Albin Zollinger
Pfannenstiel
Albin Zollinger

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Das Aufrichtbäumchen

19

Der Bergkrieg in Abessinien hatte als ein erstes Ereignis der kommenden Veränderungen die Gemüter erregt. Die Vorstellung lebte von Schwärmen schwarzer Lanzenträger, einem ameisenhaften Gewimmel in Pulverdampf und Blut. Die Welt marschierte in Sanktionen, in mehr nicht als Sanktionen, welche zudem versagten, durch die Tätigkeit der Krämer vermutlich – auf einem Schimmel ritt Graziani in die Eukalyptushaine von Addis Abeba ein. Hierauf kam Spanien, ein Hausstreit zunächst, bald der offene Austrag europäischer Aspirationen. Die Schweiz erlebte von der Seite ihres Bürgertums einen Wandel der Sympathien; das Kampfziel der vordem so belächelten Autokraten fand die Billigung nicht nur der wirtschaftlichen Rechner, sondern auch ehrlicher Idealisten, deren Abscheu vor dem Bolschewismus – und gegen diesen ging ihrer Ueberzeugung nach der Kreuzzug – einer sauberen Gesinnung entsprang. Kurz, die Glaubensspaltung war da mit allen Verflechtungen der unübersehbar gewordenen Zwiste. Das Nahe verwirrt durch Gewaltigkeit ebenso wie durch die Verschlungenheit seines Kleinen; die Entscheidungen der Alten: den Augenzeugen stellten sie sich nicht in der grossen Linie dar, in der wir Nachgeborenen sie, zu recht oder unrecht, sehen. Das Urteil nach dem Anschein dieses Stegreifhaften, als das uns die Zeitgeschichte entgegentritt, belastet das Leben mit Tragik umso schwerer, als es Riemen aus unserer Haut sind, die geschnitten werden sollen. Hinzu kommt der Spott des Unberechenbaren, dessen was keiner voraussehen kann, hinzu kommt die Widersprüchlichkeit dessen, was wir von der Welt erfahren. Die Schweizer vermochten die Parteinahme des empfindenden Herzens, den Eindruck im moralischen Gemüte nicht zu verkneifen; das aber brachte sie in Gegensatz zu ihrer Verpflichtung, die sie anderseits übernommen hatten, der Verpflichtung zur Neutralität als Staat. Sie gerieten in Meinungsverschiedenheit schon allein der Auslegung eines Grundsatzes, der wohl staatspolitisch, nicht ebenso leicht in der menschlichen Empfindung des Bürgers zu handhaben war. Ausserdem fühlten sie Gefahr auch dem eigenen Bestande erwachsen, sie sahen sie kommen ohne sich regen zu dürfen.

Leute wie die Pfannenstieler, sonst für das Schwierige der Differenzierungen da, sahen den Fall durchaus einfach, als Aufstand eines Volkes in Banden feudaler Vergangenheit. Der Faschistengeneral verteidigte mit die Kapitalanlagen der erbosten Tellensöhne, so sah es Doktor Byland, Gott strafe ihn; dass sie's mit Dingen vermäntelten, um die sich zuhause verdient zu machen sie auch nicht den Ehrgeiz zeigten, das zu sehen erweckte seinen Ingrimm. Die Hochherrlichkeit eines eigenen Forums hatte sich ihm zerschlagen; so bediente er sich jener Presse, die, wenn auch aus anderem Antrieb, mit seiner Parteinahme einig ging. Er begab sich damit vollends in die Arena der Polemik, auf den Markt der Gemeinplätze, klaren Bewusstseins und entschlossen, seine Verzierungen nicht zu schonen. Verriet er das edle Vorbild Hölderlin, wenn er, mit seiner Art Griechen- und Vaterland in der Seele, als ein Krieger das Schlachtfeld betrat, auf welchem er sich der Verstümmelung und moralischem Tod aussetzte? Er sah den Fleiss der Lüge, er sah eine schöne Möglichkeit seines Hochlandes, sah es in seiner eigentlichen Anlage und Bestimmung, sah seine Fortentwicklung zum wahrhaften Garten der Menschlichkeit, sah die Ranken und Ableger, den erstickenden Wust der Habgier. Allezeit hat die Aengstlichkeit sich vom groben Erfolge verblenden lassen; in den Niederungen der Sorge, in der Angst ums Brot, der er durch Gnade enthoben war, wie hätte sie das Herkommen überblickt, die Idee nicht aus dem Auge verloren? Seinesgleichen kam es als Pflicht zu, es für sie zu leisten; gut, es war schwer, die Fülle der Erscheinungen zu ordnen: Das Gelände des Geistigen zeichnete die Verläufe vor, die Menschheitsgeschichte hat eine innere Richtung, von welcher hinweg der Fall in die Weltlichkeit, der Wahn zur stofflichen Grösse stracks zur Hölle führt; die irdische Daseinsform stützt sich aufs Stoffliche, ihre Schönheit und Grösse ruht im guten Verhältnis von Stoff und Geist unter sich; das Schwergewicht zieht den Auftrieb hinunter, der Künstler, der Staatsmann, die Nation und die Menschheit führen im Kleinen den metaphysischen Kampf zwischen Himmel und Hölle, den uralten Kampf, von welchem der Krieg der Eroberer nur ein Zerrbild ist.

