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Einundzwanzigstes Kapitel.

Der Postwagen von Toulon, der durch Tulettes fuhr, wo haltgemacht ward, ging von Plassans um drei Uhr ab. Martha, von einer fixen Idee erfaßt, wollte keinen Augenblick verlieren; sie nahm ihr Schaltuch um, setzte ihren Hut auf und befahl Rosa, sich sofort anzukleiden.

Ich weiß nicht, was die gnädige Frau hat, sagte die Köchin zu Olympia; ich glaube, wir treten eine für mehrere Tage berechnete Reise an.

Martha ließ alle Schlüssel stecken. Sie hatte Eile, nur hinauszukommen. Olympia, die sie begleitete, versuchte vergebens zu erfahren, wohin sie gehe und wieviel Tage sie fortbleibe.

Nun, seien Sie beruhigt, sagte sie zu ihr auf der Schwelle in freundlichem Tone; ich versorge alles gut, Sie finden alles in Ordnung wieder ... Lassen Sie sich Zeit, machen Sie Ihre Geschäfte ab. Wenn Sie nach Marseille reisen, bringen Sie mir frische Seemuscheln mit.

Martha war noch nicht um die Ecke der Travelle-Straße, als Olympia von dem ganzen Hause Besitz ergriff. Als Trouche nach Hause kam, fand er seine Frau, wie sie die Türen zuwarf, die Möbel durchsuchte, umherspähte, sang und die Zimmer mit dem Geflatter ihrer Röcke erfüllte.

Sie ist abgereist, und der Waschlappen von Köchin mit ihr, rief sie ihm zu und streckte sich auf einen Sessel. He? Das wäre ein Glück, wenn beide in einem Straßengraben liegen blieben ... Für einige Zeit können wir es uns nach unserer Bequemlichkeit einrichten. Ach, wie es doch schön ist, allein zu sein, nicht wahr, Honore? Da, komm her und gib mir für die Mühe einen Kuß. Wir sind zu Hause und können uns bis aufs Hemd ausziehen, wenn wir wollen.

Unterdessen kamen Martha und Rosa gerade auf die Promenade Sauvaire, als der Touloner Postwagen abfuhr. Er war leer. Als die Köchin ihre Herrin zum Schaffner sagen hörte, daß sie nach Tulettes fahren wolle, fuhr sie nur mit Widerwillen mit. Der Wagen hatte die Stadt noch nicht verlassen, als sie schon in ihrem mürrischen Tone sagte:

Ich glaubte, daß Sie endlich Vernunft angenommen hätten. Ich bildete mir ein, wir reisten nach Marseille, um Herrn Octave zu besuchen. Wir hätten einen Seekrebs und Muscheln mitbringen können ... Da habe ich mich zu sehr beeilt. Sie sind immer die gleiche, Sie machen sich nur Kummer und kommen immer nur auf verkehrte Gedanken.

Martha saß in der Ecke des Coupés halb ohnmächtig. Eine tödliche Schwäche bemächtigte sich jetzt ihrer, da sie sich nicht mehr gegen den Schmerz aufraffte, der ihr die Brust zerwühlte. Aber die Köchin sah sie nicht an.

Ist das ein dummer Einfall, den gnädigen Herrn zu besuchen! fuhr sie fort. Ein schöner Anblick, der uns aufheitern wird. Wir werden acht Tage lang keinen Schlaf finden. Sie können sich dann in der Nacht fürchten, so viel Sie wollen; der Teufel hole mich, wenn ich aufstehe, um unter die Möbel zu schauen ... Ja, wenn Ihr Besuch noch dem gnädigen Herrn guttun würde! Aber er ist imstande, Ihnen ins Gesicht zu springen und selbst dabei zugrunde zu gehen. Ich hoffe wenigstens, daß man Sie nicht zu ihm läßt. Es ist ja verboten ... Ich hätte nicht in den Wagen steigen sollen, als Sie von Tulettes gesprochen haben; Sie hätten vielleicht allein diese Dummheit nicht gewagt.

