wirklichkeit.» «Ich dachte», fuhr sie, sein Gesicht bemerkend, mit der nämlichen Ruhe fort, «augenblicklich an Krannig, nicht an dich, Martin. Dir gegenüber befinde ich mich noch unterwegs auf Entdeckungen, in einem dankbaren Zustand somit. Krannig lernte ich über sein Werk als ein fernes Hesperien kennen. In der Kindheit träumte ich mich auf die Wolkenländer um Sacré Coeur hinüber. Ich glaubte Krannig von dort gebürtig.» «Ist er auch in seinem eigentlichen Wesen, Marie. Ich sehe den Menschen immer so, dass er weint, aus Kummer darüber, nur sein eigener Schatten zu sein. In unserem somnambulen Tun, die Schöpfung in der Kunst zu wiederholen, erscheint auch das Unzulängliche als Kümmerlichkeit der Verwirklichung.»

«Du bist dir's bewusst, und deine Leiden stammen von da. Krannig ist stets zufrieden mit sich.» «Ist er's? Ob er's ist? Er hat eine andere Natur. Es begegnet mir wohl, dass sein Sonntagswesen mir als besonders tragische Form verdrängten Unglücks erscheint. Ich schäme mich dann, ihm Geschäftsgeist und Ehrsucht, die möglicherweise nur Surrogate sind, pharisäisch vorgeworfen zu haben. Das menschliche Wesen ist unergründlich.» «Ist es das, oder sagt man es nur? Das Unheimliche ist, dass der Topf einen Boden hat. Summa summarum weiss ich, das Werk ist sein Bestes; persönlich benötigt er junge Mädchen, die er zunächst zu Statuen sublimiert, dann ins Bett nimmt.»

Auch Stapfer fand es nicht schön und sie wanderten lange schweigend, die Gedanken nach ihrer verschiedenen Anlage spinnend. «Darf ich wissen, was er dir schrieb?» fragte sie unversehens mit fast unhörbarer Stimme.

Er blieb auf dem Strässchen stehen. Im lächelnden Bewusstsein, nun selber seinen kleinen Bezug an menschlicher Schwäche zu machen, griff er nach Krannigs Brief in die Rocktasche.

Ah, sie war wundervoll, diese Frau; sich mit ihr zu verstehen, ging wie von selber; sie grübelte im Gehen lange und endigte doch bei dem, worauf er den Blick gerichtet hatte. Da es nicht wenig demütigend für sie war, nachträglich nun auch ein bisschen reuig, zupfte er an einem Ahornblatt herum bis sein Gerippe ihm als ein Bäumchen in den Fingern stand, das, indem er es drehte, das Surren einer Libelle erzeugte. Derweil war ein Schattenfleck im Gesträuche lebendig geworden, hüpfte auf Strünke und an die fleckigen Stämme hinauf, in deren Deckung er gleichsam tauchte, um irgendwo auf den Aesten wieder hervorzustossen; das Eichhorn bewirkte, dass die beiden sich an der Hand erfassten. Sie waren auf gute Weise über die Verlegenheit hinaus und im heikelsten Augenblick zueinander gekommen; sie wurden es leise erschreckend freilich erst im Weitergehen inne, Martin fasste um eine Spur fester zu, und Marie, an der eine hintergründige Ruhe auffiel, schien es auch so zufrieden. Das fusstiefe Buchenlaub rauschte um ihre Schuhe, spröde vor Trockenheit, glänzendes neues Leder, das der Wald ihnen aufgeschüttet hatte. Es erinnerte mit seinem Geruch an Versailles, es geisterte von Statuen und Reifröcken darüber, die alten Jahrhunderte kamen heran, auf die Liebe der Lebenden mit bedeutsamer Wehmut zu blicken. Marie und Martin traten durchs letzte Tor auf eine Wiesenhalde hinaus, die in Stufungen sanft nach der Tiefe abfiel; sie stapften einen Pfad aus Grasbüscheln und Wurzelgeflecht zu der Alp hinunter, auf welcher das Berghaus wochentags einsam stand. Der Hund kam ihnen entgegen und sass dabei, als Martin den Ausblick erläuterte; das gute Tier genoss es, dass die Dame es am Halse kraute, es blickte auf und rückte an sie heran, so oft sie sich darin verträumte. Es war ein Land voller Spuren der Urzeit, herab vom Gefelse zu den Lachen flacher Wasser, in denen die Gletscher zerflossen waren, ein ausgeräumtes Land, der Lieblichkeit ungeachtet, die es in Wäldern und Matten, Halbinseln und Gehöften umflorte. Die Alpen waren als eine schaumige Brandung an den Himmel hinaufgewachsen, ihre Riesen standen im neuen Schnee mit geisterhaft fernen Klippen, mit Schlüften von Zwielicht, der Hermelin langer Hänge zerfloss in dem kräusligen Waldrost, dem Teppich der wärmeren Tiefen.

