Albin Zollinger
Pfannenstiel
Albin Zollinger

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2

Der Himmel hier schreckte ihn aus dem Schlaf als ein Geflacker von Bläue vor den Fenstern; es roch ein wenig nach Waschtag und Hyazinthen; Stapfer sah spiegelnde Treibhausfenster, es war indes Sommer, als er hinauskam, die Bläue stand still und kristallen, hatte aber alles mit ihren inwendigen Feuern durchdrungen, hatte den Dingen ihre Stofflichkeit genommen, dass sie wohl klar, doch ohne Gewicht wie aus Luft geformt in ihrem Zusammenhang lagen. Ihr freudiger Schein berührte sein Herz, es brannte wie eine Wunde; in dem Masse wie die Welt schön war, empfand er die Schwermut in sich – geisterhaft sinnlos umstand ihn das alles. Er blickte den Menschen ins Gesicht, unfähig zu begreifen, dass man eilen, einem Ziel entgegenstreben, dass man sich freuen mochte. Sie trieben im Gefälle des Stromes; er auf seinem toten Punkte, abseits im Kreise drehend, sah, dass es der Tod war, der sie zog, der Tod, um den er sie auch beneidete, da er sie trug, wo er ihm selber schwer in den Gliedern lastete.

Er hatte im Niederdorf Quartier genommen, in dem alten Gemäuer, auf welchem seine Kindertage, ein Himmel in Trümmern, liegen geblieben waren. Sogleich zuhause, als wäre er nie fort gewesen, empfand er die Abwesenheit nur der Menschen, die gestorben oder verzogen waren; ausnahmsweise einmal stiess er auf einen Bekannten, einen Jugendgespielen, der sich wie er in seinem Aeussern verändert hatte, aber Familienvater, irgend ein wohlbestallter, mehr oder weniger angesehener Mensch geworden war, dem gegenüber er selber sich mit nichts eigentlich auszuweisen vermochte; – «Bildhauer,» antwortete er, im ganzen ihm übrigens nicht peinlichen Bewusstsein darüber, dass es bei seinem Alter hätte bekannt sein müssen, um ihm Ehre einzubringen – so bekannt etwa wie von Krannig, dessen Name längst europäisch und, wie es sich zeigte, auch in der Heimat geläufig war. An den Ruhm, als an eine Begleiterscheinung, dazu sehr launischer Art, verschwendete er keine Gedanken; er fand es naturgemäss, dass der Freund ihn darin überflügelte: Krannig war fruchtbar, in seiner Leistung überdies von jener Gefälligkeit, die auch das Bedeutende an sich haben kann – Ruhm ist ein Duft, kein Verdienst, Kornrade und Veilchen streiten sich nicht darüber.

Kornrade oder Veilchen – sie blühen unangefochten vom Ueberfluss ihrer Art; der Mensch fühlt sich alsbald von seinesgleichen bedrängt – in der Verfassung, in welcher der Mann sich das Flussufer hinauf bewegte, befielen ihn jähe Ermüdungen: Ach, die lebenslange Plackerei um ein Gewerbe so fragwürdiger Natur! Die Vergangenheit ging ihm als eine Strasse unabsehbarer Steinmeisseleien vor den Augen auf – Rom, über Griechenland zum Nil und hinauf in das indische Tempelgewirr . . . und da ging er, hinfälliger Zeitgenoss einer Menschheit, die ihren Rest von Genie in der Technik verbrauchte; da ging er, ein ägyptischer Töpfer, und sah den Formwillen an Autos, Dampfern und Stahlmasten neuzeitlich ausgeprägt; da ging er, ein uralter Sonderling, ärmlich und entbehrungsreich. Wahrlich, Tränen schossen ihm in die Augen: Fort mit dem Werkzeug der Kümmerlichkeit, das Leben ans Leben verwenden! Was war er nicht für ein Mönch geworden in der Zelle seiner Besessenheit. Der Lohn davon war, dass er eines Tages stutzig vor der Versammlung prometheischer Geschöpfe stand, den Hammer in der Faust, mit dem Abscheu im Herzen – diesem Herzen, dem er für all das die Unmittelbarkeit des Daseins versagt hatte.