Ein Seufzer Marthas unterbrach sie. Sie drehte sich nach ihr um. Als sie sie ganz blaß und dem Ersticken nahe sah, geriet sie noch mehr in Zorn. Sie ließ ein Fenster herab, um frische Luft einzulassen und rief:

Das fehlte mir noch, daß Sie mir unter der Hand hin werden. Wäre es nicht besser, Sie lägen in Ihrem Bett und ließen sich pflegen? Wenn man bedenkt, daß Sie das Glück gehabt haben, nur ergebene Leute um sich zu haben, ohne dem lieben Gott auch nur dafür zu danken. Sie wissen wohl, daß es wahr ist. Der Herr Pfarrer, seine Mutter, seine Schwester und Herr Trouche sind aufs äußerste um Sie besorgt; sie würden für Sie durchs Feuer gehen, sie sind jede Stunde bei Tag und bei Nacht für Sie auf den Beinen. Ich sah Frau Olympia weinen, ja weinen, als Sie das letztemal krank waren. Wie danken Sie ihnen für diese Güte? Sie bereiten ihnen Kummer, reisen wie eine Duckmäuserin ab, um den gnädigen Herrn zu besuchen, obwohl Sie wissen, daß es jene sehr schmerzt; denn sie können den gnädigen Herrn nicht leiden, der gegen Sie so grausam gewesen ... Soll ich es Ihnen sagen, gnädige Frau? Die Ehe hat Ihnen keinen Nutzen gebracht, Sie haben die Bosheit des gnädigen Herrn angenommen. Hören Sie, an manchen Tagen sind Sie ebenso boshaft wie er.

Sie fuhr in diesem Tone fort, bis man in Tulettes eintraf; sie nahm die Faujas und die Trouche in Schutz und warf ihrer Herrin alle möglichen Schlechtigkeiten vor. Schließlich sagte sie:

Die Leute wären eine gute Herrschaft, wenn sie genug Geld hätten, um sich Dienerschaft zu halten! Aber das Geld haben immer nur die schlechten Leute!

Martha war ruhiger geworden und schwieg. Sie sah starr die dürren Bäume der Straße vorüberfliegen und die weiten Felder wie Stücke braunen Stoffes sich ausdehnen. Das Gezänk Rosas wurde von dem Gerassel des Wagens übertönt.

In Tulettes ging Martha schnell auf das Haus des Onkels Macquart zu, während die Köchin, die jetzt schwieg, mit verdrießlicher Miene ihr achselzuckend folgte.

Wie! Du bist es? rief der Onkel sehr überrascht. Ich glaubte, du lägest zu Bette. Man hat mir erzählt, du seiest krank ... Ei, ei, Kleine, du siehst nicht gut aus ... Kommst du zum Essen?

Ich möchte François sehen, lieber Onkel, sagte Martha.

François? wiederholte Macquart, indem er sie ansah, du möchtest François sehen? Das ist der Gedanke einer guten Frau. Der arme Bursche hat genug nach dir geschrien. Ich bemerkte ihn aus meinem Garten, wie er mit den Fäusten die Mauern schlug und dich rief ... Ei, du willst ihn sehen? Ich glaubte, ihr alle hättet ihn vergessen.

Große Tränen glänzten in Marthas Augen.

Es wird nicht leicht sein, ihn heute zu sehen, fuhr Macquart fort. Es geht auf vier Uhr. Dann weiß ich nicht, ob der Direktor dir die Erlaubnis gibt. Mouret ist seit einiger Zeit nicht mehr ruhig; er zerschlägt alles und spricht davon, die Bude in Brand zu stecken. Ja, die Verrückten sind nicht immer angenehm.

Sie hörte schaudernd zu und wollte den Onkel ausfragen, aber sie begnügte sich damit, die Hände nach ihm auszustrecken.

Ich gehe dich darum an, sagte sie. Ich habe die Reise nur deshalb gemacht, ich muß unbedingt mit François sprechen, heute, augenblicklich ... Du hast in dem Hause Freunde. Du kannst mir die Tore öffnen.

Gewiß, gewiß, erwiderte er leise, ohne sich deutlich auszusprechen.