Byland bedachte das alles auch auf den Wegen seines Menschlichen: unterwegs zu der ausgefallenen Liebe, mit der er keineswegs in der Zeit zu Rande gekommen war. Ist das meine Form der Versuchung, diese Unschuld der Köder des Bösen? Noch immer war es vor der Welt zu verbergen, in der Heimlichkeit dafür umso lieblicher – es ist, was du daraus machst, hatte Stapfer davon gesagt. Unterlag es nicht auch dem Unberechenbaren, lebte das Herz aus dem Stegreif seiner Sehnsucht? In Vrenelis Armen sah er, sie gab ihm die Verfügung über alles; Gelände der Kindlichkeit, Gelände der Reife, hier wob es noch dämmernd durcheinander. Traumwandel des Menschen, Traumwandel der Menschheit – Licht des Gewissens in der Hand von Vertrauen.

Als ob sie sich in der Körperlichkeit beeilte, hatte sie hierin einen Stand aufgeholt, der wiederum ihrem Inneren vorauslief. Unter Unbekannten führten sie sich an der Hand wie allein in den Wäldern; Vreneli, wenn sie fortwuchs, nicht auf Kosten der Zeit ihre Möglichkeit ausgeschöpft hatte, wie es den Anschein machte, überholte ihn in der Statur. Er beobachtete das nicht ohne Sorge, wie es ihn überhaupt beschäftigte, auf welche Weise sie sich auswachsen würde, aussen und innen; oft waren sie lieblich in den Jahren und lösten sich dann in Unförmigkeit auf. Wenn es die Blüte ihrer Anmut war, einst der Zauber der Unschuld verwelkte, was unterschied sie noch von den vielen, mit denen sich auf Lebenszeit zusammenzutun es ihn so wenig versuchte? Er setzte sich moralischer Lebensgefahr aus für die Beglückungen des Augenblicks, im Wagnis der Erwartung, dieser Augenblick möchte seine Art durch alle Verwandlungen in die Zukunft hinüberretten. Wie, wenn das Mädchen, in den vollen Tag hinaustretend, die Fülle des Lebens gewahrte, sich um die Jugend unter Altersgenossen verkürzt sah und seine Zärtlichkeiten nachträglich in ihrer Wachheit als Raub und Betrug erkannte? Was bedeutete es schon, dass sie dergleichen Befürchtungen, die gegen sie zu äussern er sich gedrungen fühlte, im Lächeln des Stillschweigens verhallen liess! War sie auf kindliche Art berechnend? Schmeichelte es wie einem rauchenden Jungen ihrer Eitelkeit, schon die Liebe eines Mannes zu haben, ihres Lehrers obendrein, war es Ehrgeiz der Armut? Vreneli hatte sein Bild in ihrem Kämmerlein aufgestellt, Bemühungen hinsichtlich ihrer Ausbildung machten Besuche nötig, auch pumpte Herr Hedinger den Schulmeister und Schwiegersohn heimlich an – die Empfindung von alledem war ein Gemisch aus Glückseligkeit, Angst und Scham. Die Berufstätigkeit der Kleinen brachte ihm die Erleichterung, dass er sie seltener sah; es gelang ihm zuzeiten, sie beinah im Herzen zu vergessen, er unternahm dann seine Rückzugsversuche, wich der Begegnung aus und hatte, wenn sie argwöhnisch kam, eine völlig veränderte Miene, die sie nachdenklich stimmte.

