Albin Zollinger
Pfannenstiel
Albin Zollinger

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20

Das Gefühl, überm Berg zu sein, umgab ihn wie eine andere Luft, und sie blieb.

Waren es die Besprechungen, die Verkäufe – waren es Elenas Briefe?

Wunderlicher-, nicht wunderlicherweise war beides zusammen eingetroffen.

Was anderes als Elenas Briefe! Den Verlust der Armut bedauerte er gar nicht selten. Vorbei mit der schönen Verborgenheit, in die sie gekommen wäre mit ihren festen Händen und dem Flor ihres Antlitzes. Fast wie vom Todbett aus sah er die Vergangenheit im Zauber des Unwiederbringlichen – diese Jahre übermenschlicher Anstrengung, Jahre, die ihm als eine Stube mit winziger Lampe in ihrer Dunkelheit vorkamen – was war nicht alles darin: die Statuen, jede ein Kampf mit dem Engel, das Stück um Stück werdende Haus, die Ställe, die Wahlsonntage, das Söhnchen, Tilly – oder war das in einem früheren Leben gewesen? – das Oktogon, Himmelschlüssel, die Herbste . . . Marie, ganz zu Anfang. Er schrieb ihr auf einmal wieder, schrieb ihr alles von Elena und von Paul.

Er schrieb im Seezimmer; dort, auf der Giebelseite, hatte er den Albis in seiner Abendbläue und ein wenig Wässrigkeit von See gegenüber, der Mond kam von oben herab. Es war Elenas Zimmer, in welchem noch nichts als ein Kupferzuber mit weissem Phlox und das Tischchen am Fenster stand. Vorhänge aus einer Milch von Mousseline. Seume hatte das Tannenholz zu Elfenbein veredelt. Er hätte ihm gerne geschrieben, allein wohin zwischen allen Meeren? In der Mousseline dämmerten Wolkenkratzer, Dromedarzüge fern im Mond.

Auf und ab an dem Ufer ging Martin durch einen Aufbau von Gemäuer, Reben und Kastanien. Es war eine arme Andeutung von Mittelmeer, und doch hob sie das Herz mit südlichen Berückungen aus getürmten Räumen. Griechenland, Griechenland, wo der Kontinent des Himmels in Marmor aufblühte, Schönheit die Inseln mit einer Ahnung Hesperiens überwob! Ewiges Rom, das in Palästen höchste Gesetzlichkeit ausstrahlt – sie meinen, es sei ein Schmuck, und es ist eine Macht, ist die stückhafte Vertretung der Urmacht. In Europa marschierte die klirrende Hölle dagegen herauf; über ein kurzes würden die letzten Heiterkeiten des Geistes, von der Erde verjagt, zurück in den Himmel geflüchtet sein; die letzte Ueber-Natur, zerschlagen, fiel dem Staube anheim, die Frucht nur des dumpf Kreatürlichen, Aepfel und Schmetterlinge und Ammonshörner wucherten über Schutt hinaus weiter.

Sonderbar, wunderbar, zu stehn als ein Mensch, mit allem in sich, und alles, solange er atmet und empfindet, ist in der Luft, dieser Luft, die ein wenig nach Kohlenrauch und Phlox der Gärten riecht, und alles ist auch in Elena, Kindheitserinnerung, die attischen Wolkenhorizonte, Salbei und thebanischer Staub, und die Wärme der Erde weht ihr das Haar auf, und er ist wie selig verstorben – anderswo, anderswo.