Er schien sehr verwirrt zu sein, da er sich die Ursache dieser plötzlichen Reise nicht erklären konnte und auch den Fall nur aus einem persönlichen, ihm allein bekannten Gesichtspunkte ansah. Er befragte mit einem Blicke die Köchin, die ihm den Rücken wandte. Schließlich umspielte ein feines Lächeln seine Lippen.

Weil du es verlangst, murmelte er, will ich die Geschichte versuchen. Nur erinnere dich, daß es deiner Mutter nicht recht ist, sage ihr, ich hätte deinem Drängen nicht widerstehen können ... Ich fürchte, daß es dir schadet. Lustig ist die Sache nicht, das versichere ich dir.

Als sie aufbrachen, weigerte sich Rosa entschieden, sie zu begleiten. Sie hatte sich vor dem Kaminfeuer niedergelassen und meinte:

Ich will mir nicht die Augen auskratzen lassen. Der gnädige Herr konnte mich nicht leiden ... Ich bleibe hier und wärme mich lieber.

Dann seien Sie so gut, uns einen Topf Glühwein zu bereiten, flüsterte ihr der Onkel zu. Wein und Zucker sind da im Schranke. Wir brauchen es, wenn wir zurückkommen.

Macquart ließ seine Nichte nicht zum Haupttore des Irrenhauses eintreten. Er wandte sich nach links und fragte an einer kleinen Tür nach dem Wärter Alexander, mit dem er einige leise Worte sprach. Dann betraten sie alle drei schweigend die endlosen Gänge. Der Wärter schritt voraus.

Ich warte hier auf dich, sagte Macquart und blieb in einem kleinen Hofe stehen. Alexander begleitet dich.

Ich möchte lieber allein sein, murmelte Martha.

Es ist kein Spaß, erwiderte der Wärter mit ruhigem Lächeln. Ich wage schon viel, daß ich Sie einlasse.

Er ließ sie einen zweiten Hof durchschreiten und blieb vor einer kleinen Türe stehen, Als er den Schlüssel leise umdrehte, flüsterte er ihr zu:

Fürchten Sie sich nicht ... Er ist seit heute früh ruhiger, man hat ihm die Zwangsjacke ausziehen können ... Wenn er böse wird, gehen Sie rücklings hinaus und lassen mich mit ihm allein.

Martha trat zitternd und nach Atem ringend ein. Sie sah zuerst nur eine Masse an der Wand in einer Ecke zusammengekauert. Der Tag ging zur Neige, und die Zelle war nur durch das kärgliche Licht beleuchtet, das durch das vergitterte Fenster hereinfiel, das noch durch ein Brett halb verdeckt war.

He, mein Lieber, rief in vertraulichem Tone Alexander, und klopfte Mouret auf die Schulter. Ich bringe Ihnen Besuch ... Hoffentlich sind Sie artig.

Er ging dann zur Türe und lehnte sich mit verschränkten Armen an sie, ohne den Irrsinnigen aus den Augen zu lassen. Mouret hatte sich langsam erhoben. Er schien nicht im geringsten überrascht zu sein.

Du bist es, sagte er ruhig; ich erwartete dich, ich war um die Kinder besorgt.

Martha, der die Knie schlotterten, war sprachlos angesichts dieses zärtlichen Empfanges; sie sah ihn ängstlich an. Übrigens hatte er sich gar nicht verändert; er sah sogar besser aus, war kräftig und dick, hatte einen wohlgepflegten Bart, und seine Augen waren hell. Seine Gewohnheiten eines behäbigen Bürgers kamen wieder zum Vorschein; er rieb sich die Hände, zwinkerte mit dem rechten Auge und ging hin und her, indem er wie in den besseren Zeiten mit seiner spaßhaften Miene fortwährend plauderte.

Ich befinde mich ganz wohl. Wir können nach Hause gehen ... Du holst mich, nicht wahr? ... Hat man immer auf meinen Salat geschaut? Die Schnecken fressen gar so gern die Stengel, der Garten war ganz zernagt, aber ich kenne ein Mittel, sie zu vertilgen ... Ich habe Pläne, du wirst staunen. Wir sind reich genug, wir können uns unsere Launen schon gönnen ... Hast du nicht den Vater Gautier aus Saint-Eutrope während meiner Abwesenheit gesehen? Ich hatte ihm dreißig Krüge gewöhnlichen Wein zum Verschneiden abgekauft. Ich muß ihn besuchen ... du hast aber nicht für zwei Sous Gedächtnis.

