Albin Zollinger
Pfannenstiel
Albin Zollinger

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11

Er behielt eine Form der Stetigkeit und Fassung in dem Ausdruck wehmütigen Ernstes, der nach und nach sein Aeusseres und ebenso das seines Werkes veränderte. Tilly blickte zu seiner Hintergründigkeit auf neue Weise angezogen, aber auch scheu und gedankenvoll auf. Das Stillgewordene seiner Haltung ihr gegenüber, das sie zugleich beglückte und ängstigte, blieb ihr undurchsichtig; er stieg nurmehr selten herab, dafür schwankte er nicht in der Ritterlichkeit gegen sie, einer Ritterlichkeit, die sie immerhin als etwas wie einen Ersatz, als guten Willen an der Stelle der frühern Herzlichkeit empfand. Wieder viel allein, passte sie sich langsam an, nahm sie gewisse Kräfte von ihm in ihren inneren Haushalt zurück und hatte ihnen wahrlich Verwendung in der Arbeit, das eigene Wesen neu aufzubauen.

Er war ein Mensch, merkte sie wohl, der einigermassen wie ein Riesengestirn herankam, mit gewaltigen Anziehungen, die einen aber eher zerstörten als trugen; Tilly begann das Unverhältnismässige beider Wesenheiten zu ahnen, lockerte ihren Griff um die des geliebten Mannes in Trauern eines Kindes, dem ein schöner Besitz zu schwer in der Hand wird. Dabei fühlte sie das wachsende Leben in sich, diesen Mond, der sich von seiner Stärke gebildet hatte und zu dieser Stärke hinstrebte samt ihr. Martin bemerkte ihr Einsamsein zwischen Ungewissheiten wohl, ohne ihr anders als mit seiner Freundlichkeit helfen zu können, indem ja der Mensch nicht mit Vorgaben lügenhafter oder gutmeinender Art, sondern einzig durch die Wahrheit selbst auf die Dauer wirkt; die Wahrheit ist nicht von ihm gemacht, er vermag wenig darüber, und Selbstbetrug aus dem edelsten Streben hat möglicherweise ebenso viel wie die Böswilligkeit an Herzeleid in der Welt verschuldet. Sehr schlimm war es nicht, was Stapfer sich eingebrockt hatte, er heiratete keine Megäre, nur eben nicht ganz nach seiner Voraussicht, und da es eine Sache auf Lebenszeit war, erwuchsen ihm begründete Bedrückungen aus der Lage. Ins Café war er längere Zeit nicht mehr gekommen und dann beinah hinausgeschmissen worden. Der Wirt, ein behaglicher Wanst, auf Tilly eifersüchtig, stellte sich vor sein Tischchen mit dem förmlichen Ersuchen, das Lokal nicht wieder zu betreten, das er mit seinen Landsknechtmanieren in Verruf brachte. Stapfer streckte seine Beine unter dem Tisch auseinander, entzündete seine Pfeife und lachte.

«Ah, Sie reden von den Landsknechten, Herr Wirt, unsern lieben Altvordern? Ich stelle sie mir so vor in Ihrer Kitschbude da, farbig in Schlitzwämsern, die Hellebarden im Schirmgestell, die Gipsputten im Schmuck ihrer Federmützen. Die Art von Gästen hätte noch andere Sachen als der bleiche Schreiber hier aufgeführt. Aber ich hätte mich mit ihnen gerauft und den vom Respekt angebotenen Trunk nicht ausgeschlagen. Es war eine Zeit, die noch Spielregeln um einen ganzen Einsatz kannte. Heute verschanzt sich so ein Schweinemichel hinter seinen Doktorhut und die noblere Konsumation. Ich gedenke mir den Zutritt zu einem inserierenden Hause nicht von Söldlingen des Geldsäckels verbieten zu lassen. Werfen Sie die wirklichen Dreckfinken hinaus, statt vor ihnen zu katzbuckeln, oder lassen Sie jedenfalls einen redlichen Menschen, der in Ihrem Betriebe das Recht verteidigt, ebenso ungeschoren.»