Auch jetzt war er nicht unterwegs zur Geliebten, auch jetzt war es der Stein, der seinem Gang die Rechtfertigung gab. Die Wasserhöhe ging blau in den Bäumen auf, mit einer Verheissung von Meerhafen, die ihn ein wenig belebte; vielleicht gab es Tore der Flucht aus dem Herzeleid, vielleicht reiste er, grasigen Kontinenten entgegen, vielleicht hatte die Erde noch Sensationen mit ihm vor. Auf dem Bellevueplatz blieb er stehen, um den Blick zu erheben; Marie stand ohne Begleitung da; in der Einsamkeit hatte sich Stapfer eine innere Haltung zurechtgemacht, mit deren Hilfe er durchzukommen hoffte – jetzt, wo er sich allein mit dem Mädchen sah, zuckte die tollste Hoffnung in ihm auf.

Von Grund auf verwandelt, eilte er auf sie zu. Sie stand in Betrachtung einer Wettersäule; die Freudigkeit ihres Erwachens sah nach mehr aus als sie war; es fehlte nicht viel, so hätte er das Mädchen in den Arm genommen, in seiner verwegenen Laune, er neigte sich gehend leicht über sie zur Seite, finster versonnen, in Wahrheit von Herzen getröstet. Krannig war verhindert, er hatte bereits seine Abmachungen, Marie einsame Abende, an denen er, in die Häuser des Reichtums geladen, sein Alleingängertum als Künstler notiert wissen wollte – es war Stapfer, der insgeheim die Begründungen ins leicht Verächtliche verschob – Marie schien nichts zu argwöhnen, in ihrer Hörigkeit alles kindlich von dem Geliebten entgegenzunehmen; sie ereiferte sich in der Schilderung seiner Erfolge, der Beweise einer Schätzung, die in der Heimat nicht vorausgesehen war. Stapfer, indem er es alles anhörte, trug ein Lächeln im Mundwinkel; sie bemerkte es plötzlich und bezog es auf ihre Schwärmerei; wohl errötend, vergrübelte sie sich vorwurfsvoll.

«Ich bezweifle nichts,» sprach er nach einer Weile, «auch nicht die Wohlverdientheit des Ruhms. Mich schmerzte lediglich ein wenig die Beobachtung, dass du an mich dabei mit keinem Gedanken denkst, nicht einmal mit dem der Geringschätzung in Anbetracht meiner Anonymität hierzulande und anderswo.» Er horchte ins Ungewisse hinaus.

«Komm,» erwiderte sie, und nahm ihn geradezu bei der Hand.

Sie waren auf die Brücke hinausgegangen, in eine Allee von Laternenpfeilern; er hatte den Grund auch davon erraten, Krannigs Plastik stand zweifellos drüben. Sie machten jetzt kehrt; die Aussprache mit ihr, ganz gleich, welcher Art sie beschaffen sein würde, lockte ihn mehr als die Ausstellung. Anmutiges, liebes Geschöpf! dachte er, willig in ihrem Geleite gehend und glücklich in dem jäh aufgebrochenen schmerzhaft abgründigen Gefühl. «Davon müssen wir einmal reden,» sagte sie unterwegs.

Er, in seiner Trotzköpfigkeit, das Schicksal herauszufordern, beschloss, wennmöglich eine ganze Liebesstunde aus dem Zusammensein zu machen. «Hier finden wir nichts,» rief er; «sei lieb und vertrau dich mir an; wir fahren aufs Land hinaus, hier auf den Berg, der Pfannenstiel heisst, den muss ich dir beiläufig zeigen.»

Sie blieb stehen, blickte starr vor sich nieder und gab ihren Bescheid zuletzt in einer langsamen, schauerlich sanften Bewegung des Kopfes.

«Dann nicht. Dann aber auch keine Nebensachen an seiner Stelle. Dann hier auf dem Platze, Marie, hier im Stehen: Ich kann nicht mehr, ich liebe dich grauenhaft; komm zu mir!»