«Da überall hinaus», sagte Martin, «sind die farbigen Landsknechtsheere gezogen: nach der Lombardei, nach Burgund – Ströme von Wanderameisen, die einen Weinberg von Lanzen über die Pässe trugen. Die Burg links ist Rapperswil, ein Städtchen, welches zwei Heckenrosen in seinem Wappen hat, die Insel davor ist die Ufenau, ein lockiger Schopf von Buchen im Wasser, Hutten liegt dort begraben, die Unrast des Deutschland von Luther; rechts hinauf gingen die Pilgerzüge nach der Waldstatt Einsiedeln, die heute in ihrem Hochtal, in Negerkraalen aus Torfhütten, mit der Unverhältnismässigkeit ihrer Klosterkirche dem Leben der Königszeit nachträumt. Du siehst auch in dem Schilfland am Obersee einen dörflichen Dom gespiegelt; das ist Lachen in der Nähe von Tuggen, wo der irische Mönch Columban die Christianisierung Germaniens begann. Die Bewegung setzte sich nach dem Bodensee fort, der im Osten hier beinahe sichtbar wird; in der Richtung liegt St. Gallen, die Zelle des heiligen Gallus – und aber die Lücke da im Gebirge, die musst du dir ansehen; da liegt drin der Walensee oder Welschensee mit Dörfern des Namens Terzen, Quinten, Quarten: der römische Süden weht da über Pfirsichbäume ins deutsche Haus herein, durch diese Pforte ergoss er seine Legionen; wir sind Brackwasser aus Blond und Dunkel bis auf den Tag geblieben, das Mediterrane wiegt aber vor, in einer Kreuzung des Bäuerlich-Kriegerischen, in welchem die keltische Hirtin ebenso wie der lateinische Eroberer fortlebt. »Wir haben seine Landhäuser zusammen mit alemannischen Spangen unter dem Humus hervorgegraben. Salve Laeticia!» rief er, seine Hände gegen die fröhlich erschrockene Französin ausstreckend: «Ihr habt einen anderen Weg der atlantischen Bläue entlang genommen, eurer Hochzeit sind Kathedralen und Alexandriner entsprungen, und nun stehn wir am Ende der Jahrhunderte hier auf dem Pfannenstiel, einem Trümmer der Eiszeit, beisammen, in der Zutunlichkeit dieses Hundes, dessen Stirne sich über den Problemen so kummervoll wie zu Anfang runzelt.»

Auf der Terrasse stand ein Fernrohr, durch welches die beiden die Rundsicht erforschten. Es war aber ein dunkles Glas, der Kreis von gallertigem Herbste darin wie der Schein einer Zauberlaterne; der Firn hing als ein Schleier, der See als ein weiches Gewoge herein, und falterhaft schloss sich die Nacht davor, nachdem das Geldstück im Automaten seine Kräfte verausgabt hatte. Inzwischen war der Imbiss aufmarschiert, eine Karaffe violetten Sausers und Rauchwurst von kohlschwarzer Patina, dazu Bauernbrot aus Kartoffelmehl. Entzücken über Entzücken schenkte ihnen der gnadenhafte Tag; über der Handlung des Essens verklärten sich ihre Mienen in Kinderfrömmigkeit.

