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Zwölftes Kapitel.

Als der Sommer wiederkehrte, kamen der Abbé und seine Mutter neuerdings jeden Abend auf die Terrasse herunter, um frische Luft zu schöpfen. Mouret wurde mürrisch. Er schlug das Spiel aus, das die alte Frau ihm anbot. Er blieb in einem Schaukelstuhl sitzen und wiegte sich. Wenn er gähnte, ohne seine Langweile verbergen zu wollen, sagte Martha zu ihm:

Warum gehst du nicht in deinen Klub?

Er ging öfter als sonst dahin. Wenn er heimkam, fand er Martha und den Abbé auf demselben Platze auf der Terrasse, während Madame Faujas einige Schritte weiter immer dieselbe Haltung einer stummen und blinden Wächterin bewahrte. Wenn man in der Stadt mit Mouret über den neuen Pfarrer sprach, so stimmte er fortwährend das höchste Lob an. Er sei gewiß ein hervorragender Mann. Er, Mouret, habe nie an seinen hohen Fähigkeiten gezweifelt. Madame Paloque konnte nie ein böses Wort aus ihm herausbringen trotz der Bosheit, mit der sie sich mitten in einem Satze über den Abbé nach seiner Frau erkundigte. Der alten Frau Rougon gelang es auch nicht besser, irgendeinen geheimen Kummer herauszufinden, den sie hinter seiner Gutmütigkeit vermutete; sie sah ihm mit feinem Lächeln ins Gesicht, stellte ihm Fallen, aber dieser unverbesserliche Schwätzer, der über die ganze Stadt redete, schämte sich jetzt, wenn es sich um seine eigene Häuslichkeit handelte.

Dein Mann ist also doch vernünftig geworden? fragte eines Tages Felicité ihre Tochter. Er läßt dir die Freiheit.

Martha sah sie überrascht an.

Ich bin immer frei gewesen, sagte sie.

Liebes Kind, du willst ihn nicht anklagen ... Du hattest mir gesagt, daß er den Abbé Faujas mit scheelem Auge ansehe.

Aber nein, ich versichere dir ... Im Gegenteil, du hast dir das eingebildet ... Mein Mann steht mit dem Abbé Faujas auf dem besten Fuße. Sie haben keinen Grund, einander böse zu sein.

Martha wunderte sich über die Beharrlichkeit, mit der jedermann annahm, daß ihr Gatte und der Abbé keine guten Freunde seien. Oft stellten in den Ausschußsitzungen die Damen ihr Fragen, die sie ungeduldig machten. In Wahrheit fühlte sie sich sehr glücklich, sehr ruhig; nie hatte ihr das Haus in der Balande-Straße heimischer geschienen. Der Abbé Faujas hatte ihr zu verstehen gegeben, daß er die Leitung ihres Gewissens übernehme, sobald er finde, daß der Abbé Bourrette unzureichend sei, sie lebte also in dieser Hoffnung mit den kindlichen Freuden einer ersten Kommunikantin, der man Heiligenbilder versprochen hat, wenn sie brav sei. Sie glaubte von Zeit zu Zeit, wieder ein Kind zu werden; es überkam sie eine Frische des Gefühles, kindliche Wünsche, die sie im Innersten bewegten.

An einem Frühlingstage überraschte Mouret, der sein großes Gebüsch beschnitt, sie in der hinteren Gartenlaube inmitten des jungen Triebes in der warmen Luft mit Tränen in den Augen.

Was ist dir denn, meine Gute? fragte er beunruhigt.

Nichts, versicherte sie lächelnd. Ich bin zufrieden, sehr zufrieden.

Er zuckte mit den Achseln, indem er mit seiner Schere weiter hantierte, um eine gerade Linie an den Gebüschen zu schneiden; er setzte einen besonderen Stolz darein, jedes Jahr das am schönsten geschnittene Strauchwerk in dem Viertel zu haben. Martha, die ihre Augen getrocknet hatte, weinte von neuem heiße, große Tränen, bis in das Innerste durch den Geruch des frischen Grüns gepackt. Sie war damals vierzig Jahre alt und beweinte ihre Jugend.