Er machte sich über sie lustig und drohte ihr lächelnd mit dem Finger.

Ich wette, ich werde alles in Unordnung finden, fuhr er fort. Ihr habt auf nichts acht; die Geräte hegen herum, die Schränke stehen offen, Rosa macht mit ihrem Besen die Zimmer schmutzig. Warum ist denn Rosa nicht mitgekommen? Ach, die hat einen harten Schädel! Aus der werden wir nie etwas Rechtes machen! Du weißt nicht, daß sie mich eines Tages zur Türe hinausjagen wollte. Jawohl! Das Haus gehöre ihr, sagte sie; es ist zum Totlachen! ... Aber du erzählst mir gar nichts von den Kindern? Desirée ist noch immer bei ihrer Amme, nicht wahr? Wir besuchen sie und fragen sie, ob sie sich nicht langweilt. Ich will auch nach Marseille fahren, denn Octave macht mir Sorge; als ich ihn das letztemal sah, fand ich ihn sehr verbummelt. Von Serge spreche ich nicht: Der ist viel zu brav; er ist fromm für die ganze Familie ... Wie freut es mich, wenn ich von Hause sprechen kann!

So redete und redete er weiter, erkundigte sich nach jedem Baume seines Gartens, verweilte bei den geringsten Einzelheiten seiner Wirtschaft und zeigte in einer Menge Sachen ein erstaunliches Gedächtnis. Martha war von dieser Anhänglichkeit, die er ihr gegenüber bekundete, tief gerührt und glaubte ein großes Zartgefühl darin zu sehen, daß er es vermied, ihr einen Vorwurf oder auch nur die geringste Anspielung auf sein Leiden zu machen. Ihr war verziehen; sie nahm sich vor, ihr Verbrechen zu sühnen, indem sie die gehorsame Magd dieses Mannes wurde, der sich so großmütig zeigte; große, stille Tränen rollten über ihre Wangen, während sie ihr Knie beugte, um ihm Dank zu sagen.

Nehmen Sie sich in acht, sagte der Wärter ihr ins Ohr, seine Augen beunruhigen mich.

Aber er ist nicht verrückt, stammelte sie. Ich schwöre Ihnen, er ist nicht verrückt ... Ich muß mit dem Direktor sprechen ... Ich will ihn sofort mitnehmen.

Nehmen Sie sich in acht, wiederholte der Wärter barsch, indem er sie bei dem Arme zurückzog.

Mouret hatte sich mitten in seinem Plaudern wie ein zu Tode getroffenes Tier herumgedreht. Er fiel zu Boden und kroch auf allen vieren die Mauer entlang.

Hu! Hu! brüllte er mit rauher, langgedehnter Stimme.

Er sprang mit einem Satze auf und fiel dann wieder auf die Seite. Dann fand eine fürchterliche Szene statt: Er krümmte sich wie ein Wurm, schlug sich mit den Fäusten ins Gesicht, riß sich mit den Nägeln die Haut herunter. Bald war er halbnackt, die Kleider hingen in Fetzen an seinem Leibe; zerschlagen und zermartert lag er röchelnd am Boden.

Gehen Sie hinaus! rief der Wärter.

Martha war festgebannt. Sie erkannte sich selbst in ihm; sie selbst warf sich so zur Erde in ihrem Zimmer, kratzte und schlug sich. Sogar ihre Stimme erkannte sie wieder. Mouret hatte genau ihr Röcheln. Sie selbst hatte diesen Unglücklichen zu dem gemacht, was er war.

Er ist nicht verrückt, stammelte sie, er kann nicht verrückt sein! ... Das wäre schrecklich! Ich wollte lieber sterben.