Und doch ist sie gekommen, sich die Heimat von ihm zeigen zu lassen; sie ist jemand anders, in ihrem Sommerkleid, die Art Scheu vor der Schwester ist auch noch gefallen, er führt sie an ihrer Hand bergan, die weltliche sanfte Frau; Eidechsen rascheln im Mauerpfeffer, die Wiesen stehen im braunen Gras, der See fällt in die Tiefe zurück. Ist Krieg in Spanien und in China? Byland tut Dienst im Gebirge; irgendwo liegt Oesterreich mit der Wachau, mit dem ragenden Kloster Melk, irgendwo lebt all das, wovon man in Zeitungen liest, irgendwo im Umkreis ist das Jenseits der Weltnamen in der Menschhaftigkeit von atmenden Männern wirklich. Wirklich? Eine Wirklichkeit von Sommerglast. Wirklich ist das Grillengewetz, wirklich ist ihre Hand in seiner Rechten. Zu dem Kleidchen muss er sich äussern; sie hat sich's für ihn gekauft, noch ist es ihr fremd wie einer Nonne, die ein Leben lang ihre Tracht trug. Es gefällt ihm an ihr, hoch geschlossen mit Kräglein, auch das Haar hat er gern so im Knoten, es ist angegraut, braun und leicht; auch den Schäferhut, nein, er findet ihn keineswegs lächerlich. Eine Warze steht links des Mundes, ihr Gesicht ist von schmalem Oval, die Augen – immer, wenn er ihr warmes Grau sieht, denkt er an Kopenhagen. Ueber die Arme herab hat sie Stulpen aus geknüpftem Faden gezogen; da scheinen ein paar Märzflecken hindurch.

Aus der Tiefe heraufsteigend, gingen sie auf Wiesenwegen, zwischen Wald und Aeckern, vollen herzförmigen Lindenbäumen, die einsam auf Hügeln standen; Wasser rannen vorbei, das Geäst hing voll von grünen Spielzeugäpfelchen und -birnchen. Sich umwendend, blickte das Paar auf eine Landschaft von nahen und fernen Bergzügen, auf Wald und Dunst und Gewölk zurück, durch Buchengelock schräg in den See hinab, der luftig spiegelnd gleichsam seine Nässe verloren hatte. Die Strasse lief krumm und allüberall zwischen den Grashöhen, zu Aussichtsbänken, Höfen, Weilern, mit Bördern voll gelben Hornklees und warmer Salbei. In Laubwald stufte der Berg sich zum Pfannenstiel an, Giebel blickten daraus hervor, Pferde weideten zwischen Hagen, die Brunnen strömten, der steile Käsbissenturm des Kirchleins wuchs aus Nussbaumkronen empor. Das unter den Himmel erhobene Land mit Fuhrwerken, Steinhaufen, Korn und Kraut und Feuerteichen, Kirschen, Mohn, Levkojen, Katzen, Wegweisern, Streuschobern, Landstrassen lag auf eine wonnige Weise zugleich ausserhalb und zutiefst in der Welt. Martin führte Elena über eine sanfte Wölbung der Höhe herab, hier wo man ihn grüsste, wo er bei Wäsche und Bohnenstauden stehen blieb, den Bäuerinnen gegenüber ein paar Leutseligkeiten anzubringen, auch ein wenig, um die Geliebte zu zeigen. Treuherzig, wie sie waren, fanden sie es ja schicklich, mit den Augen nach ihr zu fragen; er stellte sie als Schwester Elena vor, sie rieten in ihrer Nachdenklichkeit aufs Spital und dessen schöne Weiterungen, die sie dem lieben Hungerleider von Herzen gönnten. Das Kielwasser von Aufsehen, das sie hinterliess, war so lauter, dass es Elena keineswegs in ihrer Freudigkeit trübte; Martin empfand es als eine funkelnde Verpflichtung, die sich hinter ihm schloss, er nahm den Bogen recht weit, um tief in die Bindung hineinzugehen; ordentlich eine Flut von Rosenbäumchen und -büschen liessen sie hinter sich zurück.