«Vordem ging es noch an», räsonierte er, «nun ist es der schwierigste Zustand; was denkst du, mich kann es das Leben kosten und du bleibst auch gezeichnet.»

«Wir lassen uns ja aber nichts zuschulden kommen, Walti»

«Was wir uns zuschulden kommen lassen oder nicht, du Gutes, ist nicht entscheidend; der Welt sind ihre Vermutungen grösserer Besitz als selbst Beweise –»

«Der Welt!»

«Deine Unkenntnis dieser Welt verpflichtet mich zu doppelter Wachsamkeit. Vreneli, Vreneli, hätt ich dich nie gesehen!»

Dann war sie traurig, und wer weiss, ob es nicht seine verborgenste Absicht gewollt hatte; das Herz ging ihm über, wenn er sie in die Arme nahm und ihre schönen Augen dämmerten ihm durch Tränen.

Die Welt und ihr Argwohn? Er wusste sich nicht über alles erhaben, was im Gedanken vielleicht so verdammenswert wie die Tat war. Die Uebung der Stunden förderte das Jungfräulein in der Fertigkeit zu Liebkosungen, dazu war sie schmal und weich in ihrem Kleidchen zu spüren, die Unschuld sah keine Veranlassung, sich in der Aeusserung des Herzens zu bezähmen; so erlebte sie wohl seine Launigkeit, jäh zu verstummen und das weihrauchsüsseste Wolkenkuckucksheim im Gestäude wie auf innerer Flucht zu verlassen.

Das «Leben in der Gefahr» kam als Postulat der Diesseitigen neben allen anderen veräusserlichten Prinzipien auf. Wie lange hatten sie von jeher angedauert, die erzieherischen Kräfte des Krieges, auf die man jetzt wieder pochte? Die verstümmelte Generation im Grabe, waren Leid wie Lehren vergessen, begann der Zirkel aus seinem unendlichen Anfang. Staatsform, Gesellschaft – es lag auch daran, doch gewiss nicht das viele, das ihnen das Jahrhundert zuschrieb. Das Tränental bedarf keiner künstlichen Züchtigungen, die sich die Menschheit verordnet; wirklich bildend ist allein das Schicksal aus Urgründen der Natur, die Menschheit ist zu verändern nur am Herzen des Menschen: zuerst war das Wort, und das Wort war beim Geist. – Byland hatte darüber eine journalistische Kontroverse mit Bader, einem Schriftstellerkollegen materialistischer Richtung. Dieser sein Gegenfüssler, Hauspoet der Marxisten wenigstens seinem Ehrgeiz nach, belieferte seit Jahren die Arbeiterpresse mit Schulmeistereien seiner rücksichtnehmenden Belehrung, in der er den Schritt auf die Gangart des Volksverstandes verlangsamte. Diese Wohlmögenheit eines im übrigen wahrhaft nicht schwer zu fassenden Kopfes erboste Walther Byland an sich, nicht zu reden von den Irrtümern, mit denen der Volksmann seine Leserschaft überzog. Byland galt er als eine wahre Landespest, die zu bekämpfen in seinen Pflichtenbereich gehörte. Er hatte die literarische Seite einer Wochenzeitung in Redaktion genommen und also Gelegenheit, sich über das Thema zu verbreiten. Er griff zunächst Baders ceterum censeo auf, die Behauptung von der politischen Pflichtigkeit des Dichters. Bader, ein Schriftsteller von keinerlei Dichtertum, hatte sich in dem Zusammenhang über den Hofrat von Goethe lustig gemacht, der im Jahrzehnt der Französischen Revolution lyrische Gedichte verfasste. Der Idealist von einem Erzieher, Byland, versprach sich eine Wirkung von dem Eifer, auf den amusischen Literaten öffentlich einzureden – Spass beiseite, er redete zuhanden der Oeffentlichkeit! Er redete stets von seinem Thema. «Zunächst Ihre Allgemeinverständlichkeit, Bader. Ich bin Pädagog von Beruf und weiss aus dieser Erfahrung, dass nichts langweilender wirkt als die permanente Fassbarkeit ohne Geheimnis des Dunklen, ohne Abenteuer der deutenden Spekulation. Wie oft haben wir gerade das Nicht- oder Halbverstandene, indem es uns nämlich beschäftigte, zuletzt umso tiefer verstanden! Der Künstler kennt keinen Gehorsam als den vor der inneren Stimme. Schaffend denkt er an nichts als daran, mit menschenmöglicher Genauigkeit seinen inneren Zustand auszudrücken. Fragt auch ein Kapitän nach der Meinung des Zwischendecks, wenn er ans Ende des Ozeans kommen will? Durch Geheimnis hat das Vollkommene seine Verständlichkeit für die Allgemeinheit der Empfänglichen aller Schichten. Die Kraft des Vollkommenen ist eine ultraviolette Strahlung, welche durch und durch geht und den ganzen Menschen verwandelt. An ihrer Sonne klärt sich die Reife. Darum hat Goethe mit einer Vollkommenheit seiner Dichtung mehr für die Menschheit verwirklicht als der Versuch in Dingen der Verwendbarkeit ihm je versprochen hätte. Sie raten dem Sänger, seine Stimme zur Rede zu verwenden. Die Welt hat der Sänger nicht so viele, um einen entbehren zu können; an Schwätzern leidet sie keinen Mangel. Wenn man wie Sie, und mit Recht, dem wieder aufkommenden Imperialismus den Kampf ansagt, dann darf man nicht von einer bloss anderen Position des Materialismus ausgehen, sonst hat man zum vornherein verloren. Sollen wir gegen die eine Barbarei mit der andern marschieren? Es ist auch eine Barbarei, den Geist in die Abhängigkeit zu verweisen, den Primat des Stoffes auszurufen, und das tun Sie – das tun Sie, Bader, in Ihrer Animosität gegen das Göttliche in seiner Form als Schönheit. Ich weiss was ich schreibe und sehe Ihr sarkastisches Lächeln. Sie haben für alldas Ihr Schwertlein, von welchem Sie glauben, dass es schneide: Schöngeist! Was habe ich behauptet? Ich behauptete, Sie haben so wenig als irgend ein Haudegen oder Annexionist oder Börsenspekulant Glauben an die Grossmacht Geist; Ihr Reich ist von dieser Welt, an dieser Welt statt an dem höchsten Vorbild orientiert. Ihnen sind Verse wie irgend einem Böotier nur «Gedichtlein», nicht die Botschafter des wahren Souveräns; Sie schmelzen die Broncen in Tröge um, und das ist viel anders auch nicht als Kanonen aus Glocken zu giessen.»

