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Sechzehntes Kapitel.

Desirée war jetzt siebzehn Jahre alt und lachte noch immer wie ein unschuldiges Kind. Sie war ein großes, schönes Mädchen geworden und hatte Arme und Schultern wie eine Frau. Sie wuchs wie eine kräftige Pflanze heran, froh in ihrem Wachstum und unbekümmert um das Unglück, das das Haus vereinsamte und umdüsterte.

Du lachst nicht, sagte sie zu ihrem Vater. Willst du Schnur springen spielen? Das ist unterhaltend!

Sie hatte ein ganzes Viertel des Gartens in Besitz genommen; sie grub um, pflanzte Gemüse und begoß es. Die groben Arbeiten machten ihr Freude. Dann hatte sie Hühner bekommen, die ihr das Gemüse fraßen und die sie mit mütterlicher Zärtlichkeit auszankte. Bei diesen Spielen auf der Erde unter den Tieren beschmutzte sie sich schrecklich.

Sie ist ein Schmutzlappen! rief Rosa. Ich will sie nicht mehr in der Küche haben, weil sie überallhin den Schmutz trägt ... Wirklich, gnädige Frau, Sie sind zu gut, sie so schön anzukleiden; an Ihrer Stelle ließe ich sie ruhig in dem Schmutze herumwaten.

Martha in der Verlorenheit ihres ganzen Wesens achtete nicht mehr darauf, ob Desirée die Wäsche wechsle. Das Kind trug manchmal dasselbe Hemd drei Wochen lang; ihre Strümpfe, die über die schiefgetretenen Schuhe herabfielen, hatten keine Fersen mehr; ihre elenden Kleider hingen wie die Lumpen einer Bettlerin an ihr. Mouret mußte eines Tages eine Nadel nehmen, da ihr rückwärts das Kleid von oben bis unten geplatzt war und die nackte Haut durchsah. Sie lachte, wenn sie halb nackt war, die Haare über die Schultern hingen, die Hände schwarz und das Gesicht ganz schmutzig war.

Martha empfand schließlich einen Ekel vor ihr. Wenn sie aus der Messe kam und in ihren Haaren den Kirchengeruch mitbrachte, widerte sie der starke Erdgeruch ihrer Tochter an. Sie schickte sie gleich nach dem Frühstück in den Garten und wollte sie nicht an ihrer Seite dulden; sie beunruhigte diese kräftige Gesundheit und dieses helle Lachen, das sich über alles lustig machte.

Mein Gott, wie dieses Kind einen ermüdet, sagte sie manchmal leise mit der Miene der größten Abspannung.

Wenn Mouret sie so klagen hörte, sagte er zornig:

Wenn sie dir im Wege ist, kann man sie zur Türe hinausjagen wie die zwei anderen.

Wirklich! Ich wäre sehr zufrieden, wenn sie nicht mehr da wäre, erwiderte sie kurz.

Gegen Ende des Sommers, an einem Nachmittage, erschrak Mouret, als er Desirée nicht mehr hörte, die noch einige Minuten vorher im hintern Garten sich herumgetrieben hatte. Er eilte hin und fand sie auf der Erde liegen, sie war von einer Leiter herabgestürzt, auf die sie gestiegen war, um Feigen zu pflücken; das Gebüsch hatte glücklicherweise den Sturz abgeschwächt. Mouret nahm sie voll Schrecken in die Arme und rief um Hilfe. Er hielt sie für tot; aber sie erlangte bald das Bewußtsein wieder und erklärte, daß sie sich nicht wehe getan habe; sogleich wollte sie wieder auf die Leiter steigen.

Unterdessen war Martha die Freitreppe herabgekommen. Als sie Desirée lachen hörte, ärgerte sie sich.

Das Kind bringt mich noch ins Grab, sagte sie; sie sinnt nur darauf, um mich zu erschrecken. Ich weiß bestimmt, sie hat sich absichtlich hingeworfen. Das ist nicht mehr zu ertragen. Ich schließe mich in mein Zimmer ein, gehe früh morgens fort und komme abends wieder ... Ja, lache nur, du dummes Ding! Ist es möglich, ein so dummes Geschöpf in die Welt gesetzt zu haben! Geh, du kommst mir teuer zu stehen.

Das ist sicher, fügte Rosa hinzu, die aus der Küche herbeigelaufen kam, sie ist eine große Verlegenheit im Hause, und es wird schwer halten, sie zu verheiraten.

Mouret, bis ins Innerste getroffen, hörte und sah sie an. Er erwiderte nichts und blieb im Garten mit dem Mädchen. Sie schienen bis zum Einbruch der Nacht zärtlich miteinander zu reden. Am folgenden Tage waren Martha und Rosa den ganzen Vormittag nicht zu Hause; sie hörten in einer Kapelle, die eine Meile vor Plassans lag und dem heiligen Januarius geweiht war, eine Messe, zu der alle Betschwestern der Stadt an jenem Tage wallfahrteten. Als sie heimkehrten, trug die Köchin schnell ein kaltes Frühstück auf. Martha aß einige Minuten, als sie bemerkte, daß ihre Tochter nicht bei Tische sei.

Hat denn Desirée keinen Hunger? fragte sie. Warum ißt sie denn nicht mit uns?

Desirée ist nicht hier, sagte Mouret, der sein Essen auf dem Teller ließ; ich habe sie heute früh nach Saint-Eutrope zu ihrer Amme gebracht.

Sie wurde blaß und legte überrascht und beleidigt die Gabel weg.

Du hättest mich auch fragen können, sagte sie.

Aber er erwiderte, ohne direkt eine Antwort darauf zu geben:

Sie ist bei ihrer Amme gut aufgehoben. Die brave Frau hat sie sehr lieb und wird auf sie achtgeben ... Auf diese Weise quält dich das Mädchen nicht mehr und jeder ist zufrieden.

Da sie schwieg, fügte er hinzu:

Wenn das Haus dir noch nicht ruhig genug ist, kannst du es mir sagen, und ich gehe auch.