Zu Baumgartners kam er sozusagen nach Hause; eine Traube von Kindern hing ihm hier an, der Sennenhund spielte sich auf mit Gebell. Es erwies sich, dass Elena sich mit Tieren sogleich verstand; mit ihrem Rosenbusch und dem Hut in der einen, dem kleinen Marti an der andern Hand neigte sie sich beschwichtigend über das Bündel von zorniger Aufmachung, dessen wahre Gesinnung sie wohl erblickte. Mädeli verkläffte sich denn auch alsbald, wogte anderswo hin seiner Nase nach, kam aber wieder auf Spuren seiner Forschung; sein wichtiges Einverständnis war gewonnen. Dagegen vermochte sich Marti nicht in die äussere Verwandlung der Krankenschwester zu schicken; der Verlust der Tracht erschien ihm als Massregelung und Entthronung vonseiten irgend einer finstern Macht; die Enttäuschung über Elena, das Leid angesichts dieses Beispiels von Verrat übernahm ihn am Ende der Fragen so schwer, dass er in Geschrei ausbrechend seinem Vater zwischen die Knie kroch und Elena diesem Vater Blumen und Hut übergeben musste, um sich den Sohn auf die Arme zu laden. Obwohl sie lachte, war sie vor Kummer errötet; das Rudel Kinder gab seinen Beitrag zur Beruhigung aus guter Kenntnis des Bedürftigen – «Weisst du was: Zeig du mir lieber die Loben!» sprach ihm Elena ins Ohr, nicht ohne fragenden Blick auf Stapfer.

Welche neue Veränderung der Lage! Sie bekannte sich als auf ihn angewiesen zur Besichtigung von Kühen? War sie allgemein nicht wie sich's ihm dargestellt hatte mit Vollmachten ausgestattet, war sie von Weibes Hinfälligkeit? Er blickte sie an aus der Tiefe, erfasste ihre Hand und führte sie. Eilfertiger als es ihr, die in der Empfindung nicht nachkam, lieb war, zog er sie von Tier zu Tier, nannte ihre Namen, Regeli, Flock, Vreneli, Gritli, Brüni, die lange Reihe in der Folge auch der Tafeln zu Häupten, sodass Elena zurückfrug, ob er denn lesen könne. Der Blick, in welchem sie auf einen Augenblick funkelnd jung wurde, ging Stapfer so heiss zu Herzen, dass er sich um ein Haar vergessen, sie in seine Arme geschlungen hätte. Beides gehörte ihm nun, der eifrige Blondschopf und die Frau, die in städtischer Säuberlichkeit das Streubett entlang ging, diese Landschaft, diese warme Welt einer Frau, um die er Lerchen und Weizen sah. Mittlerweile war die stürmische Schar bei einem Kälbchen angelangt, welches von seinem Lager auf und mit Gepolter gegen das Gatter fuhr. Seine Mutter muhte, und auch Elena erzürnte sich fast ein wenig an der Unbändigkeit der Kinder. Martin fühlte sich unbeschreiblich wohl in der Partei Elenas und der Mutterkuh. Er stand einen Schritt von ihr in Elenas Rücken, empfand sie vor seiner Brust. Die Würze der Bauernrosen wob durch die Stalluft, diesen Wohlgeruch aus Riedgras, Milch und Kälbchen. Es glotzte aus seinem Wuschelkopf und duckte sich in die Hinterbeine. «Kommt, Kinder; wir machen ihm Angst», sagte Elena, sah Martin dastehen und griff erschrocken nach Strauss und Hut in seinen Händen. Es war mit ihr ein fortgesetztes Erlebnis von Feinsinn und Rücksichtnahme.