Stapfer, nach so vielen Misshelligkeiten, blickte bedürftig nach den besseren Erfahrungen aus, die ihrerseits in der Häufung, wie es sich zu fügen pflegte, den Prüfungen folgen mussten. Er arbeitete ununterbrochen, im Atelier früh vor Tag und dann an dem Hause, das er für seine kleine Familie zu richten hatte; abends ging er in die Ställe, in die geliebten Nachtgrotten voller Spinnweben, Kuhschnaufen und Wohlgeruch; er ging als Bauer nicht weil er Zeinen voll Rüben und Kartoffeln für seine Dienste nach Hause trug, die schenkte man ihm hinzu zu dem Glücke, das er von seiner Tätigkeit mit Gabeln, Eimern und Häckselmaschinen hatte. Wie in der Kindheit lauschte er nach den gehörnten Häuptern in den Kesseln, dem dunklen Trinken, durch welches ein Born der Güte sich aus dem andern füllte. Er liebte die Tiere zärtlich in ihrer Schweigsamkeit ebenso wie in der Sprache ihres drolligen Ausdrucks, ihrer Nucken und Schelmereien. Wie in der Kindheit empfand er unergründliche Wohligkeiten von dem Geräusch, mit welchem die Gabel auf dem Tennboden kratzte; die Kuhaugen in den Futterfenstern hatten etwas dämonisch Maskenhaftes an sich – und dann die Heudiele, das wohnliche Labyrinth von Remisen, Holzschöpfen, Pflasterung und Krautgarten im Ruhestand! Die Stallaternen, die gedrechselten Einbeinschemel, das Kälbchengekräusel, das gute sonore Muhen mütterlicher Beruhigung. Hier lag nun sein Glück, zwischen diesem Uralten und dem ragenden Neuen seiner Statuen; unter diesen ging er hin und her getrost in der äussern Armut und innern Fülle. Die Bauern achteten an ihm das ihnen Gleiche; nach den Verborgenheiten seines Geisterhauses fragten sie kaum, sei es aus Unverständnis oder einer Scheu, ähnlich jener, die es vermeidet, den Sparpfennig eines Nächsten zu beschnüffeln.

Die Umstände eines jeden traten auch ohne das klar zutage, ob durch die Stückzahl in den Ställen oder durch den Umfang des moralischen Kredites: mochten die Landleute ihr Bankguthaben so selbstverständlich wie die Scham ihres Leibes verhüllen, das Gefühl unterschied in Nuancen untrüglich, sodass immer der rechte Mann Friedensrichter, Säckelmeister, Armenvogt oder Gemeindevorstand wurde. Der angesehensten einer war Heinrich Baumgartner, welchem Martin durch seinen Landkauf nicht eben drückend zinspflichtig geblieben war. Baumgartner war ein fast kränklich zarter Sechziger, ein kluger Kopf vom Aussehen eher eines Malers oder Dorfschulmeisters, unentwegt tätig trotz wirklicher Anfälligkeit seines Körpers. Mit ihm stand der Bildhauer auf Kriegsfuss der freundlichsten Art, dadurch nämlich, dass dieser als Wohltäter im Stillen bekannte Mann so gut wie jede seiner Zahlungen früher oder später mit einer Gegenleistung in Obst oder Reisigwellen oder einer gestrichenen Milchrechnung wettzumachen die Hartnäckigkeit hatte. Er war auch der eine, der, nicht oft, dann aber mit schöner Aufmerksamkeit der guten, gescheiten Augen sich über Martins Kunst unterrichten, auch von Paris erzählen liess, welcher Stadt er in Erinnerung an seine Hochzeitsreise anhänglich geblieben war. Er hatte Museen gesehen, Parke mit Denkmälern, hatte einiges von der höheren Wirkung und Bestimmung der Künstler verspürt und alsobald das bäuerliche Vorurteil gegen deren Jünger überprüft, dieses Vorurteil, das einem nüchternen und fleissigen Volke wie dem schweizerischen aus der Natur kommt. Nun hatte er unter Bauern kaum einen so anspruchslosen und arbeitsamen Menschen gefunden; diese seine Eigenschaften hätten an sich genügt, ihm das Vertrauen des Biedermanns zu sichern; Baumgartner, ein Witwer, lebte im Haushalt eines Sohnes überdies einsam, wohl als Haupt der Gemeinschaft verehrt, aber doch in Entbehrung des Lebensgefährten, irgendwo in sich heimatlos und den Sehnlichkeiten offen.