Sie erhob sich ein wenig, und ihre Augen leuchteten auf. Er hatte sie so tief verletzt, daß sie die Hand ausstreckte, als wolle sie ihm die Flasche an den Kopf werfen. In dieser so lange Zeit unterwürfigen Natur wallte unbekannter Zorn auf; ein Haß stieg in ihr gegen diesen Mann empor, der sie immer wie ein böses Gewissen umschlich. Sie fing wieder an zu essen, ohne weiter von ihrer Tochter zu sprechen. Mouret hatte sein Tellertuch zusammengelegt; er blieb vor ihr sitzen, lauschte dem Geräusche ihrer Gabel und sah langsam in dem Speisezimmer umher, das früher von dem Lärm der Kinder so heiter und jetzt so öde und traurig war. Das Zimmer kam ihm eisig kalt vor. Es traten ihm die Tränen in die Augen, als Martha Rosa wegen des Nachtisches hereinrief.

Sie haben guten Appetit, nicht wahr, gnädige Frau? sagte diese und setzte einen Teller Obst auf den Tisch. Das macht unser tüchtiger Marsch! ... Wenn der gnädige Herr, anstatt den Heiden zu spielen, mit uns gegangen wäre, hätte er Sie nicht allein die Hammelkeule essen lassen.

Sie wechselte die Teller und schwatzte weiter:

Die Kapelle des heiligen Januarius ist sehr schön, aber zu klein ... Sie haben die Frauen gesehen, die zu spät gekommen sind; sie mußten draußen in der Sonne auf dem Grase knien ... Ich verstehe gar nicht, warum Frau von Condamin zu Wagen kam; das ist doch dann kein Verdienst, eine Wallfahrt zu machen ... Wir haben einen schönen Vormittag zugebracht, nicht wahr, gnädige Frau?

Ja, einen schönen Vormittag, wiederholte Martha. Der Abbé Mousseau hielt eine rührende Predigt.

Als Rosa die Abwesenheit der Desirée bemerkte und sie die Abreise des Kindes erfuhr, da rief sie aus:

Da hat der gnädige Herr einen guten Gedanken gehabt ... Sie nahm mir alle Schüsseln weg, um ihren Salat zu begießen ... Jetzt kann man doch ein wenig aufatmen.

Ohne Zweifel, erwiderte Martha, die eine Birne schälte.

Mouret war dem Ersticken nahe. Er verließ das Speisezimmer, ohne auf Rosa zu hören, die ihm nachlief, daß der Kaffee gleich fertig sei. Martha blieb allein im Speisezimmer und aß ruhig ihre Birne weiter.

Als die Köchin den Kaffee brachte, kam Frau Faujas eben herunter.

Gehen Sie nur hinein, sagte die Köchin zu ihr; Sie können der gnädigen Frau Gesellschaft leisten und den Kaffee des gnädigen Herrn trinken, der wie ein Narr davongelaufen ist.

Die alte Frau setzte sich auf den Platz Mourets.

Ich glaubte, Sie tränken nie Kaffee, sagte sie, sich Zucker nehmend.

Ja, ehemals, erwiderte Rosa, als der gnädige Herr die Kasse hatte ... Jetzt wäre die gnädige Frau dumm, wenn sie sich etwas versagen wollte, was sie gern hat.

Sie plauderten eine gute Stunde. Martha erzählte schließlich voll Rührung Frau Faujas ihren Kummer: Ihr Gatte habe ihr soeben eine schreckliche Szene gemacht, und zwar wegen ihrer Tochter, die er einem tollen Einfall folgend zu ihrer Amme gebracht habe. Sie verteidigte sich und versicherte, daß sie das Kind sehr liebe und es eines Tages auch besuchen werde.

Sie machte ein wenig Lärm, meinte Frau Faujas. Ich habe Sie oft bedauert ... Mein Sohn hätte schließlich darauf verzichtet, im Garten sein Brevier zu lesen; sie machte ihm den Kopf ganz wirr.

Von diesem Tag an waren die Mahlzeiten Marthas und Mourets sehr still. Der Herbst war sehr feucht; das Speisezimmer mit seinen zwei Gedecken, die durch die ganze Breite des großen Tisches getrennt waren, hatte ein trübseliges Aussehen. Die Winkel lagen im Schatten, von der Decke rieselte die Kälte hernieder. Es war traurig wie ein Begräbnis, wie Rosa sich ausdrückte.

Nun, sagte sie oft, wenn sie die Speisen hereinbrachte, hier geht es aber laut her. Wenn Sie es weiter so treiben, nutzen Sie sich die Zunge nicht ab ... Seien Sie doch lustiger, gnädiger Herr; Sie machen eine rechte Leichenbittermiene. Zuletzt bringen Sie noch die gnädige Frau ins Krankenbett. Es ist der Gesundheit abträglich zu essen, ohne zu sprechen.

Als die ersten Fröste kamen, bot Rosa Frau Faujas dienstwillig ihren Ofen an, um da zu kochen. Die Sache fing damit an, daß die alte Frau Wasser zum Kochen herunterbrachte, indem sie erklärte, sie habe kein Feuer, und ihr Sohn wolle sich schnell rasieren. Später borgte sie sich Plätteisen, dann einige Schüsseln und bat um eine Bratpfanne, eine Hammelkeule zu braten. Dann wieder nahm sie, als ob sie oben keinen passenden Herd habe, das Anerbieten Rosas an, die ein Feuer anzündete, als solle ein ganzer Hammel gebraten werden.

Genieren Sie sich nicht, wiederholte sie, während sie selbst den Braten drehte. Die Küche ist groß, nicht wahr? Für zwei Wirtschaften ist Platz genug da. Ich weiß nicht, wie Sie es bisher aushalten konnten, auf der Erde vor dem Kamine Ihres Zimmers auf einem elenden Blechofen zu kochen. Ich hätte gefürchtet, daß der Schlag mich rührt. Herr Mouret ist aber auch lächerlich; man vermietet nicht eine Wohnung ohne Küche. Sie müssen wirklich brave, gar nicht stolze und sehr genügsame Leute sein.

Allmählich kochte Frau Faujas ihr Frühstück und Mittagessen in der Küche der Mourets. In der ersten Zeit brachte sie Kohle, Holz und Gewürz mit; wenn sie später etwas vergessen hatte, wollte die Köchin nicht, daß sie erst hinaufging, und nötigte sie, sich aus dem Vorratsschrank zu nehmen, was sie brauche.

Da ist die Butter, sagte sie. Wenn Sie eine Messerspitze davon nehmen, wird es uns noch nicht arm machen. Sie wissen doch, daß alles hier Ihnen zur Verfügung steht ... Die gnädige Frau würde mich auszanken, wenn Sie es sich hier nicht bequem einrichten wollten.