Sie waren nicht in Paris, die Zürcher warfen die Köpfe herum; Marie, in ihrer schönsten Flaumigkeit, bestrebte sich, gutzumachen, hielt seine Hand und suchte nach Wegen, mit ihm aus der verzweifelten Lage zu kommen. «Es ist nicht allzuweit, auf den Berg?» fragte sie; «ich sehe keinen in der Richtung,» und lächelte. Da es heraus war, hatte er sich gänzlich beruhigt. Immerhin flog ihm das Haar, als er nun seinerseits mit dem Kopfe nein dazu winkte. Von anderswo her, mit verwandelter stiller Stimme sprach er ihr zu, dass sie verzeihen möge, dass er es so zufrieden sei und die Fassung besitze, sich damit zu begnügen, ein wenig an ihrer Seite zu gehen; sie wollten die Bildwerke sehen; es wäre nicht das nach seinem Wunsche, auf dem Berg, vermöchte es in Gottes Namen nicht zu sein – und beinah fröhlich erhob er die Augen, sich die Meerwunder zeigen zu lassen.

Obwohl mit den Dingen in keiner Weise zu Ende, flüchtete Marie gern in den Notbehelf, die nächste Stunde herumzubringen. Was zwischen ihnen zur Sprache gekommen war, hatte keine sachlichen Ueberraschungen gebracht; deshalb gelang es den beiden wohl, ihren Bummel durch Bäume und Rasenflächen voll verschiedenartigster Statuen die ihrem Verhältnis angemessene ruhige Vertraulichkeit zu geben. Sich an die Erscheinungen zu halten, war eine wohltätige Massnahme, die Impulse zu verlagern; sie verliehen den Unterhaltungen eine schöne Wärme und Stetigkeit; die beiden Menschenkinder vergassen ihre Kümmernisse über dem Behagen des Augenblicks – es war auch fürwahr ein götterhafter Tag und die lieblichste Stätte ihrer Besinnlichkeiten: Die Seebläue glomm im Gezweige, der Bergzug gegenüber stand luftig wie eine Wolkenmauer, seine Höhe überschattete das Wasser mit Wohnlichkeit eines Raumes, auf dessen Grund die Parkbäume standen, in aller Mächtigkeit zierliche Ausladungen von Weidenlaub; Vögel hüpften im Gefels der Stämme, moosige Halden von Rinde hinauf; in einer Grotte trieb ein Schwanenpaar duftig wie Sommergewölk; Stapfer verträumte sich in der Betrachtung ihres Zierats, der lockig gesträussten Flügel, des Ornaments um den schwarzen Schnabel – hatten es die Dichter darüber gebracht, dieses Licht von hellenischer Ewigkeit? lagen die Symbole in den Arabesken zutage? – er staunte wie immer die Präzision der Natur an, er zeigte mit dem Finger darauf . . . «Ein genaues Gefühl sagt einem, dass die Bildungen der Natur ihre Idee in einer Linie von eleganter Richtigkeit fassen. Das ist es, was wir als schön empfinden. Schön in einem höheren Sinne als dem vulgären ist daher alle Natur. Wie schön ist das Krokodil! Erinnere dich seiner erstaunlichen Schnauze. Kann der Bodensatz der geistigen Welt, dieses Unterste an Animalität, verblüffenderen Ausdruck als den in dem grausig-drolligen Stück Hornpantoffel finden? Wie die Augen und Naslöcher aufstehen! Dieser Zahn vorn herab! Und der Inbegriff wurstiger Fresslust als ein adretter Schnörkel am Bug. Dagegen das Reh mit seinen Augen. Die huschende Scheu, das fleischgewordene Waldweben. In der Kunst ist es nicht anders: Vollendung ist maximale Akuratesse. Nicht Kürze, aber Kongruenz; Kongruenz von Idee und Form. Das Minimum an Verbrauch.» Mit einer Handbewegung übers Ufer: «All das, siehst du, Marie, sozusagen alles ist ahnungslos, – der Jüngling ausgenommen. Sein Schöpfer mutet mich brüderlich an. Er bemüht sich; bemüht sich, während die andern geniessen. Sie schwelgen im Nachahmungstrieb – Nachahmung von Meistern, Nachahmung der Natur. Mit dieser ist es ja eine Sache: Die widergegebene Richtigkeit der Natur ist keine Richtigkeit mehr, schändlicherweise. Sie ist tot, sie hat keine Seele. Die Kunst hat das Geistige selbst, nicht die Spiegelung davon zu sehen. Dass sie in den Formen der Dinglichkeit realisiert, ist ihre Grösse und Tragik, gleich wie es Tragik und Grösse Gottes ist, sich in Begrenzungen festzulegen. Die Natur eines Kopfes umschreibt eine psychische Einmaligkeit, die Kunst zeigt ihn in Zusammenhängen, gleichsam atmosphärisch, durchgeistert von Dämonen und Aeonen. Möglicherweise muss man es anders sagen. Um den geheimnisvollen Ort herum suche ich. Er lässt mich nicht los. Sieh mich sehr weit zurückgeblieben und winzig an der kleinen Wasserstelle in der Wüste zu der Zeit, wo meine Altersgenossen vorangekommen und auf den Markt der Städte gelangt sind: Mir kommt in Wahrheit kein Ruhm zu, im Ernst, Marie, ich bin nicht zu kränken, denn ich habe auch nicht einmal angefangen. Ich kann nicht Plastiken machen, wie jeder sie macht: die ewigen ‘Kauernden’ und ‘Sich Kämmenden’, die künstlich hergestellten Torso-Ruinen. Die Intelligenz macht keinen Künstler, aber Dummheit macht ihn noch weniger. Ich hoffte hier Ueberlegenheit wenigstens an Natur zu finden und sehe viel mehr als läppische provinzielle Nacheiferung in Grosstadtsnobbismen auch nicht. Ich rede dabei nicht von einem Kerl wie Krannig; der ist eine Art für sich, ein unproblematisches Sonntagskind, einer, der blüht wie ein Baum, lebend und schaffend. So einen kann ich höchstens beneiden, ich tu es indessen nicht . . . ich sehe auch seine Gefahren, in denen er umkommen wird, falls seine Grösse nicht hinreicht.»