Was Wunder, dass in solcher Nachbarschaft Martin am Hässlichen mit verfeinerten Sinnen litt! Er nahm sich aber inacht davor, Unrecht zu tun und etwa die Stadt zum Pfuhl aller Laster zu machen, welcher Uebertreibung der Landbewohner zuneigt. Er sah ja doch auch das andere, sah ihre Ueberlegenheit durch die allein einer grösseren Ansammlung der Geister mögliche Wachheit und Fortschrittlichkeit; er sah die Bibliotheken und Krane, die Blumenverkäufer, die Schneeschaufler früh in der Dunkelheit, die Hochschulen und Spitäler, die redliche Müdigkeit der Stirnen; er hörte die Menschen aller Alter sich in Klarlegungen ereifern, vernahm den Marschtritt der Bewegungen, erlebte auch hier die Schönheit der Liebenden, den Adel der Lesenden, geraden Sinn der Einfachen.

Ein junger Mensch hatte ihn brieflich um die Gunst einer Unterredung ersucht; Stapfer empfing ihn bei Tilly im Café, es war ein Jüngling von gefälliger Aufgewecktheit, ein junger Volksschullehrer, der im Nebenamt Kunstgeschichte studiert hatte, bemerkenswertes Leben aber auch in der Behandlung aller Tagesfragen entwickelte, sodass die beiden stundenlang über den Berliner Reichstagsbrand, welcher damals die Gemüter erhitzte – ungleich erstaunlichere Ereignisse sollten in seinem Gefolge kommen! – über Marxismus und Frontismus, Freiwirtschaft und Kapitalismus, über die Landesjugend, Erziehung, Presse, über Kunstbetrieb und öffentliche Meinung sich unterhielten und um ein Haar den eigentlichen Grund der Zusammenkunft ins Gespräch zu ziehen vergessen hätten. Sie erinnerten sich seiner gleichzeitig, als Stapfer nach der Uhr ausblickte.

«Es ist spät geworden», sagte er, «und zwar im Fluge; wir haben einander nicht gelangweilt und dürften die Fortführung der Bekanntschaft wohl riskieren . . . »

«Ich danke Ihnen . . . »

«Nur nennen Sie mich nicht Meister . . . »

«Sie sind es aber!»

«Ich weiss Ihnen Dank für's Vertrauen, Herr Doktor, und hoffe mich der Meisterschaft anzunähern. So sehr es mich erstaunt, in einer Wenigkeit überzeugt zu haben, so sehr freut es mich auch und ermutigt mich mehr als sie vielleicht glauben, dass ich es nötig habe. Ueber Krannig in seiner neueren Entwicklung sind wir zweierlei Meinung, allein das tut nichts zur Sache; es ist ein schmerzhaftes Problem der Erfahrung, dass es in Dingen wenigstens der lebenden Kunst feststehende Kriterien nicht gibt, nach denen man sich verständigen möchte. Wir reden noch einmal davon und bei der Gelegenheit auch von dem andern, und wäre es nur in dem Sinne, dass ich Sie davor warne.» Stapfer lachte. «Ich bin hier so etwas wie ein Einsiedlerelefant, ich denke, Sie wissen darum – ein Besessener . . . »

«Das vermag ich nicht zu begreifen! Klar, dass Sie befremden, wie alles, was später die Welt erobert. Aber eine Ahnung mindestens der Geladenheit ihrer Werke . . . »

«Sie nun sind unabhängig. Die Oeffentlichkeit ist in ihrem Denken gebunden. Die Oeffentlichkeit sitzt vor dem grössten Komiker humorlos bis zu dem Tage, wo sein Genie, als Genie erklärt, die Billigung der Kritik besitzt. Dann freilich brüllt sie vor Lachen noch wenn er es wieder schwermütig meint. Es ist das Beharrungsvermögen.»

Der nette Kerl – nicht nur dass er mit Berufung auf sein Monatsgehalt und seine Gegenwart als Bittsteller bezahlen wollte, er verzog sich auch eilig in irgend einer Rücksicht auf Tilly.

«Hast du ihn einwenig beobachtet, Tilly? Er ist mein Freund. Endlich habe ich einen Freund gefunden! Ich meine einen Menschen, der mir Leistungen zutraut. Da er klug ist, mache ich mir heimlich ein Fest daraus. Er wird mich oben besuchen. Er will einen Aufsatz über mich schreiben. Du findest es reichlich eitel von mir, Gefallen daran zu finden . . . ?»