Der Wärter faßte sie um den Leib und trug sie hinaus; aber sie blieb lauschend an der Türe stehen. Sie hörte in der Zelle ein Geräusch wie von einem Kampfe, Schreie wie die eines Schweines, das man abschlachtet, dann einen dumpfen Fall, als wenn ein Pack nasser Wäsche hingeworfen wird; hernach trat Totenstille ein. Als der Wärter herauskam, war es fast finster. Sie bemerkte durch die halb offenstehende Türe nur ein schwarzes Loch.

Teufel, sagte der Wärter noch in Wut, ist das komisch von Ihnen zu sagen, er sei nicht verrückt! Ich hätte bald meinen Daumen dabei gelassen, so fest hielt er ihn zwischen den Zähnen ... Jetzt ist er für einige Stunden ruhig.

Indem er sie hinausführte, fuhr er fort:

Sie wissen nicht, wie bösartig hier alle sind ... Stundenlang sind sie artig, erzählen ganz vernünftige Geschichten, dann auf einmal, ehe man sich dessen versieht, springen sie einem an die Kehle ... Ich bemerkte gleich, während er von den Kindern sprach, daß er etwas im Schilde führe; er hatte die Augen ganz verdreht.

Als Martha wieder zu ihrem Onkel in den kleinen Hof trat, rief sie, ohne weinen zu können, fieberhaft, mit gebrochener und langsamer Stimme:

Er ist wahnsinnig! Er ist wahnsinnig!

Freilich ist er wahnsinnig, sagte der Onkel höhnisch. Glaubtest du, ein geschniegeltes, artiges Modeherrchen anzutreffen? Zum Vergnügen hat man ihn gewiß nicht hierhergebracht ... Übrigens ist das Haus nicht gesund. Nach zwei Stunden würde ich da auch verrückt werden.

Er musterte sie von der Seite und achtete auf ihre geringsten nervösen Zuckungen. Dann fragte er in gutmütigem Tone:

Du willst vielleicht die Großmutter besuchen?

Martha machte eine Gebärde des Schreckens und verbarg das Gesicht in den Händen.

Das hätte niemanden gestört, fuhr er fort. Alexander würde uns dieses Vergnügen bereiten ... Sie ist dort im Seitengebäude; bei ihr ist nichts zu befürchten; sie ist sehr ruhig. Nicht wahr, Alexander, sie hat noch niemals Umstände gemacht. Sie sitzt immer und starrt vor sich hin. Seit zwölf Jahren hat sie sich nicht gerührt ... Aber da du sie nicht sehen willst ...

Als der Wärter sich von ihnen verabschiedete, lud er ihn ein, ein Glas Glühwein mit ihnen zu trinken, wobei er eigentümlich mit den Augen zwinkerte, was Alexander bestimmte, die Einladung anzunehmen. Sie mußten Martha stützen, da ihr bei jedem Schritte die Beine versagten. Als sie ankamen, trugen sie sie; ihr Gesicht war verzerrt, ihre Augen standen weit offen, sie war in einen jener nervösen Anfälle verfallen, die sie Stunden hindurch in eine Totenstarre versetzten.

Habe ich es nicht gesagt? rief Rosa, als sie ihre Herrin erblickte. Sie ist in einem schönen Zustande, und so sollen wir heimkehren! Darf man einen so harten Schädel haben? Der gnädige Herr hätte sie erwürgen sollen, dann hätte sie es sich doch gemerkt.

Bah, sagte der Onkel, ich lege sie in mein Bett. Wir sterben nicht daran, wenn wir die Nacht am Herde zubringen.

Er zog einen baumwollenen Vorhang beiseite, der ein Schlafzimmer verdeckte. Brummend entkleidete Rosa ihre Herrin. Man kann nichts anderes tun, sagte sie, als ihr einen heißen Ziegel auf die Füße legen.

Jetzt schläft sie, und wir können einen Schluck trinken, sagte der Onkel in seinem spöttischen Tone. Mutter, Euer Glühwein riecht verdammt gut.

Ich habe auf dem Kamin eine Zitrone gefunden und sie dazu genommen, erwiderte Rosa.

Das war recht. Hier findet sich alles. Wenn ich ein Kaninchen zubereite, fehlt nichts.