Sie hörte das nicht zum erstenmal aus dem Munde Stapfers und wusste auch wie er es meinte. Die Künstler! dachte sie, die Künstler! Selbst Freunde unter ihnen vertrugen einander im Grunde nicht; sie hatte Krannig über Stapfer sprechen hören, noch seine Achtung focht ihn im Kern seines Wesens an. Sie selber, das war die Verlegenheit, fand keinen Zugang zu Stapfers Schöpfungen, – zwei oder drei, dafür freilich über alle Beschreibung herrliche Sachen von ihm besassen ihre Liebe; aber das waren gerade die, welche er verleugnete, epigonale Kraftmeiereien aus den Jugendjahren, wie er sie nannte. Die Unterhaltung mit ihm war geistig bedeutender als die mit Krannig, sie sah sehr wohl, dass er auch hübscher war, kannte die Wirkung, die seine mächtige blonde Erscheinung auf Frauen ausübte; er bediente sich seiner Möglichkeiten sehr launenhaft und zerstreut zu den Zeiten, wo die Zerwürfnisse mit seiner Kunst ihn heimatlos machten. Nun war Marie der Pechvogel, an den er die Hartnäckigkeit seiner anbetenden Treue heftete; davon abgesehen, dass ihr Herz wirklich vergeben war – sie liebte schrecklich Krannigs sonnige Unbekümmertheit! – vermutete sie in ihm ein Beispiel des schaffenden Mannes, der allein zu bleiben die Natur und Bestimmung hatte. Der Einfall, ihm diese Ansicht als schmeichelhafte Antwort auf seinen Ausbruch mitzuteilen, verwirrte sie eine Weile in ihrer Aufmerksamkeit.

Er ging hoch und etwas nachlässig unter dem Laubdach der Promenade dahin, die Hände am Rücken, ohne Hut und in seinem alten Pariser Anzug von verwaschenem beige Carreau, eine Künstlerfigur, nach welcher die Menschen herumblickten. Die kleine Frau, die auch ihre dreieinhalb Jahrzehnte haben mochte, erschien neben ihm als so kindhaft von Wuchs, dass der Gedanke an Liebesnächte der beiden, der einen unwillkürlich anfiel, geradezu etwas Anstössiges hatte. Marie trug ein Kleidchen aus schwarzem Taft, sie war überaus niedlich von Formen, mince, wie die Franzosen es nennen, die Gestalt im Profil keine Hand breit und doch von elastischer Festigkeit der Linie; das dunkelgelockte Haupt auf dem Kinderhälschen hatte in seiner Lage irgend etwas von einer Nautilusschale, an der puderig mürben Haut des Gesichtchens wurden ihre Jahre ersichtlich, hing der Flaum von Reife, der ihre lauschige Anmut umwob.