«Wie sollte ich's dir nicht gönnen, anderswo das Verständnis zu sehen, für das ich leider Gottes zu stupid bin.»

«Keine Angst, Tillychen; es wird nicht zum Uebermut kommen. Der Idealist muss seine Erfahrungen machen. Ein unbeschriebenes Blatt, auch er, wird er sich gezwungen sehen, selber einen Namen zu erlangen, bevor er andern dazuhilft. – Da hat übrigens wieder einer eine Wut auf mich, ein neuer Verehrer Tillys.»

Sie schien ihm verändert in ihrer Stimmung gegen ihn, von einer wehmütigen Verstocktheit, und er liess seinen nächsten Besuch diesmal weniger lange anstehen.

Es zeigte sich, dass er in einer Sache geknausert hatte, deren Ansehen mittlerweile zweifelhaft geworden war.

Es war unaussprechlich demütigend und entsetzlich. Hans im Schnakenloch hiess vor dem Volke der Narr, der, was er hatte, nicht und was er nicht hatte, wollte. Jetzt, da er sie so wie sie war, mit ihrem schönen Leibe, mit ihrem Strähnenhaar, an einen andern sich zu verschenken bereit sah, kam sie seinen Augen als eine entschwindende paradiesische Küste vor; die Heimat versank mit ihr, die tausend Vertrautheiten, die von Liebkosungen blühenden Heimlichkeiten gingen ihm alle verloren, sie liess ihn wieder allein, sie, sie, sie, die er anders als mit der Liebe der Glücklichen liebte, die er aber liebte und in seiner Bedürftigkeit brauchte!

Ach, von einem Caféhausgeiger ausgestochen! Es war kein Manöver von ihr; sie liebte ihn wirklich.

Alle liebten sie eines Tages einen andern!

Er sah sie an. Ihr Strähnenhaar, ihre Hände, – alles war hinübergegangen in das Leben des Geigers, in dieses Ungarn voll fremden Frühlings, wehender Wäsche um Komödiantenwagen . . .

«Mit dem Kinde von mir, Tilly? Das Kind gehört mir, nicht dem . . . »

«Zigeuner. Er ist kein Zigeuner, Martin. Er ist ein armer Mensch, dem ich alles bin, so dass er mich nimmt wie ich bin.»

«In dem Zustand, in dem ich dich hinterlasse.»

Er sprach Satz um Satz, und sie bestätigte ihn mit Schweigen.

«Ich habe dich hungern lassen.»

«Ich habe dir nicht sorgegetragen.»

«Es schien, als ob ich dich nicht liebte. Und nun kommt einer, der dich zu würdigen weiss.»

«Kommst du zu mir, Tilly?» Als er sah, dass sie nicht kam, schrie er den Tränen nahe auf: «Tilly kommt nicht mehr zu mir!! Tilly lehnt es ab, mit mir allein zu sein!»

«Nicht so, nicht so, Martin. Ich bin nur müde und muss nach Hause. Ich fange es an zu merken.»

«Verzeih mir! Gelt, da ist nun dieses Kind, diese Welt, welche dir wie ein Sommer mit seiner Kornhitze in den Gliedern schwer wird? Eine Welt, Tilly! Eine Welt, die um dich und mich steht, eine Welt, die wir nicht zerreissen dürfen noch können. Wir heiraten, und alles ist gut.»

«Alles schiene gut. Martin, du fielest morgen schon in deine Zweifel zurück, ich weiss es. Ich bin dumm, aber so nicht, dass ich mich darüber Täuschungen hingäbe. Noch vor zwei Wochen hätte ich aus Sehnlichkeit die Augen davor zugedrückt . . . »

«Heute?»

«Heute –. Heute zieht es mich nach zwei Seiten. Ich mag mich entschliessen wie ich will, so muss ich dem einen Teil und jedenfalls mir selbst wehtun.»

Das Hoffnungslose der Lage verschloss ihnen auf lange den Mund. Martin war es, der schliesslich in Tränen dahinging.

Er flehte sie an, er beschwor sie, liebkoste sie; auch sie begann zu weinen.

«Verflucht ist die Natur des Menschen», sagte er sanftmütig im Gedanken daran, dass er so war, verdrossen den Erfüllungen, fassungslos dem Verluste gegenüber. «Und nie habe ich es so empfunden: Der Uebel grösstes ist die Schuld. Ich darf mich nicht einmal beklagen. Da steht das Schicksal, sieht mich an mit den Augen, die sagen: Ich bin so, wie du mich gemacht hast. Das Leben, wo man es anrührt, versetzt einem elektrische Schläge. Wie nimmt es deine Mutter auf?»