So entstand zwischen Rosa und Frau Faujas eine große Freundschaft; die Köchin war hocherfreut, eine Person bei sich zu haben, die ihr gern zuhörte, während sie ihre Brühen quirlte. Übrigens kam sie mit der Mutter des Priesters wunderbar aus, deren Kattunkleider, rohes Gesicht und volkstümliche Derbheit sie auf einen gleichen Fuß mit ihr stellten. Stundenlang saßen sie zusammen vor dem Ofen, in dem das Feuer erloschen war. Frau Faujas hatte bald eine unumschränkte Herrschaft in der Küche, sie bewahrte ihre unergründliche Haltung, sagte nur, was sie sagen wollte, und ließ sich erzählen, was sie wissen wollte. Sie bestimmte das Essen der Mourets, kostete von den Speisen, bevor sie aufgetragen wurden; oft legte sogar Rosa Leckerbissen beiseite, die besonders für den Abbé bestimmt waren, so überzuckerte Äpfel, Reiskuchen, Pfannkuchen. Die Vorräte vermengten sich, die Schüsseln wurden durcheinandergestellt und das Essen beider Familien durcheinander gemischt, so daß die Köchin, wenn sie anrichten sollte, lachend ausrief:

Hören Sie, Madame, gehören die Spiegeleier Ihnen? Ich weiß es nicht mehr! ... Wirklich! Es wäre besser, man speiste zusammen.

Am Allerheiligentage frühstückte der Abbé Faujas zum erstenmal in dem Speisezimmer der Mourets. Er hatte es sehr eilig und mußte nach der Kirche zurück. Martha ließ ihn, damit er weniger Zeit verliere, sich an den Tisch setzen; sie erklärte, seine Mutter brauche nicht die zwei Stiegen zu steigen. Eine Woche später war es zur Gewohnheit geworden, daß die Faujas zu jeder Mahlzeit herunterkamen, sich zu Tische setzten und bis zum Kaffee blieben. Die ersten Tage trennten sich die Küchen; dann fand Rosa es sehr dumm; sie sagte, sie könne ganz gut für vier Personen kochen und werde sich mit Frau Faujas verständigen.

Danken Sie mir nicht, fügte sie hinzu. Sie sind so gut und kommen herunter, um der gnädigen Frau Gesellschaft zu leisten; Sie bringen etwas Heiterkeit mit... Ich wagte nicht mehr in das Speisezimmer zu gehen; es kam mir vor, als käme ich zu einem Toten. Es war öde, um einem Furcht zu machen... Wenn der gnädige Herr jetzt schmollt, um so schlimmer für ihn! Er mag für sich allein schmollen!

Der Ofen kochte, und das Zimmer war ganz warm. Es war ein sehr angenehmer Winter. Nie hatte Rosa zu dem Gedecke so saubere Wäsche gelegt; den Stuhl des Herrn Pfarrer stellte sie nahe zum Ofen, und zwar so, daß er das Feuer im Rücken hatte. Sie achtete besonders auf sein Glas, sein Messer und seine Gabel; sie sah darauf, daß sobald das Tischtuch den kleinsten Fleck hatte, dieser nicht auf seiner Seite zu liegen kam. Kurz, sie erwies ihm tausenderlei zarte Aufmerksamkeiten.

Wenn sie ihm ein Lieblingsgericht bereitete, setzte sie ihn davon in Kenntnis, damit er seinen Appetit schone. Manchmal bereitete sie ihm eine Überraschung; sie brachte das Gericht verdeckt, lachte über die fragenden Blicke und sagte mit triumphierender Miene:

Das ist für den Herrn Pfarrer, eine gespickte Ente mit Oliven gefüllt, wie er sie gern ißt... Gnädige Frau, Sie geben dem Herrn Pfarrer ein Filet, nicht wahr? Es ist für ihn.

Martha reichte die Schüsseln herum. Sie bestand durch bittende Blicke darauf, daß er sich die guten Stücke nehme. Sie fing immer bei ihm an und durchsuchte die Schüssel, während Rosa, über sie gebeugt, ihr mit dem Finger jene Stücke bezeichnete, die sie für die besten hielt. Sie stritten sogar darüber, ob dieses oder jenes Stück eines Huhnes oder Kaninchens besser sei. Rosa schob ein Sofakissen unter die Füße des Priesters. Martha verlangte, daß er seine Flasche Bordeau und sein Brot habe, ein kleines, goldbraun gebackenes Brötchen, das sie jeden Tag bei dem Bäcker für ihn bestellte.

Ei, nichts ist zu gut, erwiderte Rosa, wenn der Abbé ihnen dankte. Wer soll denn gut leben, wenn nicht so brave Herzen, wie Sie, es gut hätten? Lassen Sie uns nur machen, der liebe Gott bezahlt Ihre Schuld schon.

Frau Faujas, die bei Tische ihrem Sohne gegenüber saß, lächelte zu all diesen Zuvorkommenheiten. Sie begann Martha und Rosa lieb zu gewinnen; übrigens fand sie ihre Verehrung sehr natürlich und hielt sie für sehr glücklich, daß sie vor ihrem Gotte auf den Knien liegen durften. Mit ihrem vierschrötigen Kopfe, langsam und viel essend wie eine Bäuerin, die weit zur Arbeit geht, führte sie in Wirklichkeit bei den Mahlzeiten den Vorsitz, indem sie alles sah, ohne einen Bissen zu verlieren, und wachte darüber, daß Martha in ihrer demütigen Rolle verharre, während sie selbst mit vergnügter Freude den Blick auf ihrem Sohne ruhen ließ. Sie sprach nur, um in drei Worten den Geschmack des Abbé anzugeben, oder um den höflichen Weigerungen ein Ende zu machen, die er noch wagte. Manchmal zuckte sie mit den Achseln oder stieß ihn mit dem Fuße. Gehörte der Tisch nicht ihm? Er konnte doch die ganze Schüssel essen, wenn es ihm schmeckte. Die anderen würden sich begnügen, ihr trockenes Brot zu essen und ihm zuzusehen.