Ach, Entstellung auf allen Seiten, Blindheit einer eingewiegten Menge – und das langsame Steigen der Wetterwolken!

Fingen sie nun an, einen Beelzebub gegen den Teufel aufzuputzen? Aufrüstung, Aufrüstung – die Erde widerhallte von Eisen!

Die Schweiz erlebte so sonderbare Dinge wie Fackelzüge helvetischer Nationalsozialisten zugleich mit der Volksbewegung, die eine Mundart als Schriftsprache durchsetzen wollte. Und Heimatstil, Trachten, Jodelradio, Schweizer kauft Schweizerware, bereits auch der Ansatz zum Chauvinismus in der Kunst! Ging's da hinaus, grosser Gott, dass die Propheten im Lande nun aus der Ursache Ruhm erlangten, die ihnen bisher davorstand: ihrer Eigenschaft, aus Nazareth zu stammen?

Byland, den es jammerte, einen schöpferischen Menschen wie Stapfer inmitten von Bankpalästen hungern zu sehen, hatte auf einmal gegen Chinesentum zu predigen! «Haben wir verlangt, ihr sollt ausschliesslich Schweizer Kunst kaufen? Wir haben, um eurer selbst willen, euch angefleht, auch Schweizer Kunst zu kaufen! Geht nun nicht hin, euer Armbrüstchen drauf zu setzen! Die Kunst ist Weltreich von völkischer Mannigfaltigkeit. Die Kunst, das umfassende Geistige, ist uns Urbild und Vorbild der menschlichen Gemeinschaft und dies unser Grund, Hegemonien, als Wucherungen des Teils, nicht zu dulden. Verbannt uns nicht in die Krautgärten des Provinziellen, lasst uns das Firmament des Universellen! Mundart ist das bodennahe Nahrhafte, aber auch Umzäunte, die Sprache Luthers und Goethes die Himmelsklarheit geläuterter Abstraktion. Hat die Mundart das Gewachsene der Pflanze, so die klassische Konvention die Richtigkeit des Durchdachten. Sich ins Teil zu verkriechen, ist gegen die Idee der Schweiz.»