Der Feinsinn nötigte sie auch, sich jetzt wieder zu ihm zu schlagen. Zusammen betrachteten sie noch einmal das Kälbchen. Es sah aus wie über und über voll Hobelspäne. «Es gibt in Athen», sagte Martin, «den Kopf eines Rindes, ich glaube aus Sandstein. Er erstaunt nicht allein durch das Wunder seiner Einfachheit, sein Anblick macht auch die Verwandtschaft des Menschlichen aller Zeiten augenscheinlich. Die besten Stücke der Kunst sind so, dass sie, sei es im Sinne des sublimierten Naturalismus, sei es in dem der Stilisierung, eine Sehnsucht jeder Moderne erfüllen. Ich zeige Ihnen das Bild zuhause, ebenso Zeichnungen von Eiszeitmenschen. Wäre mir der eine Tierkopf gelungen, ich hätte eine Lebensleistung darin geliefert und brauchte mich nicht weiter zu bemühen. Ein Bison des Höhlenmenschen – besseres an Abstraktion haben die Jahrtausende seither nicht gebracht. In Griechenland sass der Hansnarr, was weiss ich: während vielleicht gerade die Schlacht bei Salamis prasselte – sass auf seinem Bildhauerplätzchen in Ginster und meisselte die Anmut des Kälbchens. Lesen Sie Gedichte von Li-taipe – er war Chinese, er lebte vor zweitausend Jahren – seine Freuden und Leiden sind die unsern. Das Ewige, immer, in aller lebendigen Verwandlung sich Gleiche ist der Geist; er ist auch der Born des Allgemeinmenschlichen, er kommuniziert um das Erdenrund, die Völker schöpfen in ihren unterschiedlichen Bechern, das Geistige in seiner Reichweite vom Grausigen des Batakerfetischs bis zur Architektur Johann Sebastian Bachs ist dem Empfänglichen nach dem Mass seines eigenen inneren Umfangs fassbar.»

Nach der Schwäche der Einsiedler verfiel er leicht in Redseligkeit, sobald er eines Vertrauten habhaft wurde; überdies wusste er, dass sie ihm gern zuhörte, ja eine eigentliche Leidenschaft darin bezeugte, sich seine Gedankenwelt anzueignen. Sie mochte auf ihrem Gebiete einwenig viel mit Flaschen, Kesseln, Linnen, Suppentöpfen, Spritzen beschäftigt gewesen sein in der Unterordnung gegenüber den Wissenschaftlern, ohne Musse anderseits für die seelischen Möglichkeiten ihres Berufes; ihm aber erschien es als eine Herrlichkeit, die reife Art ihrer Neigungen zu sehen. Sie waren wiederum ins Freie getreten, die Kinder schon unterwegs zum Ruinenhaus, die Fahne des Hundes wippte in ihrer Umgebung. Elena hob wohl einmal ihre Rosen vors Antlitz; Halbinselchen weisslichen Haares beflaumten ihr die Schläfen, eine Strähne wand sich beinah schwarz und wie nass vom Scheitelansatz schräg über das wundervoll gewölbte Haupt. Martin ging in reichlichem Abstand, ging nach seiner Gewohnheit mit den Händen am Rücken, die Stirn geneigt, in herzlichem Vergnügen seiner stillen, fast schalkhaften Betrachtung. Auf einmal trat ein Strassenstein in seinem Blickfeld hervor, ein Stein, den er kannte: hier hab ich vor Zeiten gestanden, und alles war aufs Tüpfelchen genau dasselbe, der Ort, die Stunde, die Frau und sein Gefühl von allem! Marie? Es war damals Herbst und nicht diese Strasse gewesen.

Vielleicht gehn wir auf Erden in Ausführung des Gedankens; durch unsere reinsten Augenblicke blitzt Erinnerung an den göttlichen Plan.

Der Weg fiel.

«Das ist so alles nichts im Vergleich mit der Zeit vor Tag,» lächelte Martin, «auch im Stall, vor der Dämmerung, Elena: noch ist keine Amsel erwacht, der Knecht trägt die Stallaterne übers Gras, blaue Saturnsringe schwingen überall hinauf, in Blust oder Schnee der Bäume, an den Morgenstern, in die Pfirsiche der Riegelmauer, es riecht nach Milch und Schlaf in der Scheune, und der Bauernschuh schlurft mit dem brösligen Geräusch, das ein kauender Gaul in den Kiefern macht. »

Am Abhang blieb er stehen, das Kinn auf der Brust. «Sie erwarten kein Flachdachhaus mit Garage! Am Ende ist's Ihnen zu schlecht, ein Amateur hat's gemacht, müssen Sie wissen, Elena –»

Sie trat vor ihn hin. Es war schwierig, die Lage zu meistern. Elena ergriff die ihr so wohlbekannte, rosig verheilte Hand.

«Du,» sagte sie einfach.


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