Der Abbé blieb den zarten Aufmerksamkeiten gegenüber gleichgültig, deren Gegenstand er war. Da er sehr mäßig war, schnell aß und mit seinen Gedanken anderswo weilte, bemerkte er oft gar nicht die Verhätschelung, die man ihm widmete. Als er die Gesellschaft der Mourets annahm, hatte er nur dem Drängen seiner Mutter nachgegeben; er genoß in dem Erdgeschosse nur die Freude, ganz der Sorgen des materiellen Lebens ledig zu sein. So bewahrte er denn eine stolze Ruhe, gewöhnte sich allmählich daran, seine geringsten Wünsche erraten zu sehen, und wunderte sich nicht mehr und dankte nicht mehr und herrschte verächtlich zwischen der Herrin des Hauses und der Köchin, die ängstlich auf die kleinsten Falten in seinem ernsten Gesichte achteten. Mouret, der seiner Frau gegenüber saß, blieb vergessen. Er saß, die Hände an dem Tischrande wie ein Kind da, und er wartete, bis Martha an ihn denke. Sie bediente ihn zuletzt, kärglich und gleichsam zufällig. Rosa, die hinter ihr stand, warnte sie, wenn sie sich irrte und auf ein gutes Stück kam.

Nein, nein, nicht dieses Stück... Sie wissen, der gnädige Herr ißt gern den Kopf; er nagt die kleinen Knochen ab.

Mouret aß immer bedrückter, mit der Scham eines Tellerlecker. Er fühlte, daß Frau Faujas ihn ansah, wenn er sich Brot abschnitt. Er sah lange die Flasche an, bevor er wagte, sich einzuschenken. Einmal irrte er sich und nippte an dem Weine des Herrn Pfarrers. Das war eine schöne Geschichte! Einen Monat hindurch warf ihm Rosa es vor. Wenn sie eine süße Speise auftrug, rief sie:

Der gnädige Herr darf nicht kosten. Er hat mich nie gelobt. Einmal sagte er mir, daß meine Rumomelette verbrannt sei. Da habe ich ihm geantwortet: Für Sie sollen sie immer verbrannt sein. Hören Sie, gnädige Frau, geben Sie dem gnädigen Herrn nichts davon. Dann ersann sie allerlei kleine Sticheleien. Sie gab ihm schadhafte Teller, deckte den Tisch so, daß er einen Fuß zwischen die Beine bekam, ließ in seinem Glase die Spuren des Wischlappens zurück, setzte das Brot, den Wein, das Salz an die andere Seite des Tisches. Mouret allein liebte den Senf und er kaufte ihn selbst bei dem Gewürzkrämer ein; die Köchin aber ließ den Senfnapf regelmäßig verschwinden, indem sie vorgab, daß »es stinke«. Das Fehlen des Senfes genügte, um ihm seine Mahlzeit zu verleiden. Noch mehr setzte ihn in Verzweiflung und verdarb ihm den Appetit ganz, daß er von seinem Platze verjagt war, von dem Platze, den er stets bei dem Fenster eingenommen und den man jetzt dem Priester gab, weil es der beste war. Jetzt saß er der Türe gegenüber; es schien ihm, als wenn er bei Fremden esse, seitdem er nicht mehr bei jedem Bissen einen Blick auf seine Obstbäume werfen konnte. Martha, die nicht so bissig war wie Rosa, behandelte ihn wie einen armen Verwandten, den man im Hause duldet; schließlich merkte sie kaum, daß er da sei, richtete fast nie das Wort an ihn und tat, als wenn der Abbé Faujas allein in dem Hause Befehle zu geben habe. Übrigens lehnte sich Mouret dagegen nicht auf; er wechselte mit dem Priester einige Worte der Höflichkeit und aß sonst schweigsam, die Angriffe der Köchin durch langsame Blicke erwidernd. Da er immer zuerst fertig war, legte er sorgfältig seine Serviette zusammen und stand oft vor dem Nachtisch auf.

Rosa behauptete, daß er wütend sei. Wenn sie in der Küche mit Frau Faujas plauderte, beschrieb sie ihr des langen und breiten ihren Herrn:

Ich kenne ihn gut, er hat mich nie sehr eingeschüchtert ... Bevor Sie kamen, zitterte die gnädige Frau vor ihm, weil er immer zankte und den fürchterlichen Mann spielte. Er ärgerte uns furchtbar, saß uns immer auf dem Rücken, indem er nichts im Hause gut fand und seine Nase überall hineinsteckte und uns zeigen wollte, daß er der Herr sei... Jetzt ist er zahm wie ein Lamm, nicht wahr? Die gnädige Frau hat eben die Oberhand. Wenn er mutig wäre und nicht alle möglichen Verdrießlichkeiten fürchtete, würden Sie ein schönes Lied hören. Aber er hat zu viel Furcht vor Ihrem Sohne; ja, er fürchtet sich vor dem Herrn Pfarrer... Man möchte manchmal sagen, er werde dumm. Aber da er uns nicht geniert, kann er tun, was er will, nicht wahr, Madame?

Frau Faujas erwiderte, daß Herr Mouret ihr ein sehr würdiger Mann scheine; sein einziger Fehler sei, daß er nicht religiös sei. Aber er werde sicher später noch auf die gute Bahn kommen. Langsam bemächtigte sich die alte Frau des Erdgeschosses; aus der Küche drang sie in das Speisezimmer und wanderte im Flur und im Gang herum. Wenn Mouret ihr begegnete, erinnerte er sich des Tages der Ankunft der Faujas, als die Alte in ihrem zerlumpten Kittel den Korb, den sie mit beiden Händen festhielt, nicht losließ und in jedes Zimmer hineinschaute mit dem Behagen einer Person, die ein verkäufliches Haus besichtigt.

Seitdem die Faujas im Erdgeschosse speisten, gehörte der zweite Stock den Trouche. Sie machten dort einen großen Lärm, rückten die Möbel herum, stampften, schrien, rissen, wenn sie fortgingen, die Türen auf und warfen sie wieder heftig zu. Frau Faujas, die in der Küche klatschte, sah mit unruhiger Miene hinauf. Rosa sagte, um es gutzumachen, daß die arme Frau Trouche gar viele Mühe habe. Eines Nachts hörte der Abbé, der noch nicht zu Bette war, auf der Treppe einen sonderbaren Lärm. Er ging mit seinem Leuchter hinaus und sah Trouche, der fürchterlich betrunken war, auf den Knien die Treppe heraufkriechen. Er hob ihn mit seinen kräftigen Armen auf und warf ihn in sein Zimmer. Olympia, die im Bette lag, las ruhig einen Roman und schlürfte von einem Glase Grog, das auf dem Nachtkasten stand.

Hört, sagte der Abbé ungemein zornig, morgen früh packt ihr eure Koffer und geht!

Warum denn? fragte Olympia ruhig; wir befinden uns hier ganz gut.