Stapfer, indem sie schwiegen, schickte mitunter einen Blick über sie herab, welchen sie nicht bemerkte. Er blickte über sie auf den See hinaus, sah das Ufer jenseits, in dessen Sommerglut die Fassaden der Villen übereinandergestaffelt wie ausgebrannt, wie südliche Ruinen im Olivengrau geisterten. Irgendwo galt es sich anzusiedeln, irgendwo in dem Laube würde er wohnen, zusammen mit ihr, er liess sich's nicht nehmen, allen Vertracktheiten gegenüber darauf zu bestehen; er sah jetzt ordentlich ein römisches Landhaus mit Mais und Strohstühlen, seine Madonna unterm Kopftuch, sich selber im Treibhaus seiner Kalksteingebilde, in der Sonne spielend ein Söhnlein von der feingliedrigen Art der Mutter. In der Bläue ging weit und innig die Melodie einer übenden Caféhauskapelle, Musik, die wie ein Duft aus den Dingen hervorzustrahlen schien, Wohllaut voll der Bedeutsamkeit der Schöpfung, voller Lebenserinnerung; Martin und Marie lehnten sich auf das Eisengeländer, blickten in den Grund des Wassers auf Gestein und Tang durch einen Glanz von Himmelsweite hindurch. Alle Vergangenheit mit der Liebe Richard Wagners, Frühling alter Jahrhunderte, alle Namen aus hinabgegangenen Särgen standen in der Stille der Luft, und diese zwei lebten, atmeten in dem Glanz von Himmelsweite zwischen gestern und morgen, lebten aus dem Schlag ihrer Herzen heraus, der war wie das Zittern in Spinngeweben. Trug die Geisterhaftigkeit des Lebens lastende Dinge wie Marmorbilder es waren? trug sie die Treue eines Mannes wie Krannig, und das, dass sie alt mit ihm wurde, weitläufige Wege mit ihm ging an das Ende der Tage? Marie empfand zu der Stunde nichts, keine Liebe, zu niemand; es schien ihr, sie hätte ebenso wohl dem klugen warmherzigen Manne da in die Räume der Zukunft nachfolgen können; sie hatte mehr als einen aus ihrem Gefühl verloren, sie war nach Zürich gekommen, um sich hier bürgerlich festzulegen, was oftmals, am Ende grosser Hoffnungen und Ueberschwänge, misslungen war. Erfahrungen der letzten Tage hatten sie auf gewohnte Nachdenklichkeiten gebracht, sie war wie ein Bewohner von Erdbebengebiet, innerlich immer auf Flucht eingerichtet; im Augenblick war nichts von Gewicht, nichts, das schmerzhaft zu werden das Aussehen hatte. Sie waren weitergegangen, standen noch einmal vor Stapfers Arbeit, einer Mädchenbüste seines typischen Stils, fremdartig abstrakt und rätselhaft jedem, wie es Marie bedünkte, der nicht ein wenig um die Gedankenwelt des Erschaffers wusste. Die Menschen davor verharrten in einer Art Erstarrung, lösten sich von dem Anblick wortlos oder mit kurzer, auslöschender Kopfbewegung, und Marie, die Wahrheit zu sagen, ärgerte sich über Stapfers Frohmut den Wirkungen gegenüber; er schien ihr nicht ganz ohne Dünkel, nicht ganz ohne Lächerlichkeit des Eigensinns.