Die Gegnerschaft dieser Idee überschwemmte die Welt mit ihren ersten Opfern, zerschlagenen Existenzen, die in der Hast von Ameisen den aufgewühlten Stock verliessen. Selbst ein so königliches Stück wie Krannig war unmöglich geworden oder freiwillig ausgezogen. Er war zeitlebens kein Schreiber gewesen, war fahrig in seinen Beziehungen zu Menschen, so einem aber wie dem Jugendfreund aus ihm nicht bewussten Zusammenhängen heraus nach all den Jahren noch verfallen. Er fand Stapfer im Krankenhaus.

«Alter Kunde: waagrecht? Was ist los? Furunkeln? sagte man mir oben; stirbt man auch an Furunkeln?» Stapfer in seinen Linnen strahlte.

Alte Zeit, Anfang – Krannig, du Trost meiner Augen! «Was, einen Knebelbart hast du dir zugelegt? Du siehst ja aus wie Kapitän Krüger! Bleibst du? Bleib doch in Zürich!»

Der Begrüssung stand das Hindernis seiner dick verbundenen Hände entgegen.

«Der Teufel mag's wissen», lachte der Kranke. «Möglicherweise hängt's mit dem andern zusammen. Ich schäle mich wie eine Pellkartoffel, kann die Haut von den Fingern wie von Bananen ziehen. Für einen Bildhauer wie gemacht, falls er den Lehm nicht verträgt. Allein wie ist's? Auf Besuch, oder mehr? Ich wünschte, du bliebest! So im Bett wie ein Kind – ich verspüre ordentlich einen Vaterkomplex dir gegenüber.»

Die Rührung im Ueberfall des Vergangenen stimmte ihn weich. Der Vorhang wehte in einem Fenster voller Regenwolken.

«Ja, nimm dir bitte den Stuhl und entschuldige! Man sollte es nicht glauben, aber ich klebe da auf dem Nagelbrett meiner Pubertätspickel –»

«Du hast schlechtes Blut.»

«Der Arzt meint's auch. Diesmal kam's gleich in Trauben.»

«Das bringt ja ein Ross um.»

«Sogar der Bildhauer hat's nur mit Not überhauen. Ein Satan ist der da –» er zeigte auf das Leukoplast an der Wange.

«Und woher kommt sowas? Von der Nahrung, woher sonst? isst du scharf?»

«Ich esse nicht eben scharf», antwortete Stapfer mit doppeldeutigem Lächeln.

«Wie geht's dir überhaupt –»

Mit grosser Betonung fiel ihm der andere ins Wort: «Mir geht es fürstlich!»

Krannig riet eine Weile.

Das Nachbarbett stand leer; im weiteren die Fenster entlang sassen und lagen plaudernde Männer, eine Schwester kam zwischen den Reihen herauf.

Martin hatte den Kopf auf die Seite gelegt, sah der Pflegerin wie seinem Schicksal entgegen. Sie blickte auf Stapfers Besuch mit der Andeutung eines Grusses von unendlicher Sanftmut.

Stapfer lag in derselben Erschlagenheit noch als sie die Tür wie in Flaum hinter sich zugezogen hatte. Dann schabte sein Haar in den Kissen.

«Ich war dir Maries wegen böse, Paul. Man sollte nie traurig sein. Immer ist es nur die Rechthaberei vor dem Schicksal.»

Krannig blickte auf ihn nieder wie einer, der Traurigkeit überhaupt nicht kennt. «Ich hab's nie sehr ernst nehmen können, das Ganze des Lebens, das mit Frauen, Kunst, Politik. Der Mensch ist nicht wichtig.»

«Du bist der grössere Melancholiker.»

«Ich wünsche dir was du verdienst. Offen gestanden vermutete ich, du hättest umgesteckt mit der Kunst. Beleidigt's dich? Gessner ist Fotograph geworden; Gott weiss, er war ein Genie. So hat er Villa und Auto, reist um den Erdball. Ich guckte in dein Aquarium – wissen sie denn das nicht, hierzulande? Sind sie vom Affen gebissen?»

«Es hat sich nicht herumgesprochen. Ihr gefällt's, das genügt mir. Wie findest du sie?»

«Die Wahrheit zu sagen, misstraue ich Krankenschwestern. Oft sind es herrschsüchtige alte Jungfern, in irgend eine Majestät von Chefarzt unglücklich verliebt. Die, wenn sie ist wie sie aussieht –?»