Aber der Priester unterbrach sie grob:

Schweig! Du bist eine Elende, du hast nur immer gesucht, mir zu schaden. Unsere Mutter hatte recht, ich hätte euch nicht aus eurem Elend reißen sollen... Jetzt muß ich gar deinen Mann auf der Treppe auflesen. Das ist eine Schande! Und denke an den Skandal, wenn man ihn in diesem Zustande sähe. Morgen geht ihr fort!

Olympia hatte sich aufgesetzt, um einen Schluck Grog zu machen.

Was dir nicht einfällt! sagte sie leise.

Trouche lachte. Er hatte einen lustigen Rausch. In seliger Laune war er in einen Lehnstuhl gesunken und lallte:

Ärgern wir uns nicht. Es ist nur ein kleiner Rausch von der Luft, die sehr scharf ist. Na, die Straßen in dieser vertrackten Stadt sind so drollig!... Ich will Ihnen sagen, Faujas, es sind sehr anständige junge Leute hier, vor allem der Sohn des Doktor Porquier. Sie kennen doch den Doktor Porquier?... Nun, wir treffen uns in einem Kaffeehause hinter den Gefängnissen. Die Wirtin ist eine Arleserin, eine schöne Frau, eine Brünette...

Der Priester sah ihn mit verschränkten Armen drohend an.

Nein, ich versichere Sie, Faujas, Sie haben unrecht, mir böse zu sein... Sie wissen, daß ich ein sehr anständiger Mann bin; ich weiß, was sich geziemt. Am Tage würde ich nicht ein Glas Fruchtsaft trinken aus Furcht, Sie zu kompromittieren... Seitdem ich hier bin, gehe ich in mein Amt, als ob ich zur Schule ginge mit Brotschnitten in einem Korbe; es ist ein sehr dummes Amt! Ja, mein Ehrenwort, ich bin dort ganz dumm. Wenn es nicht wäre, um Ihnen einen Dienst zu erweisen... Aber in der Nacht sieht man mich doch nicht. Ich darf in der Nacht spazieren gehen. Das tut mir wohl, denn das fortwährende Eingesperrtsein würde mich schließlich töten. Kein Mensch geht in den Straßen, sie sind so drollig!...

Trunkenbold! brummte der Priester zwischen den Zähnen.

Sie lassen mich nicht in Ruhe?... Um so schlimmer, mein Lieber! Ich bin ein guter Kerl und kann die bösen Gesichter nicht leiden. Wenn Ihnen das nicht gefällt, lasse ich Sie mit Ihren Betschwestern im Stiche. Nur die kleine Condamin ist hübsch, aber die Arleserin ist noch hübscher... Sie können die Augen rollen, wie Sie wollen; ich brauche Sie nicht mehr. Wollen Sie hundert Franken geliehen haben?

Damit zog er lachend Banknoten hervor und breitete sie auf seinen Knien aus; dann schwenkte er sie in der Luft, hielt sie dem Abbé unter die Nase und schleuderte sie schließlich empor. Olympia sprang halbnackt mit einem Satze aus dem Bette, hob die Scheine auf und versteckte sie verdrossen unter ihrem Kopfpolster.

Unterdessen sah der Abbé sich erstaunt um; er erblickte Likörflaschen auf der Kommode aufgereiht, eine fast ganze Pastete auf dem Kaminsims und in einer alten zerrissenen Schachtel Zuckerwerk. Das Zimmer war voll neugekaufter Sachen: Kleider lagen auf den Stühlen und ein Paket Spitzen; an dem Haken des Fensters hing ein ganz neuer Überzieher, und vor dem Bette lag ein Bärenfell. Neben dem Grog auf dem Nachttische glänzte in einer Porzellanschale eine kleine goldene Damenuhr.

Wen haben sie nur beraubt? dachte der Priester.

Dann erinnerte er sich gesehen zu haben, wie Olympia die Hände Marthas küßte.

Aber, Unglücklicher, rief er aus, Sie stehlen!

Trouche erhob sich. Seine Frau warf ihn auf das Sofa zurück.

Sei ruhig, sagte sie zu ihm; schlafe, du hast es nötig.

Dann wandte sie sich an ihren Bruder:

Es ist ein Uhr, du kannst uns schlafen lassen, wenn du uns nur Unangenehmes zu sagen hast ... Mein Mann hat freilich unrecht, sich zu betrinken; aber das ist kein Grund, ihn zu mißhandeln ... Wir haben schon mehrere Auseinandersetzungen gehabt; diese muß die letzte sein, hörst du? Ovide ... Wir sind Geschwister, nicht wahr? Ich habe dir gesagt, wir müssen teilen. Du läßt es dir unten wohl schmecken, läßt dir feine Speisen machen und lebst wie ein Schlemmer zwischen Köchin und Hausfrau. Das geht dich an. Wir schauen dir nicht auf deinen Teller, noch wollen wir dir die Bissen aus dem Munde ziehen. Wir lassen dich machen, was du willst. Dann quäle aber auch uns nicht und lasse uns dieselbe Freiheit ... ich rede doch sehr vernünftig.

Der Priester machte eine Bewegung.

Ja, ich verstehe, fuhr sie fort, du fürchtest immer, daß wir dir deine Sache verderben könnten ... Die beste Weise, daß wir sie nicht verderben, ist, daß du uns in Ruhe läßt. Wenn du immer wiederholst: »Ah, wenn ich das gewußt hätte, würde ich euch dort gelassen haben, wo ihr waret,« so sage ich dir, du bist nicht klug, trotzdem du den Kopf so hoch trägst. Wir haben dieselben Interessen wie du; wir bilden eine Familie, wir können alle zusammen uns unser Nest bauen. Es wäre ganz hübsch, wenn du wolltest... Gehe schlafen. Morgen werde ich Trouche ausschelten, ich werde dir ihn schicken und dann kannst du ihm deine Befehle geben.

Gewiß, murmelte der Betrunkene, der schon halb schlief. Faujas ist drollig ... Ich mag die Hausfrau nicht, ich will lieber ihre Taler.

Da brach Olympia in ein freches Lachen aus und sah ihren Bruder an. Sie hatte sich wieder niedergelegt und machte es sich bequem, wobei sie sich an die Kissen lehnte. Der Priester, der ein wenig blaß war, dachte nach, dann ging er fort, ohne ein Wort zu sagen, während sie wieder ihren Roman zur Hand nahm und Trouche auf dem Sofa schnarchte.