Der Abbé Faujas zeigte, seitdem er Pfarrer von Saint-Saturnin geworden, eine Milde und Würde, die ihn noch größer erscheinen ließen. Prächtig wußte er sein Brevier und seinen Hut zu tragen. In der Kathedrale hatte er sich mit kraftvollen Verfügungen eingeführt, die ihm die Achtung des Klerus sicherten. Der Abbé Fenil, von neuem in mehreren Fragen besiegt, schien seinem Gegner das Feld zu räumen. Aber dieser beging nicht die Dummheit, laut zu triumphieren. Er hatte einen geschmeidigen und unterwürfigen Stolz, der überraschte. Er fühlte vollkommen, daß Plassans ihm noch lange nicht gehörte. So blieb er manchmal auf der Straße stehen, um Herrn Delangre die Hand zu schütteln, während er mit Herrn von Bourdeu, Herrn Maffre und den anderen Gästen des Präsidenten Rastoil nur einen kurzen Gruß wechselte. Ein großer Teil der Stadtbewohner kam ihm noch immer mit starkem Mißtrauen entgegen. Man beschuldigte ihn, von sehr verdächtiger politischer Gesinnung zu sein. Er sollte sich erklären, sich für eine Partei entscheiden. Aber er lächelte nur und sagte, daß er zur Partei der ehrlichen Leute stehe, was ihm eine bestimmte Antwort ersparte. Übrigens zeigte er keine Eile und hielt sich weiter abseits, indem er wartete, bis die Türen sich von selbst öffnen würden.

Nein, mein Freund, später wollen wir sehen, sagte er zu dem Abbé Bourrette, der ihn zu einem Besuche bei Herrn Rastoil drängte.

Man erfuhr, daß er zwei Einladungen zum Essen auf der Präfektur ausgeschlagen habe. Er besuchte immer nur die Mourets. Hier blieb er wie auf einem Beobachtungsposten zwischen den beiden feindlichen Lagern. Wenn am Dienstag die beiden Gesellschaften rechts und links in den Gärten waren, stellte er sich an das Fenster und schaute zu, wie die Sonne in der Ferne hinter den Wäldern von Seille unterging; dann warf er, ehe er sich zurückzog, einen Blick hinab und erwiderte in gleich liebenswürdiger Weise die Grüße der Rastoils und die der Präfektur. Das waren die Beziehungen, die er zu den Nachbarn unterhielt.

Aber an einem Dienstage ging er in den Garten hinunter. Der Garten Mourets gehörte jetzt ihm. Er begnügte sich nicht mehr mit der hinteren Laube, wenn er in seinem Brevier las; alle Alleen und Seitenanlagen durchwanderte er; sein Talar tauchte überall zwischen dem Grün auf.

An diesem Dienstage ging er herum, grüßte Herrn Maffre und Frau Rastoil, die er von oben herab erblickte; dann ging er unter der Terrasse der Präfektur vorüber, wo Herr von Condamin mit dem Dr. Porquier stand. Diese Herren grüßten ihn, und er ging die Allee wieder hinauf, als ihn der Doktor anrief:

Herr Abbé, bitte, auf ein Wort!

Er fragte ihn, um welche Stunde er ihn am folgenden Tage zu Hause antreffe. Das war das erstemal, daß eine der beiden Gesellschaften so den Priester von Garten zu Garten ansprach. Der Doktor war in großen Sorgen: Sein Taugenichts von einem Sohne war mit einer Schar anderer Nichtsnutziger in einem verdächtigen Hause hinter dem Gefängnisgebäude angetroffen worden. Das Schlimmste dabei war, daß man Wilhelm beschuldigte, der Anführer der Bande zu sein und die Söhne des Maffre, die viel jünger als er waren, verführt zu haben.