«Vielleicht schreibt sie dir einmal . . . »

«Ich komme vorbei!»

«Sie hat immer darauf gewartet . . . »

«Ich habe ihr eine Menge abzubitten!»

«Nicht dass ich wüsste, Martin. Du warst nur ernsthaft und ehrlich. Dafür bist du niemandem Abbitte schuldig. Wer ein Kind in die Welt setzt, setzt es den Schicksalen aus. Komm aber lieber nicht, wenigstens warte damit zu. Meine Mutter denkt nach ihrer Gewohnheit. Vierzig Jahre lebte sie an der Seite eines Mannes, der ihr Vermögen mit Weibern durchbrachte, sie prügelte, sie für ihre Kinder aufkommen liess; fünf Jahre pflegte sie ihn, als er bei lebendigem Leibe verweste – ihr ist die Ehe schicksalhaft.»

«Das waren noch Zeiten, Tilly! Wir heute finden es dumm und unehrlich, um jeden Preis durchzuhalten; du wirst sehen, die Politik der nächsten Jahre wird ebenso weichlich, schwammig und krämerhaft sein. Denn was im Menschen ist, das ist in der Menschheit. Früher sah man das Unverrückbare nur in den geistigen Gegebenheiten, keinesfalls in seiner Stellung dazu. Und die Treue war eine Grossmacht.»

Die ganze Gewalt des Frühlings stand in der Luft. Martin ging darin herum mit seinem Herzen voller Tränen; morgens beim Erwachen schoss es ihm vor die Brust: Tilly und der Geiger! Er empfand es ihr nach, in die Liebe hineinzuwandern mit dem Manne aus der Fremde. Die Liebe war ein ganz neuer Raum, eine Himmelsweite mit Pollenstaub, Steppengras, Bläue der Donau, mit Geruch und Flattern von Blachentuch, mit Strassen in webende Zauber – in Schrecknisse vielleicht auch, in Armut und Hunger, zu fremdartigen Bräuchen, heidnischen Grabmälern . . . Martin jedenfalls sah sein Mädchen hinein entschwinden, füllte sein Inneres täglich mit dem funkelnden wehen Frühling; er vertrug nur in Schmerzen die jauchzende Schwermut der Amseln, das Geblinke im Finkenschlag, diesen rauschenden grossen Aufbruch, er in der Schattigkeit der Vereinsamung, er ohne jeden Antrieb irgendwie zu leben, und doch ruhelos umgetrieben in den Wäldern, die mit dem Dufte von Seidelbast, mit auftrocknenden Herbstlichkeiten um das Verlorene geisterten. Wo er hinauslief, führte der Weg nicht zu ihr, nie mehr, nie mehr zurück in die Heimlichkeit des Gewesenen – das Neue war auch zu seinem Gefühl hinzugekommen mit seinen Parkbäumen und Schlössern; es gehörte ihm an als verzaubertes Reich des Andern; diebischerweise, unendlich verbunden, unendlich ausgestossen ging er darin herum, ein Vasall dieses Andern.

Es kam vor, dass er sass, irgendwo in den Feldern, auf einem Findling sass, den Himmel voll der neuen Landschaft um sich, und schluchzte, in Krämpfen von Schluchzen sich ausgoss, und die Ozeane der Trauer schwollen nur immer an. Denn in alledem wusste er um die Notwendigkeit der Veränderung – und das war der Kern aller Bitternis: er durfte nichts dagegen unternehmen; aus höherer Absicht hatte der Genius des Lebens eingegriffen, und ihm kam es zu, sich fein stillezuhalten – noch einmal war es ihm in die Hand gegeben, voranzukommen oder aus Ungeduld und in Umgehung der Schmerzen das Unglück endgültig zu machen.

Eines Tages würde er es verwunden haben und Gott für den Ausgang loben.

Er wusste es.

Wie ein Kompass stand die bessere Einsicht in ihm. Noch hasste er dessen Ruhe, als eine leidwerkende Missgunst; trotzdem blieb er gehorsam, hielt er im Exile aus, tausendfacher Verlockung widerstehend, mit Uebernahme all dessen, was es ihm aufbürdete: Schuld der Härte, Verachtung, Unrecht, das mit dem Kinde . . .