Immerhin: «Hast du Geld?» fragte sie unversehens. «Wie kommst du in Zürich aus? Es ist teuer, und ich fragte mich schon, ob du dein Haus wirst halten können . . .»

«Ich werde es schwerlich halten können,» antwortete er lachend und herzlich froh, mit ihr darüber zu sprechen. Es hatte den Reiz der Vertraulichkeit, ihr alles zu unterbreiten; er kam sich einwenig als verheiratet vor, indem er sie alles wissen liess was er im Unterbewusstsein alle die Wochen vor sich selber verborgen hatte. Sie hörte es nach ihrer Weise ernsthaft mit holder Teilnahme an.

Er hatte in Nachtarbeit die eine und andere Grabplatte ausgeführt, er hatte ein Steinportal aufgefrischt, er hatte die Hilfe Herrn Sytzens; er hatte aber auch Schulden, von dem Hause herstammend, das wohl nach seinem Herzen, seinen Mitteln aber nicht tragbar war. Er schämte sich dessen nicht sehr vor Marie, seine Miene zeigte Verlegenheit und einen Untergrund von Kummer einzig darüber, dass die Umstände ihm eigentlich verboten, seinen Wunsch zu ihr zu erheben; er half sich mit Knabenkniffen darüber hinweg, mit der Vorgabe von Möglichkeiten, die sich fänden, sobald er für so königlichen Besitz seine ganze Rührigkeit einzusetzen die Veranlassung hätte.

Sie konnte nicht umhin, jetzt ihr Besteck in den Teller zu legen, fast als hätte sie sich verschluckt.

«Hier bist du nicht von deiner sonstigen Wahrhaftigkeit,» sagte sie. «Wenn es etwas gibt, für das du deine ganze Rührigkeit einsetzest, so ist es deine Kunst; eine Hausfrau kann dir nichts höheres sein.» «Sie ist mir etwas anderes, Marie, und die Rührigkeit für sie deshalb anderer Art. Für meine Kunst genügt mir, dass ich sie ausüben kann, gleichgültig in welcher Hütte, bei einem Stück Brot.»

Nie war er ihr so liebenswert erschienen wie nun in der kindlichen Art, ohne Bewusstsein dessen, was er aussprach, in seiner Hantierung fortzufahren.

Irgend jemand müsste ihm Sorge tragen, ging es ihr durch den Kopf.

Eine Frau, die ihn liebt und Geld hat.

«Ich muss mich wohl einmal über die Unverfrorenheit, der Freundin des Freundes nachzutrachten, erklären. In der Liebe geht es nach chemischen Wertigkeiten über jederlei Rücksichten hinweg, die vor dem Gesetzhaften minderwertig und verderblich sind.»

«Nur dass der Stoff in seiner Unmündigkeit dem Gesetzhaften hörig ist, wogegen wir vom Baum der Erkenntnis gegessen und das Paradies verloren haben. Woran sollen wir uns halten? Ich habe Leidenschaften zerfallen und Vernunftskontrakte zur schönsten Harmonie sich entwickeln sehen. Was euch Künstler im besonderen anbetrifft, so liegt es in eurer Eigenart, dass ihr, Mönche eurer Berufung, allein und frei bleiben sollt . . .»