«Sie ist es. Sie ist die fleischgewordene Abenddämmerung mit aller Beruhigung, allem Lampenschein, aller Tiefe von Traum darin. Paul, und ich hab doch ein Kind, dem ich die Mutter schuldig geblieben bin!»

«Du hast ein Kind?»

«Ich erzähl dir's einmal. Paul, ich hab dich gehasst und vermisst. Nun ist mir, der Kreis würde voll; die Inseln von Glanz schiessen zusammen.»

Hitler, vielleicht formte er auf seine Weise eine Plastik, die Gestalt des deutschen Volkes? Stapfer vermochte sich zu dem hektischen Hass auf den Mann vorerst nicht zu erhitzen. Er unterschied sich hierin auch von Byland. «Späne fliegen in Gottes Namen, wo eine Form herausgearbeitet werden soll», meinte er. «Am lebendigen Fleisch tut's weh, und der Zuschauer sieht nicht immer gleich den Sinn dabei, dass ganze Partien abgebaut werden. Ich bin nicht Staatsmann und billige ihm den Verstand zu, den wir als Künstler vom Laien nicht immer, in der Demokratie am allerwenigsten zuerkannt bekommen –»

«Du sprichst wie ein Untertan. Als erzogener Staatsbürger bist du verpflichtet, in Dingen der Politik kein Laie zu sein.»

«In den Hausangelegenheiten hoffe ich meine Lektion trotz einem zu können. Der Weltpolitik gegenüber, ich müsste lügen, Walther, weiss ich mich nicht zuständig. Ist's Landesverrat, sich zu seinen Beschränkungen zu bekennen? Erlaubt Freiheit das Verständnis nur für das Eigene? Was weiss ich vom Anderen? Der Zwerg denkt nicht an die von den seinen verschiedenen Bedingungen des Riesen. An seine andere Schuhnummer, daran, wie's kracht, wenn er sich zu Bett legt. Zudem, wir hatten keinen verlorenen Krieg, keine Hungersnot, keine Revolution, kein, Verschulden hin oder her, darniederliegendes Selbstbewusstsein. Ich nehme alldas psychologisch eher als politisch, und so betrachtet, entwaffnen uns die Entwicklungen durch Berechtigung ihrer Gesetzlichkeit. Bis dahin, verzeih, hat die Gegenseite nichts unternommen, diese Gesetzlichkeit als Mache zu entlarven; bis dahin war es ein Siegeszug dieses sonderbaren Tribunen, ein Siegeszug durch die Extrablätter einer Welt, die entweder recht gegen ihn hat und dann handeln müsste oder aber es büssen wird, seine Dämonie in Nichtachtung aller Beweise zu unterschätzen. Es gibt Deutschland gegenüber nur zwei Verhaltungsweisen: In der Knebelung ganze Arbeit zu machen, wenn schon man das für eine Therapie hält, oder das Christentum von der Politik nicht auszuschliessen und dem deutschen Volke zu geben, was man selbst hat. Von den Gewaltmethoden ist die vermäntelte gewiss nicht die schönere. Rede ich landesfremd? Ich dächte, Selbstprüfung und Unabhängigkeit des Urteils wären gerade schweizerisch. Ich habe auch nie die Schönheit des Vaterlandes grundsätzlich in Zweifel gezogen, ihre geistige Schönheit, an der allein wir Verdienste haben. Sollte, was Gott verhüte, der Tag kommen, der uns zur Verteidigung der Heimat aufriefe, ich wüsste wofür immerhin ich stürbe.»

Die Volksmeinung nahm auch in dem Krankensaal kein Blatt vor den Mund; Schwester Elena kam ihre Bescheidenheit zustatten und auch, dass sie, Deutsche von Vaterseite, die Gesinnung des Landes teilte, ihrer ganzen Natur nach gewiss nicht die Eignung hatte, Unmenschlichkeiten, von wo sie auch kamen, anders als mit ihrem stillen Entsetzen aufzunehmen. «Sie, Schwester Elena, sind ein weisser Rabe», lobten die Jünglinge. «Sonst, hol mich der Teufel, will sagen das Sandmännlein, entblössen sie alle früher oder später den Pferdefuss, beziehungsweise den preussischen Reitstiefel, und wär's im dritten oder vierten Glied.» «Im dritten und vierten Glied haben sie nicht eure Vorbildlichkeit erreicht, ihr Schwadroneure», rief Stapfer nicht ohne Bitterkeit hinüber. «Ein Beispiel erweist die Möglichkeit, und Schwester Elena ist wohl das schönste, doch keineswegs das einzige das ich kenne.»