Am folgenden Tage hatte der ernüchterte Trouche eine lange Unterredung mit dem Abbé Faujas. Als er zu seiner Frau zurückkehrte, sagte er ihr die Bedingungen, unter denen der Friede geschlossen war.

Höre, mein Lieber, erwiderte sie, suche seine Zufriedenheit zu erlangen, tue, was er will; trachte, ihm nützlich zu sein, da er dir die Mittel dazu in die Hände gibt ... Ich zeige mich tapfer, wenn er da ist; aber im Grunde weiß ich, daß er uns auf die Straße jagt, wenn wir es zu weit mit ihm treiben. Aber ich will nicht fort von hier ... Bist du sicher, daß er uns behalten wird?

Ja, fürchte nichts, versetzte der Beamte. Er braucht mich, er läßt uns ruhig unsere Geschäfte treiben.

Von dieser Zeit an ging Trouche jeden Abend gegen neun Uhr aus, wenn die Straßen öde geworden. Er erzählte seiner Frau, daß er in dem alten Viertel für den Abbé Propaganda mache. Übrigens war Olympia nicht eifersüchtig; sie lachte, wenn er ihr mit irgendeiner gewagten Geschichte kam; sie zog die trauliche Einsamkeit vor, die kleinen Gläschen, die sie ganz allein trank, die Kuchen, die sie heimlich aß, die langen Abende, die sie im warmen Bette zubrachte, und die sie sich mit dem Lesen alter Scharteken vertrieb, die sie in einer Leihbibliothek in der Canquoin-Straße entdeckt hatte. Trouche kehrte mit einem halben Rausche heim; im Flur zog er die Schuhe aus, um geräuschlos die Treppe hinaufzugehen. Wenn er zuviel getrunken hatte und nach Pfeife und Branntwein stank, duldete ihn seine Frau nicht an ihrer Seite; sie zwang ihn, auf dem Sofa zu schlafen. Dann gab es einen stummen Kampf zwischen ihnen. Er kam mit dem Eigensinn eines Trunkenen immer wieder zu ihr, klammerte sich an die Decken, aber er wankte, glitt aus, fiel auf die Hände und dann wälzte sie ihn schließlich wie eine Masse weiter. Begann er zu schreien, so würgte sie ihn, sah ihn starr an und sagte leise:

Ovid hört dich, Ovid kommt.

Da fürchtete er sich, wie ein Kind, das man mit dem Wolfe schreckt; er schlief ein, indem er Entschuldigungen lallte. Sobald die Sonne aufgegangen war, machte er wie ein gesetzter Mann Toilette, reinigte sein Gesicht von den Ausschweifungen der Nacht und band eine bestimmte Krawatte um, die nach seinen Worten ihm ein »frommes Aussehen« gab. Vor den Kaffeehäusern schlug er die Augen nieder. In der Anstalt der heiligen Jungfrau achtete man ihn. Manchmal, wenn die Mädchen im Garten spielten, hob er einen Zipfel des Vorhanges und sah ihnen mit väterlicher Miene zu, wobei es unter seinen halb gesenkten Augenwimpern von Zeit zu Zeit aufleuchtete. Frau Faujas hielt die Trouche ebenfalls in Respekt. Tochter und Mutter lebten in fortwährendem Streite; die eine beklagte sich, stets ihrem Bruder geopfert worden zu sein, während die andere sie als ein bösartiges Tier behandelte, das sie in der Wiege hätte erwürgen sollen. Sie überwachten einander und bissen an derselben Beute herum, ohne das Stück loszulassen, in gieriger Erwartung, wer von den beiden den größeren Teil bekomme. Frau Faujas wollte das ganze Haus und verteidigte es bis auf das Kehricht gegen die krummen Finger Olympias. Als sie die großen Summen sah, die diese Martha aus den Taschen zog, wurde sie fürchterlich. Ihr Sohn hatte mit den Achseln gezuckt wie ein Mann, der diese schmutzigen Sachen verachtet und sich gezwungen sieht, die Augen zuzudrücken; sie aber hatte eine furchtbare Auseinandersetzung mit ihrer Tochter, die sie eine Diebin nannte, als wenn sie das Geld aus ihrer Tasche gestohlen habe.

He, Mutter, jetzt ist es aber genug, sagte Olympia ungeduldig. Es geht doch nicht aus deiner Börse ... Ich borge nur Geld aus und lasse mich nicht ausfüttern.

Was willst du damit sagen, du böser Fratz? stotterte Frau Faujas außer sich vor Zorn. Bezahlen wir nicht unser Essen? Frage die Köchin, sie wird dir unser Buch zeigen.

Olympia lachte auf.

Ach, das ist sehr hübsch! hub sie wieder an. Ich kenne dieses Buch. Du bezahlst die Radieschen und die Butter, nicht wahr? ... Mutter, bleibe in dem Erdgeschosse; ich will dich dort nicht stören. Aber komme nicht mehr herauf, um mich zu quälen oder ich schreie. Du weißt, daß Ovid jeden Lärm verboten hat.

Frau Faujas ging brummend wieder hinunter. Die Drohung, Lärm zu machen, zwang sie zum Rückzuge. Olympia sang, um sie zu ärgern, hinter ihrem Rücken ein Lied. Aber wenn sie in den Garten ging, rächte sich ihre Mutter dadurch, daß sie ihr immer auf den Fersen war, auf ihre Hände sah und sie belauerte. Sie duldete sie weder in der Küche noch in dem Speisezimmer. Mit Rosa hatte sie Olympia verfeindet, als diese eine Schüssel entlehnt und nicht wieder zurückgegeben hatte. Doch wagte sie sie nicht in der Freundschaft mit Martha anzugreifen, da sie einen Skandal fürchtete, unter dem der Abbé gelitten hätte.

Da du dich so wenig um deine Interessen kümmerst, sagte sie eines Tages zu ihrem Sohne, so werde ich sie an deiner Stelle zu vertreten wissen; sei unbesorgt, ich bin vorsichtig ... Wenn ich nicht da wäre, würde dir deine Schwester das Brot aus den Händen nehmen.