Er hatte den Tisch zum Kamin gerückt und setzte sich zwischen Alexander und die Köchin, indem er den Glühwein in große gelbe Tassen goß. Als er zwei Schlucke genommen hatte, sagte er andächtig, während er mit der Zunge schnalzte:

Sapperment, der Glühwein ist gut! Ei, ei, Ihr versteht es; er ist besser als der meinige. Ihr müßt mir das Rezept geben.

Rosa, durch diese Lobsprüche geschmeichelt, begann zu lachen. Das Feuer im Kamin prasselte lustig; die Schalen wurden von neuem gefüllt.

Also meine Nichte, sagte Macquart, indem er sich mit den Ellenbogen auf den Tisch stützte, um der Köchin in das Gesicht zu sehen, ist so in einem plötzlichen Einfall hierhergekommen?

Reden Sie mir nicht davon, erwiderte sie, das bringt mich in Zorn ... Die gnädige Frau wird verrückt wie der Herr; sie weiß nicht mehr, wen sie gern hat, und wen sie nicht gern hat ... Ich glaube, sie hat einen Streit mit dem Herrn Pfarrer gehabt, bevor sie abreiste; ich hörte beide schreien.

Der Onkel lachte.

Sie standen doch so gut miteinander, brummte er.

Freilich, aber mit einem solchen Kopfe, wie die gnädige Frau einen hat, geht es nicht lange ... Ich wette, sie sehnt sich nach den Prügeln, mit denen der Herr sie nächtlicherweile bedachte. Den Stock haben wir im Garten gefunden.

Er sah sie aufmerksam an und sagte, indem er wieder einen Schluck Wein nahm:

Vielleicht wollte sie François holen.

Ach, Gott beschütze uns davor! rief Rosa erschreckt. Der gnädige Herr würde eine schöne Verwüstung im Hause anrichten; er schlüge uns alle tot ... Ich fürchte immer noch, daß er eines Nachts kommt, uns zu ermorden. Wenn ich in meinem Bette daran denke, kann ich nicht mehr einschlafen. Es kommt mir vor, als sehe ich ihn mit struppigen Haaren und funkelnden Augen zum Fenster hereinsteigen.

Macquart belustigte dies; er setzte heftig seine Schale auf den Tisch und sagte:

Das wäre drollig, ja, das wäre drollig! Er muß euch nicht leiden können, besonders den Pfarrer, der seine Stelle eingenommen hat. Er würde den Pfarrer mit Haut und Haar fressen, so kräftig dieser auch ist; denn die Irren sind sehr stark, wie man sagt ... Alexander, stelle dir den armen Francis vor, wie er nach Hause kommt! Der würde reinen Tisch machen. Das müßte heiter sein.

Dabei sah er den Wärter an, der ruhig den Glühwein trank und nur mit dem Kopfe zustimmend nickte.

Ich denke es mir nur so zum Spaße, fuhr Macquart fort, als er bemerkte, wie erschreckt ihn Rosa ansah.

In diesem Augenblicke wälzte sich Martha wütend hinter dem Vorhang herum; man mußte sie einige Minuten lang halten, damit sie nicht aus dem Bett falle. Als sie wieder starr ausgestreckt dalag, kehrte der Onkel nachdenklich zu dem Ofen zurück, um sich die Beine zu erwärmen, und brummte, ohne zu bedenken, was er sagte:

Die Kleine ist nicht angenehm.

Dann fragte er plötzlich:

Und was sagen denn die Rougons zu all diesen Geschichten? Sie halten zum Abbé, nicht wahr?

Unser Herr war nicht so freundlich, daß sie ihn bedauern sollten, erwiderte Rosa; er wußte nicht, welche Bosheiten er gegen sie ersinnen sollte.

Da hatte er nicht unrecht, fuhr der Onkel fort, die Rougons sind Spitzbuben. Wenn man bedenkt, daß sie nicht das Getreidefeld da drüben kaufen wollten; ein prächtiges Geschäft, das ich zur Durchführung übernahm ... Felicité würde ein Gesicht machen, wenn sie François zurückkehren sähe!