An der Stelle der Brücke, wo sie umgekehrt waren, fiel ihm wieder der Pfannenstiel ein. Für alle Zeiten würde der Ort es an sich haben, dass er ihn an Marie erinnerte. Er dachte an den Nachmittag ohne sie, den er wie eine Einöde vor sich hatte, und die Trauer, zusammen mit der, welche ihm als Nachgeschmack seines Humors vor dem Publikum geblieben war, überwucherte ihn ganz und gar. Die Bläue flockte in Finsternis aus, der Berg erhob sich als eine Höhe der Mühsal vor seiner Seele. »Weshalb mittraben, wenn es nur eine Gnadenfrist war? Dahinter lag die Ewigkeit ohne Liebe, wie er nicht anders dachte, die Notwendigkeit, sich zu behelfen, und alles war ohne Verlockung für ihn. Er blieb plötzlich stehen und bot die Hand zum Abschied dar. Das Jungenhafte in ihm verstockte sich abermals. Sie freilich überging es diesmal, ergriff die Hand nur, um ihn daran weiterzuziehen, ja sie riskierte es der Umstände ungeachtet, ihm wie früher einzuhängen; so folgte er ihr wohin immer wie der Elefant einem Kinde.

Die erstaunliche Landschaft entfaltete sich dem Blick auf ihrem Gang von Bildwerk zu Bildwerk, Bogen und Transversalen dahin, eine Landschaft von elysischer Traumhaftigkeit. Die dunstige Luft hing gleichsam herab, das laubige Gehügel erhob sich in ihre Schleier mit dem Behagen eines Badenden, zwielichtig überschienen von vitriolgrünen Höhen, lockige Gipfel sahen aus wie Burgen, Fabriken in den Talgründen wie Kathedralen vor Ausgängen nach dem Meer, der See, von hier betrachtet, breitete sich als eine dunkle Veilchenwiese zu fernsten Inseln und Buchten hinaus, und hoch darüber, aus einer Leere von Glast hervorblühend, stand geisterhaft der staubige Schnee im Gefelse, eine Vision von Gewölk, eine Küste Jenseits, gewichtlos schwebend. Linkerhand war auch der Pfannenstiel in Erscheinung getreten, ein Grat von schlichtem Verlauf, welchem sonderliche Ueberraschungen nicht eigentlich zugetraut werden konnten; Stapfer sagte aber, dass Seen und ein Bauernland voller Dörfer dahinterlägen. Er sah sie einen Augenblick noch einmal hoffend an; es war nichts zu machen, vielleicht fühlte sie sich vor sich selber nicht allzu sicher, der Gedanke bot ihm ein wenig Ersatz im Verzichte.

«Doch eine hübsche Unternehmung dieser Stadt, die sich auf Ausstellungen versteht!» sagte er, sich ermunternd, im Gedanken an das Volk der Statuen im Gezweige. «Die Arbeit von Krannig strahlt als Brillant im Ring, da ist nichts zu meckern; man hat die Nase dafür gehabt und ihr den gebührenden Ehrenplatz angewiesen – sag ihm bitte, dass ich mich neidlos freue.» Damit bot er ihr seine Bildhauerhand, in bedeutsamer Laune aus seiner Höhe herabstrahlend. Ins Belvoir mitzugehen vermochte er nicht, Marie hielt die Hand noch eine Weile fest, und er beeilte sich, ihren Bemühungen zuvorzukommen, indem er sagte: «Denke nicht, dass ich ihm grollte, Liebling! Du siehst ja, ich stelle mich im offenen Wettkampf mit ihm und habe nicht einmal Skrupeln, dem Freund die Treue der Freundin zu unterwühlen. Es geht da um inkommensurable Dinge, die klar auseinandergehalten sein wollen. Darf ich, überzeugt davon, dass du zu mir gehörst, meine Anstrengungen um dich aufgeben, weil meine Rechte sich mit solchen des Freundes verquicken? Der Ausgang so oder so wird erst meine Haltung rechtfertigen. Auch ich bin verabredet, Liebling, auf ein wenig später; man zeigt mir ein Atelier in der Gegend, es bietet sich mir die Möglichkeit, eine Grabsteinpraxis zu übernehmen; es wäre weiss der Himmel verfrüht, sich vom sichern Port der Grabsteine in die freie Kunst hinauszuwagen. Ich will einmal ein Haus, ich will Familie und Häuslichkeit. Liebling – auf Wiedersehen!»