«Es ist sonderbar, dass der Mensch, nicht ganz mehr nach seiner Erfahrung, sogleich unoriginell daherspricht. Jetzt redest du Redensarten, Marie, den Bombast, den sich die Halblinge aus eitlen Vergleichen zurecht gemacht haben. Diese sind Stümper, wie in allem, auch in der Liebe. Dem Künstler, wenn ihm die Ehe gelingt, gelingt sie schöner als dem Bürger. Sieh daraufhin die Menschen deiner Bekanntschaft an. Mit Krannig hat es die Bewandtnis, dass er das Schlagwort zur Vorgabe seiner Selbstsucht nimmt. Nicht Künstler, fände er eine andere Rechtfertigung seines Widerwillens gegen Bindungen und Verpflichtungen. Mönch der Berufung kann er bei seiner Lebensweise auch nicht wohl genannt werden.»

Beide dachten sie wieder an den Brief, in welchem Krannig dem Freund eine Aufgabe überband, die auf sehr grosse Unbekümmertheit, wenn nicht gar heimliche Berechnung schliessen liess. Marie hatte ihre Lage erkannt und Rechnungen von langer Hand blitzschnell zum Abschluss gebracht. Sie liess diesen guten und wertvollen Menschen hier, um in eine Einsamkeit zurückzugehen, vor der ihr graute, da sie am Ende der Illusionen angelangt war und einen Rest von Erdendasein ohne viel Sinn und Verlockung vor sich sah. Es wäre ihr schamlos vorgekommen, zu Stapfer hinüber zu wechseln, obgleich sie ihn liebte – wie tief und lebendig wurde der Tag mit ihm! – nachgerade blickte sie über so viel Liebe zurück, dass deren Gegenstände, die Männer, ihr zufällig wurden: Duchosal nicht, Krannig nicht – weshalb Stapfer? Sie grübelte André nach, ihrem Ersten, was eine überirdische Sache gewesen war; sie war in Banalität zerfallen, der Jüngling ein abgeschlagener Börsenhecht geworden. Marie überdachte ihren Anfang, in der schmerzlichen Beschämung, mit der ein Dichter seine Jugendverse wiederliest, zu einer Zeit des Müssiggangs, da eine bessere Beschäftigung ihn auch nicht tröstet.

Indem die Sonne sich gegen Abend hinüber neigte, hatte der Luftraum sich verwandelt, war der Herbst in der Tiefe hervorgetreten; die Schneeberge wuchsen, wie umgestülpt verfärbte der See sich gewitterhaft. Als Landesfremde sah Marie alles anders, in Visionen dunkler Städte da unten, mit Bedrückungen, von denen in Stapfers Miene nichts zu erblicken war. Er hatte noch einmal von dem Zuckergetränk, für Marie einen Kaffee kommen lassen; der Hund, nachdem die Gerüche langweilig geworden waren, schlenderte wieder vors Haus hinab, eine allererste Ahnung von Schnee lag in der Kühle, Marie fiel das winterliche Paris ein, der Bildhauer schwieg, und seine Freundin sass ihm gegenüber in der frostigsten innern Vereinsamung, klaglos und lieblich. Er hielt alles für Träumerei und ergriff wieder ihre Hand über den Tisch zur Bekräftigung einer Einigkeit, welche durchaus nur seiner Vorstellung angehörte.