Er höhnte so weiter, während er den Tisch umkreiste. Dann brannte er mit entschlossener Miene seine Pfeife an und sagte mit einem neuerlichen Augenzwinkern zu Alexander:

Du darfst die Stunde nicht vergessen, mein Lieber. Ich begleite dich ... Martha ist jetzt ruhig. Rosa soll unterdessen den Tisch decken ... Sie haben Hunger, nicht wahr, Rosa? Da Sie genötigt sind, die Nacht hier zuzubringen, sollen Sie einen Bissen mit mir essen.

Er führte den Wärter hinweg. Nach einer halben Stunde war er noch nicht zurück. Die Köchin, die sich langweilte, öffnete die Türe, neigte sich über die Terrasse hinaus und sah auf die leere Straße in der hellen Nacht. Als sie hineingehen wollte, glaubte sie auf der anderen Seite des Weges hinter einer Hecke mitten auf einem Pfade zwei schwarze Schatten zu bemerken.

Man sollte meinen, es sei der Onkel, dachte sie; mir scheint, er spricht mit einem Priester.

Einige Minuten später trat der Onkel ein. Er sagte, daß ihm dieser verteufelte Alexander endlose Geschichten erzählt habe.

Waren nicht Sie das, der soeben dort drüben mit einem Priester stand? fragte Rosa.

Ich, mit einem Priester! rief er aus. Zum Teufel, Sie haben geträumt! In der Gegend gibt es gar keinen Priester.

Er rollte seine funkelnden Augen. Dann schien er mit dieser Lüge unzufrieden und hub wieder an:

Bloß der Abbé Fenil wohnt hier; aber es ist so, als wenn er gar nicht da ist, denn er geht nie aus.

Der Abbé Fenil ist ein Nichtsnutz, sagte die Köchin.

Darüber wurde der Onkel ärgerlich.

Warum denn? Er tut hier viel Gutes; er ist ein gar kluger Mann ... Er taugt mehr als viele andere Pfaffen, die einem nur Verlegenheiten bereiten.

Aber mit seinem Zorne war es auf einmal wieder aus. Er begann zu lachen, als er Rosas erstaunte Blicke sah.

Ich kümmere mich übrigens nicht um diese Leute, sagte er. Sie haben recht, ein Pfaffe ist des anderen wert. Ein heuchlerisches Pack! Ich weiß jetzt, mit wem Sie mich gesehen haben mögen. Ich bin der Gewürzkrämerin begegnet; sie hatte ein schwarzes Kleid an; Sie haben es jedenfalls für einen Talar angesehen.

Rosa machte einen Pfannkuchen, der Onkel legte ein Stück Käse auf den Tisch. Sie waren mit dem Essen noch nicht fertig, als sich Martha im Bette aufrichtete und sich erstaunt umsah wie jemand, der an einem unbekannten Orte erwacht. Als sie ihre Haare aus dem Gesichte gestrichen und sich wieder erinnert hatte, sprang sie aus dem Bette und erklärte, daß sie sogleich aufbrechen wolle. Macquart war über dieses Erwachen sehr ungehalten.

Unmöglich, du kannst heute nicht nach Plassans zurückkehren, sagte er. Du fieberst ja und würdest unterwegs krank. Ruhe aus; morgen findet sich alles ... Vor allem ist kein Wagen da.

Du fährst mich in deiner Karre zurück, erwiderte sie.

Nein, ich will nicht, ich kann nicht.

Martha kleidete sich mit fieberhafter Eile an und erklärte, daß sie lieber zu Fuße nach Plassans gehen werde, ehe sie in Tulettes übernachte. Der Onkel überlegte; er hatte die Türe geschlossen und den Schlüssel in die Tasche gesteckt. Er bat seine Nichte, er drohte ihr, er erfand alle möglichen Geschichten, aber sie hörte nicht auf ihn und setzte den Hut auf.

Sie glauben, bei ihr etwas auszurichten? sagte Rosa, die ruhig ihren Käse aß; sie springt eher zum Fenster hinaus. Spannen Sie den Gaul an, das ist besser.

Der Onkel zuckte nach kurzem Schweigen die Achseln und rief zornig:

Mir kann es recht sein! Mag sie sich erkälten, wenn sie durchaus will. Ich wollte einem Unglück vorbeugen ... Komme, was kommen muß. Ich will euch fahren.