Martha hatte keine Ahnung von dem Drama, das sich um sie her abspielte. Das Haus erschien ihr einfach lebhafter, seitdem diese Leute den Vorraum, die Treppe und den Gang erfüllten. Man hätte meinen können, es sei ein Getümmel wie in einem Unterkunftshause, mit dem unterdrückten Lärm der Streitigkeiten, den zugeworfenen Türen, dem ungenierten Leben jedes Mieters. In der Küche brannte ein Feuer, als wenn Rosa für eine ganze Tischgesellschaft zu kochen gehabt hätte. Auch herrschte ein fortwährendes Kommen und Gehen der Lieferanten. Olympia, die sich die Hände pflegte und daher nicht mehr das Geschirr abwaschen wollte, ließ alles von außen, von einem Delikatessenhändler der Banne-Straße kommen, der für die Stadt kochte. Martha lächelte und fühlte sich in diesem Getümmel des ganzen Hauses glücklich; sie liebte es nicht mehr, allein zu sein, und mußte das Fieber, das in ihr brannte, genährt sehen. Mouret aber schloß sich, um diesen Lärm zu fliehen, in das Zimmer des ersten Stockwerkes ein, das er sein Büro nannte; er hatte seine Abneigung gegen die Einsamkeit überwunden und ging fast gar nicht mehr in den Garten; oft sah man ihn von früh bis abends nicht.

Ich möchte nur wissen, was er drinnen treibt, sagte Rosa zu Frau Faujas. Man hört ihn gar nicht herumgehen. Man möchte ihn für tot halten. Wenn er sich versteckt, tut er gewiß nichts Gutes. –

Als der Sommer kam, wurde es in dem Hause noch lebhafter. Der Abbé Faujas empfing die Gesellschaften der Unterpräfektur und des Präsidenten im rückwärtigen Garten bei der Laube. Rosa hatte auf Befehl Marthas ein Dutzend Gartenstühle gekauft, damit man im Garten bleiben könne, ohne immer die Stühle des Speisezimmers hinausschleppen zu müssen. Es war zur Gewohnheit geworden. Jeden Dienstag nachmittag blieben die Türen der Sackgasse offen; die Herren und Damen kamen herbei, um als Nachbar den Herrn Pfarrer zu begrüßen; sie hatten Strohhüte auf, Pantoffeln an den Füßen, die Röcke aufgeknöpft und die Frauenkleider mit Nadeln aufgesteckt. Die Besucher kamen einer nach dem anderen, bis zuletzt die beiden Gesellschaften vollständig beisammen und vermengt waren und in größter Vertraulichkeit klatschten.

Fürchten Sie nicht, sagte eines Tages Herr von Bourdeu zu Herrn Rastoil, daß dieses Zusammentreffen mit denen von der Unterpräfektur übel ausgelegt werden könnte? ... Die allgemeinen Wahlen stehen vor der Türe.

Warum sollte es übel ausgelegt werden? erwiderte Herr Rastoil. Wir gehen doch nicht auf die Unterpräfektur und sind hier auf neutralem Gebiete ... Dazu, mein lieber Freund, macht man da drinnen keine Umstände. Ich behalte meinen Leinwandrock an. Es ist mein privates Leben. Niemand hat das Recht, über das zu urteilen, was ich in meinem Hause mache ... Draußen ist es etwas anderes; draußen gehören wir der Öffentlichkeit an. Herr Péqueur und ich grüßen uns nicht einmal auf der Straße.

Herr Péqueur des Saulaies ist ein Mann, der sehr gewinnt, wenn man ihn näher kennen lernt, sagte der ehemalige Präfekt nach einer Weile.

Ohne Zweifel, erwiderte der Präsident, ich freue mich sehr, seine Bekanntschaft gemacht zu haben ... Und welch ein würdiger Mann der Abbé Faujas ist! ... Nein, gewiß, ich fürchte die Verleumdungen nicht, wenn ich unseren ausgezeichneten Nachbar begrüße.

Herr von Bourdeu wurde, seitdem es sich um die allgemeinen Wahlen handelte, unruhig; er sagte, daß die ersten Hitztage ihn sehr ermüdeten. Oft hatte er Bedenken und teilte Herrn Rastoil seine Zweifel mit, damit ihn dieser beruhige. Übrigens sprach man im Garten der Mourets nie von Politik. Eines Nachmittags wandte sich Herr von Bourdeu, nachdem er vergebens nach einem Übergange gesucht hatte, an den Doktor Porquier.

Herr Doktor, haben Sie heute früh den »Moniteur« gelesen? Der Marquis hat endlich gesprochen; dreizehn Worte hat er gesagt, ich habe sie gezählt ... Der arme Lagrifoul! Er hat einen wahnsinnigen Heiterkeitserfolg erzielt!

Der Abbé Faujas erhob mit gutmütiger Miene den Finger und sagte leise:

Keine Politik, meine Herren, keine Politik!

Herr Péqueur des Saulaies unterhielt sich mit Herrn Rastoil; beide taten, als hätten sie nichts gehört. Frau von Condamin lächelte und fragte den Abbé Surin:

Nicht wahr, Herr Abbé, Ihre Chorhemden werden mit einem schwachen Gummiwasser gestärkt?

Ja, gnädige Frau, mit Gummiwasser, erwiderte der junge Priester. Es gibt Wäscherinnen, die sich gekochter Stärke bedienen; aber das greift die Musseline an und taugt nichts.

Ich kann, erwiderte die junge Frau, meine Wäscherin nicht dazu bringen, bei meinen Unterröcken Gummi anzuwenden.

Da gab der Abbé Surin ihr zuvorkommend Namen und Adresse seiner Wäscherin und schrieb beides auf die Rückseite einer seiner Visitenkarten. So sprach man von der Toilette, von der Witterung, von der Ernte und den Ereignissen der Woche und brachte eine angenehme Stunde zu.

Ballpartien in der Sackgasse brachten eine Abwechslung in die Unterhaltung. Der Abbé Bourrette kam sehr oft und erzählte kleine Heiligengeschichten, denen Herr Maffre bis zum Schlusse zuhörte. Ein einziges Mal war Frau Delangre mit Frau Rastoil zusammengetroffen, wobei trotz ihrer ausgesuchten Höflichkeit und Freundlichkeit in ihren erloschenen Augen ein Blitz aufleuchtete, der ihre ehemalige Nebenbuhlerschaft verriet. Herr Delangre hielt sich zurück. Die Paloques vermieden, obgleich sie noch immer die Unterpräfektur besuchten, sich dort einzufinden, wenn Herr Péqueur des Saulaies bei dem Abbé Faujas Besuch machte; die Frau des Richters war seit des unglücklichen Besuches in der Anstalt der heiligen Jungfrau arg verlegen. Am häufigsten kam Herr von Condamin, der immer feine Handschuhe trug, und nur erschien, um sich über die Leute lustig zu machen, zu lügen, mit außerordentlicher Gelassenheit Zoten zu erzählen und sich die ganze Woche über die Ränke freute, die er gewittert hatte. Der große Greis, dem der Überrock so prächtig in der Taille saß, hatte eine Leidenschaft für die Jugend. Er machte sich über die »Alten« lustig, hielt sich zu den Fräulein der Gesellschaft, saß bei ihnen in den Winkeln und konnte da vergnüglich lachen.