Indessen begann die leise Verschattung des Tages auf sie zu drücken; sie hatten sich von den Fahrgelegenheiten entfernt und so oder so einen namhaften Weg vor sich. Sie verliessen die Tische und Stühle des scheinbar menschenleeren Hauses, die Wiese davor empfing sie mit wohligen Teppichen, sie traten noch auf den eigentlichen Aussichtspunkt, die Okenshöhe hinaus, eine Lichtung von Eichgebüsch, in welchem der Tisch eines Alpenzeigers mit gewaltigen und blumigen Namen der Bergriesen – Ruchenglärnisch, Grosse Windgälle, Finsteraarhorn – als Visierplatte vor dem Panorama stand. Sie betrachteten auch den Findling aus rotem Ackerstein, welchen die Gletscher der Eiszeit vom Tödi heruntergetragen und an dem erhobenen Orte niedergelegt hatten; er war vom ausgestorbenen Geschlechte der Giganten wie ein Wurfgeschoss geblieben, für dessen Mass es die Kräfte nicht mehr gab. Martin entwarf das Bild jener Urlandschaft, deren Trümmer, idyllisch überwuchert, in Moränen und Tälern verblieben waren. Sie wanderten auf einer Strasse von sanftem Gefälle an der Flanke des Berges, durch Riedland und Wiesen und bäuerliche Weiler. Die Beerenstauden waren schwärzlich eingedorrt; Martin pflückte eine Garbe herrenloser Mondviolen, dazu raschelnde rote Laternen der Judenkirsche; die leise Frau trug das Brautbukett in ihrem Arm durch die Dämmerung, durch den Wohllaut der Glocken aus der Tiefe, die mit Lichtern zu blinken anfing, noch ehe die Sonne völlig hinter den schwarzblauen Grat des Albis hinabgegangen war. Schattenhaft standen Rinder, die Kühe schnauften durch Lattenzäune, gewalttätig leckend, als lebte die Nacht in ihnen; Maries opalene Monde phosphoreszierten zusammen mit dem bräunlichen Augenweiss der scheuen Tiere. Martin war auf besondere Weise in der Dunkelheit munter geworden; sie gingen ja zwischen Scheunen hindurch, an laufenden Brunnen vorbei, durch den guten wundersamen Geruch der Ställe; der Mond fing an, grünlich über die Wege zu leuchten, Schatten von Schatten zu hauchen, ein Geschiebe von Mostbirnen lag im Strassengraben, ein Bauer mit seiner Milchtanse ging grüssend vorüber.

«In so einer Stimme liegt alles, Marie, alles was mich über die Aergernisse des Jahrhunderts tröstet. Die stoppelige, warme Bauernstimme! Wahrscheinlich ist er Gemeinderat oder Schulpräsident. Er hat in seiner Geranienstube einen Sekretär stehen, an dem er auf herabhängender Platte mit seinen Ackerfingern schreibt, sonntags, hemdärmlig, in einem Umlegekragen, den ihm die Frau als ein oblateweisses Blech um den Hals geknöpft hat. Diese Dörfer sind voll von Sonne über Bürgerversammlungen, Messingglanz der Feuerwehrleute, voller Sonntagsfrühe im Schützenstand. Sieh nur die drahtvergitterten Anschlagkästen, die Aufgebote neben verblassten Zirkusplakaten. Die Schweiz liegt auf dem Lande, musst du wissen! Liebling: ich werde aufs Land übersiedeln! Eben fällt mir ein: weshalb sollte ich nicht auf dem Lande wohnen? Irgendwo hier! In der Stadt genügt mir ein Hühnerhaus.»

Sie sah, er hing dem Gedanken nach.

Selber spürte sie auf einmal die Wanderung als entsetzliche Müdigkeit in den Gliedern, sie sah sich alsbald genötigt, es ihm zu sagen.

Er erschrak auf den Tod. Er hatte das Küsnachter Tobel im Plan gehabt, eine waldige, lange Bachschlucht, und schlug sich nun vor die Stirn: was mutete er dem Vögelchen zu!

«Da vorn rechts kommt die Kittenmühle, ein Eichendorffhaus, wo du sitzen und etwas essen kannst. Liebling, verzeih mir, aber der nächste Weg ist noch ein gutes Stück! Lass dich bitten und bleib über Nacht. Ich hole dich morgen ab, schön ausgeruht und frisch von dem Schlaf in der Ländlichkeit.»

Aus keinem andern als dem Instinkt der Sorge nahm er sie an die Brust. Sie war leicht wie Flaum, ihre Monde raschelten; es war so, als ergriffe er einen Rauch, da er sie, heiss überströmend, auf seine Arme vom Boden hob.


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