Mit bestimmten Schritten, und ohne sich nach ihr umzusehen, setzte er den Weg nach Wollishofen hinaus fort. Er hatte schon einiges in Augenschein genommen und sich gemerkt: das eine und andere in der Altstadt, eine Baracke am Abhang der Waid in Schrebergärten, etwas Biedermeierliches im Seefeld. Hier stieg er durch neue Quartiere empor, brachte Dach um Dach unter sich und kam an dem Kirchlein vorbei unvermittelt auf ein poetisches Hochland, in dessen Grund das waldige Sihltal sich öffnete. Vermutlich ein Bauverbot hatte diese Wiesen und Baumgärten erhalten; er wanderte knietief in Kerbel, ein wenig hinauf, ein wenig hinunter auf der warmen blossen Erde; er sah den See jetzt durch Kirschlaub, ein langes Ufer zog sich mit Dörfern, Kirchen, Landungsstegen weit in das Silbrige hinein. Die Strasse, die er genommen hatte, fiel, und er arbeitete sich durch eine Gruppe vormaliger Weinberghäuser wieder hinauf, gelangte auf einen Hügelkamm, auf welchem sich umdrehend er die ganze Herrlichkeit von Wald, Wasser und Bergen überblickte. Hier mit Marie, wenn man es so gehabt hätte, hier im Abendgeläute, frühlings, wenn die Maikäfer schwirrten! Das war nicht bloss aus Büchern, es gab das in Blickweite, dass sie sich Landhäuser mit vielem Glas, mit Garage und Planschbecken, mit Delphinium und Sonnenblumen hingestellt hatten. Da sassen sie nachts bei den Lampen, auf Teppichen wie Gras, und die Fenster flammten von Sternen, Tapeten in Moos und Gold, Musselinevorhänge, wohnliche Grotten des Schlafs! Stadtwärts in der Nachbarschaft hatte sich einer gar ein Blockhüttchen aufgestellt – sieh da, das war es wohl gar, was er suchte! Eine Palisade aus Brettern riegelte das Ganze nach aussen ab; da es schon kein Strandbad auf dem Hügel sein konnte, war es die Werkstatt eines Kauzes, was sonst! Das Tusculum nicht zu verpassen, machte er sich eilig dahin auf den Weg. In seinem Rücken, auf Sandalen unhörbar, war mittlerweile ein Mädchen heraufgestiegen, er gewahrte es nicht ohne leichtes Erschrecken, das es sah, weshalb es im Grüssen lächelte. Er erstarrte sogleich ein zweitesmal; sie war schön und gross, sie trug mit einer Mappe ihren Strohhut an der Hand, ihr Kopf war schmal in Strähnen blonden Haares gepackt, das über die Ohren zum Nacken verlief.

Sie hatte ihn bereits überholt, und er hielt zurück aus Scheu, sie gewissermassen zu begleiten; er blickte ihr aber nach, sie mochte es spüren, Verlegenheit weiblicher Freude nötigte sie, spielerisch ihr Gepäck in die andere Hand hinüberzuschwingen; bergab fiel sie in leichten Trab, nicht auf lange, sie warf auch das Haar herum, da sie schon nicht zurückblicken konnte, er sah noch einmal das Gesicht.

Seit Marie war es ihm nicht mehr begegnet, dass er Frauen anders als mit den suchenden Augen des Künstlers gesehen hätte. Die Nachwirkung des Verrates an ihr überkreuzte sich mit den Wellen von holder Erregung seines Innern; der Spiegel im Herzen erlosch. Alles war aus. Hell und Dunkel hatten einander aufgehoben, es war nichts mehr da. Die junge Schnitterin hatte sich um den Salbeihang herum entfernt, er ging ihr nicht nach, am Eingang zu der Hütte stand er wie ein Segel in der Stille zwischen zwei Winden.

Lieber Herrgott, du hast es nicht wohl eingerichtet. Wer seines Nächsten Weib ansieht . . . Was gäbe ein Mensch darum, im Herzen nicht angefochten zu werden! Eine schöne lebenslängliche Treue hofft ich mir auszubauen – was ändert es, dass ich stehe und diese da fortgehen lasse! Es ist nicht einmal Busse für Schuld, die mir nicht zukommt.

Ohne das Haus noch einmal anzusehen, ging er des Weges, den er gekommen war, davon.


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