Martha mußte in den Wagen getragen werden; ein heftiges Fieber schüttelte sie. Der Onkel warf ihr einen alten Mantel um. Er schnalzte mit der Zunge, und dann ging es fort.

Mir ist es gerade recht, sagte er, daß ich heute abend nach Plassans fahre. Ja! ... In Plassans kann man sich unterhalten!

Es war ungefähr zehn Uhr. Der regenschwangere Himmel hatte eine rötliche Helle, die den Weg schwach beleuchtete. Längs der Straße sah er hinter die Hecken, in die Gräben hinein. Als Rosa ihn fragte, was er suche, erwiderte er, daß aus den Schluchten von Seille Wölfe hervorgebrochen seien. Er war wieder bei guter Laune. Eine Meile vor Plassans ging ein eisiger Regen nieder. Der Onkel fluchte. Rosa hätte am liebsten ihre Herrin, die unter dem Mantel dem Tode nahe war, durchgeprügelt. Als sie endlich ankamen, war der Himmel wieder hell und blau.

Fahren wir in die Balande-Straße? fragte Macquart.

Gewiß, erwiderte Rosa erstaunt.

Er machte ihr jetzt klar, daß Martha ihm sehr krank scheine und daß er sie lieber zu ihrer Mutter bringen wolle. Aber er willigte nach langem Zögern doch ein, vor dem Hause der Mouret zu halten. Martha hatte nicht einmal den Hausschlüssel mitgenommen. Rosa fand zum Glück den ihrigen in der Tasche; aber als sie öffnen wollte, ging die Türe nicht auf. Die Trouche schienen die Riegel vorgeschoben zu haben. Sie schlug mit der Faust daran, ohne aber ein anderes Geräusch zu wecken als das Echo in dem großen Vorhause.

Sie können es sich noch so sehr in den Kopf setzen, sagte der Onkel höhnisch lächelnd, sie kommen nicht herunter, das würde sie stören ... Kinder, ihr seid tatsächlich aus eurem Hause ausgesperrt. Mein erster Gedanke war gut: Wir müssen das liebe Kind zu den Rougon bringen; sie ist dort besser aufgehoben als in ihrem eigenen Zimmer; das sage ich.

Felicité geriet in eine sehr geräuschvolle Verzweiflung, als sie ihre Tochter ganz durchnäßt und halb tot zu einer solchen Stunde erblickte. Sie brachte sie zu Bette, versetzte das Haus in Aufruhr und jagte die Dienerschaft auf. Als sie ein wenig beruhigt am Bette Marthas saß, fragte sie:

Aber was ist denn vorgefallen? Wie kommt es, daß ihr sie uns in einem solchen Zustande bringt?

Macquart erzählte in gutmütigem Tone die Reise des »lieben Kindes«. Er verteidigte sich, indem er erklärte, daß er alles getan habe, um sie zu verhindern, François zu besuchen. Schließlich rief er Rosa als Zeugin an, als er sah, daß Felicité ihn mißtrauisch anblickte. Doch sie fuhr fort, den Kopf zu schütteln.

Die Geschichte ist sehr verdächtig, murmelte sie; es steckt etwas dahinter, das ich nicht begreife.

Sie kannte Macquart und witterte in seiner heimlichen Freude, die sich in dem Zwinkern seiner Augenlider zeigte, einen bösen Streich.

Sie sind eigentümlich, sagte er ärgerlich, um sich ihren forschenden Blicken zu entziehen. Sie denken gleich immer an alles Unmögliche. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich weiß ... Ich liebe Martha mehr als Sie, ich habe nur immer in ihrem Interesse gehandelt. Ich laufe zum Arzt, wenn Sie wollen.

Frau Rougon blickte ihm nach. Sie fragte Rosa lange aus, ohne etwas zu erfahren. Übrigens schien sie sehr glücklich zu sein, ihre Tochter bei sich zu haben; sie ließ bittere Worte gegen die Leute fallen, die einen vor der Türe des eigenen Hauses umkommen lassen, ohne zu öffnen. Martha lag, den Kopf auf dem Kissen, im Sterben.


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