Viel später, wenn sie an seinem Bette zu tun hatte, brachte sie's an, ihm zu sagen:

«Es ist lieb von Ihnen, Herr Stapfer, sich dem Strom der Verallgemeinerung entgegenzustemmen. Ich bin Deutsche von Geburt, mütterlicherseits Schweizerin, hier zur Welt gekommen und aufgewachsen; mich einzukaufen, fiel mir nur deshalb nicht ein, weil kein Mensch doch erwarten konnte, dass solche Dinge wie Landesgrenzen und Bürgerpapiere je die Bedeutung bekommen würden, die sie, ich gebe zu, durch deutsche Gedanken erhalten haben. Irgendwo in meiner Liebe – wenn's das ist was sie meinen – hange ich an Deutschland, kränkt es mich, wenn sie's, mit welchem Recht immer, schelten.»

«Nicht mitzuhassen, mitzulieben sind Sie da, Schwester Elena; wer könnte das so wie Sie von sich sagen! Falls die Feindschaft von heute echt ist – was ich allem Anschein entgegen nicht glaube – dann war die Freundschaft von gestern gelogen; gelogen die Kenntnis der deutschen Kultur, gelogen die Liebe zu ihren Dichtern, Denkern und Künstlern, an denen sie uns zu unserer Verkleinerung massen. Halten Sie's ihnen zugut, dass sie's schwer haben, im poltrigen Wesen eines warmherzigen Menschenschlages den Zorn übersteigern. War's irgend ein Volk, so aber ist's das Brudervolk, und am Eigenen leidet der Mensch am schwersten.»

Er sah ihr eine Weile zu und fuhr hierauf fort:

«Es gilt jetzt, sich aufrecht zu erhalten. Immer waren es die Unwissenden und Kleingläubigen, die sich vom Augenblick verwirren liessen. Ihre Spanne Zeit, meinen sie, sei die Menschheitsgeschichte. Ihr Untergang, meinen sie, sei der Weltuntergang. Das muss wohl so sein und ist menschlich; wem aber der Geist mehr als ein Wort ist, der trägt als ein Mast seiner Ueberlandleitung in Sturm und Regen nach dem Mass seiner Kräfte.»

So eine Schwester, Tag und Nacht unterwegs mit Tassen, Tüchern, Flaschen, fand nur beiläufig Gelegenheit, sich etwas vom Leben anzueignen. Wer er wäre? hatte sie Martin gefragt. Woran seine Frau gestorben sei und wie lange her? Sie nahm Einblick in Abbildungen seiner Statuen, und er betrachtete sie darüber; ihr liebes Gesicht hing voll einer flaumigen Versenkung, die Hände, in der Arbeit von einer Festigkeit und Bestimmtheit, die ihrem Wesen fast ein wenig fremd stand, verrieten durch ihre Haltung das ganze Wunder von Zartsinn in dieser Frau. Sie war nicht mehr jung, sie war auch nicht eigentlich schön; sie war beides in einem ganz anderen Raume. Ihre Hand und ihr Antlitz –

Eines Tages führte sie seinen kleinen Marti herein. Plötzlich wusste er alles.

Es bereitete ihm wenig Kummer, am Ende der Wochen, sie zu verlassen; er ging ihr voraus an die Arbeit.

Mit der Hilfe Bylands hatte Krannig eine Ausstellung im Zürcher Kunsthaus eingerichtet – Krannig und Stapfer, Castor und Pollux. «Ihr seid ja Helden,» hatte Krannig gesagt. «Ich gebe euch schon einen Saal voll, aber nur zusammen mit Stapfer. Ihm bin ich höchstens der Täufer. Ihr seid mir Helden.»

Einiges war erst noch zu giessen. Martin sah es in seinem Golde, neu und delphisch funkelnd, eine Halle Göttertum.

Ein Mass der Anfeindung überwunden, duckt sie sich. Krannigs Bekenntnis zu dem Freunde war demonstrativ und bei jeder Gelegenheit vorgebracht, sodass die Besprechungen den neuen Mann beinah ängstlich zu gleichen Teilen mit der Berühmtheit würdigten. Stapfer war überm Berg.


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