Er stand auch dabei, als der junge Kunsthistoriker seinen Kennerblick an den Plastiken weidete; er stand auch dabei, aber bitter verächtlich, so als wäre das alles nichts, auch an Schwierigkeit nichts im Vergleich mit dem Können am lebendigen Leben, nichts im Vergleich mit seiner Schönheit und Trauer.

Der jugendliche Freund bekam alles, nur nichts vom Handwerk zu hören. Einem Gottverlassenen war er ins Gehege gelaufen zu dessen schlimmster Stunde; er stellte freilich seinen Mann auch als Beichthörer und Tröster, so weit als es über die Unveränderlichkeit des Schmerzhaften hinaus hier zu trösten gab. Byland erzählte aus dem eigenen Erfahrungskreis heraus, erzählte von Freunden, von Künstlern mit ihren Empfindsamkeiten; Stapfer ging voraus auf einem Fussweg durch Gebüsch, hörte mit halbem Ohr nach hinten, nicht zu vernehmen, nur mitzuteilen bedürftig. Ein Hase sprang auf, sie tasteten sein Nest in der Segge ab, es hingen noch Flocken von Haar darin, und der Bildhauer klagte: «Wie wunderbar war sonst alldas zu empfinden! Haben Sie vorhin die Fuchsspur gerochen? Jetzt tut alles nur weh, das Schönste tut am meisten weh; der blaue Himmel strahlt das Herz mit Schmerzen an; – Regen tut wohl, das Grau ist taktvoll – aber diese Frühlingsvormittage . . . ich halte sie nicht aus, ich laufe darin herum mit meinem enthäuteten Herzen, alles da habe ich mit meinen Tränen betropft; ich weiss sie da unten in der Stadt, deren Glocken ich bei Westwind höre, ich weiss, wo sie geht und steht, die Türen zu ihr stehen offen . . . wie oft habe ich nachgegeben, ich vermöchte sie wohl auch jetzt noch zu mir herüberzubringen, ich denke sogar, sie wartet in Schmerzen darauf; der erste Schritt zu ihr ist auch der Anfang der Ernüchterung, jenseits sehe ich alles anders, eines Tages griffe ich mir an den Kopf.»

«Ja, es gibt Schmerzen, die wollen ausgetragen sein wie ein Werk, wie ein Kind. Die Tage in ihnen erscheinen uns als verloren, und wo uns eine Ahnung ihrer Absicht aufdämmert, da beleidigt und ärgert sie uns.»

«Dieses Kind meiner Vaterschaft – auch wenn der Gedanke daran im Uebergewicht des andern nur selten aufkommt, ich denke manchmal daran. Eines Teils von mir, einer anderen Inkarnation meiner selbst begebe ich mich; vielleicht ist es ein Knabe und mir gleich – er weiss nichts von mir, er spricht Ungarisch mit Budapester Gassenjungen, und sie machen einen Kellner aus ihm. Die schlimmsten Gewissensbisse weichen einer grossen inwendigen Ruhe: Was hab ich damit zu schaffen! Kinder, die kleinen Sorgen und Freuden – den andern ist es das Leben.»

Stapfer baute, aus Unglück, zur Arbeit nicht fähig; die ganze Breite des Hauses wuchs, er sah es, grinsend, es war kein Sinn dabei; er vergass sich ein wenig an seinen Steinen. Wo war Seume inzwischen hingelangt? Vier Jahreszeiten immer Fuss vor Fuss. Und Marie? Sie schwieg wohl aus Schonung. Der Schmerz überschreit jedes andere Gefühl. Er ersehnte es, dass sie wegzog. Das Schweigen zwischen ihr und ihm – es war ein Steinbruch auf seinem Herzen. Er ging durch die Stadt wie auf Zehen, wie um niemand zu wecken, er als einziger, der wie ein Dieb hereinkam. Annette Wehrli kündigte die Kredite. Dafür zwang ihm Baumgartner ein paar Fünfzigerlappen auf, die er zuviel bezogen haben wollte. Doktor Byland machte eine Anzahlung auf seine Büste. Die Stadt schrieb Bildhauerarbeiten an neuen Verwaltungsgebäuden aus. Wo sie den Flötenbläser hingejagt hatte, wussten Gott und die Sekretäre.


 << zurück weiter >>