Hierher, Kinder! sagte er lächelnd. Lassen wir die Alten für sich allein.

Eines Tages hätte er bald den Abbé Surin in einer fürchterlichen Ballpartie besiegt. In Wirklichkeit neckte er die ganze junge Welt. Besonders hatte er sich den jungen Rastoil als Opfer ausersehen, einen unschuldigen Jüngling, dem er ungeheure Sachen erzählte. Schließlich beschuldigte er ihn, daß er seiner Frau den Hof mache, wobei er fürchterlich die Augen rollte, daß dem unglücklichen Severin der Angstschweiß hervorbrach. Das Schlimmste war, daß dieser sich wirklich einbildete, er sei in Frau von Condamin verliebt, und sich vor sie mit gerührtem und erschrockenem Gesichtsausdrucke hinstellte, woran sich ihr Mann ungemein ergötzte. Die Fräulein Rastoil, denen der Forstinspektor mit der Liebenswürdigkeit eines jungen Witwers entgegentrat, waren ebenfalls der Gegenstand seiner grausamsten Scherze. Obgleich sie schon den Dreißig nahe waren, verleitete er sie zu Kinderspielen und sprach mit ihnen wie mit Schulmädchen. Seine größte Freude war, sie zu beobachten, wenn Lucien Delangre, der Sohn des Bürgermeisters, dort war. Er nahm den Doktor Porquier beiseite, einen Mann, dem man alles sagen konnte, und flüsterte ihm ins Ohr, indem er auf das ehemalige Verhältnis des Herrn Delangre mit Frau Rastoil anspielte:

Sie, Porquier, der Bursche ist in großer Verlegenheit ... Ist es Angeline, ist es Aurelie von Delangre? ... Rate, wenn du kannst, und wähle, wenn du wagst.

Doch der Abbé Faujas war gegen alle Gäste liebenswürdig, selbst gegen den schrecklichen, beunruhigenden Condamin. Er hielt sich soweit wie möglich zurück, sprach wenig, ließ die beiden Gesellschaften verschmelzen und schien nur die geheime Freude eines Hausherrn zu haben, der glücklich ist, ein Bindeglied zwischen hervorragenden Personen zu sein, die füreinander geschaffen sind. Martha hatte auch zweimal es für ihre Pflicht gehalten, sich bei den Gästen einzufinden. Aber sie konnte den Abbé nicht inmitten dieser großen Gesellschaft sehen und wartete, bis er allein war; sie sah ihn lieber ernst und langsam im Garten dahinwandeln. Die Trouche spionierten jeden Dienstag voll Neid hinter den Vorhängen, während Frau Faujas und Rosa mit langem Halse aus dem Vorraum schauten und mit Entzücken die Anmut bewunderten, mit der der Pfarrer die besten Kreise von Plassans empfing.

Da sieht man gleich, sagte die Köchin, daß er ein vornehmer Mann ist ... Sehen Sie, jetzt begrüßt er den Unterpräfekten. Ich habe den Herrn Pfarrer viel lieber, obgleich der Unterpräfekt ein hübscher Mann ist. Warum gehen Sie denn nicht in den Garten? Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich ein seidenes Kleid anziehen und hinunter gehen. Sie sind doch seine Mutter.

Doch die alte Bäuerin zuckte mit den Achseln.

Er schämt sich meiner nicht, erwiderte sie, aber ich würde fürchten, ihn zu stören ... Ich betrachte ihn lieber von hier. Das macht mir mehr Vergnügen.

Ach, ich begreife. Sie müssen sehr stolz sein! ... Das ist doch ganz anders als Herr Mouret, der die Türe vernagelt hat, damit niemand hereinkomme. Da war kein Besuch, kein Essen, der Garten war so leer, daß man sich abends fürchtete. Wir lebten wie die Wölfe. Mouret verstand es nicht zu empfangen; er machte ein böses Gesicht, wenn zufällig jemand kam! ... Er sollte sich ein Beispiel an dem Herrn Pfarrer nehmen. Anstatt mich einzuschließen, würde ich in den Garten hinuntergehen, mich mit den anderen unterhalten, standesgemäß leben ... Nein, da sitzt er oben und versteckt sich, als ob ihn jemand mit der Krätze anstecken könnte ... Da fällt mir gerade ein: wollen Sie nicht mit mir hinaufgehen und nachsehen, was er eigentlich oben treibt?

Eines Dienstags gingen sie hinauf. An jenem Tage waren die Gesellschaften recht laut; ihr Lachen drang in das Haus durch die offenen Fenster, während ein Lieferant, der den Trouche einen Korb Wein brachte, im zweiten Stock mit den leeren Flaschen einen Heidenlärm machte. Mouret hatte sich in seinem Büro doppelt eingeschlossen.

Ich kann nichts sehen, der Schlüssel steht vor, sagte Rosa, nachdem sie mit einem Auge durch das Schlüsselloch gespäht hatte.

Warten Sie, murmelte Frau Faujas.

Sie drehte das Ende des Schlüssels um, der ein wenig aus dem Schlüsselloch herausragte.

Mouret saß in der Mitte des Zimmers vor einem großen leeren Tische, der ganz mit Staub bedeckt war; kein Buch, kein Papier lag darauf; er saß mit dem Rücken an der Lehne des Stuhles; die Arme hingen schlaff herab, der Kopf war bleich und unbeweglich, das Auge starr. Er rührte sich nicht.

Die zwei Frauen betrachteten ihn schweigend, eine nach der andern.

Bis auf die Knochen hat es mich gefroren, sagte Rosa, als sie die Stiege hinunterging. Haben Sie seine Augen gesehen? Und welcher Schmutz! Er hat wohl seit Monaten keine Feder auf den Tisch gelegt. Ich dachte, er schreibe da drinnen! ... Wenn man bedenkt, daß es im Hause so lustig ist und er sich damit die Zeit vertreibt, einsam den Toten zu spielen! ...


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