Bah, sagte Herr von Condamin mit seinem spöttischen Lächeln, Jugend muß austoben. Was ist weiter dabei! Die ganze Stadt ist in Aufruhr, weil die jungen Leute Baccarat spielten und man eine Dame bei ihnen antraf.

Der Doktor aber zeigte sich sehr gekränkt.

Ich möchte Sie um Rat fragen, wandte er sich an den Priester. Herr Maffre ist wie ein Wütender zu mir gekommen; er hat mir die heftigsten Vorwürfe gemacht und erklärt, ich sei daran schuld, weil ich meinen Sohn schlecht erzogen hätte ... Ich bin wirklich in einer peinlichen Lage. Man sollte mich doch besser kennen. Ich habe sechzig Jahre hinter mir ohne einen Makel daran.

Er klagte weiter, indem er die Opfer aufzählte, die er für seinen Sohn gebracht, und von seinen Patienten sprach, die er zu verlieren fürchtete. Der Abbé Faujas, der in der Allee stand, sah hinauf und hörte ernst zu.

Es wird mir ein großes Vergnügen sein, Ihnen zu dienen, sagte er bereitwillig. Ich werde Herrn Maffre besuchen und ihm zu verstehen geben, daß ihn seine gerechte Entrüstung zu weit getrieben hat. Ich werde ihn sogar bitten, mir für morgen eine Zusammenkunft zu bewilligen. Er ist dort drüben.

Damit schritt er durch den Garten und beugte sich zu Herrn Maffre hinüber, der in der Tat wie immer in Gesellschaft der Madame Rastoil war. Aber als der Bezirksrichter hörte, daß der Pfarrer eine Unterredung mit ihm wünsche, wollte er nicht, daß er sich bemühe, und stellte sich ihm zur Verfügung, indem er ihm sagte, daß er sich morgen die Ehre geben werde, ihn zu besuchen.

Ei, Herr Pfarrer! fügte Frau Rastoil hinzu, meinen Glückwunsch zu Ihrer Predigt am Sonntag. Ich versichere Sie, alle Damen waren davon gerührt.

Er grüßte und durchschritt von neuem den Garten, um auf den Dr. Porquier zuzugehen und ihn zu beruhigen. Dann wanderte er bis zum Einbrüche der Nacht in den Alleen herum, ohne sich weiter an der Unterhaltung der beiden Gesellschaften zu beteiligen, deren Lachen er rechts und links hörte.

Als ihn am folgenden Tage Herr Maffre besuchte, sah er eben den Arbeiten zweier Männer zu, die den Springbrunnen ausbesserten. Er hatte den Wunsch geäußert, das Wasser springen zu sehen, denn dieses Becken ohne Wasser sei, wie er sagte, gar so traurig. Mouret wollte nicht und meinte, es könne ein Unfall vorkommen; aber Martha hatte die Sache in die Hand genommen und bestimmt, daß das Becken mit einem Gitter umgeben werde.

Herr Pfarrer, rief Rosa, der Herr Friedensrichter ist da und fragt nach Ihnen.

Der Abbé Faujas ging schnell zu ihm. Er wollte ihn in seine Wohnung hinaufführen; aber Rosa hatte schon die Salontüre geöffnet.

Treten Sie doch ein! sagte sie. Sind Sie denn hier nicht zu Hause? Wozu denn den Herrn Friedensrichter zwei Stockwerke steigen lassen? ... Wenn Sie es mir heute früh gesagt hätten, würde ich den Salon geputzt haben.

Als sie die Türe hinter ihnen schloß, nachdem sie die Fensterläden geöffnet hatte, rief sie Mouret in das Speisezimmer:

Schon recht, Rosa, sagte er. Du gibst heute abend deinem Pfarrer mein Essen und wenn er oben zu wenig Decken hat, legst du ihn in mein Bett, nicht wahr?

Die Köchin wechselte einen verständnisvollen Blick mit Martha, die an dem Fenster arbeitete und wartete, bis die Sonne die Terrasse verlassen werde. Rosa zuckte mit den Achseln und sagte leise:

Gnädiger Herr, Sie haben nie ein gutes Herz gehabt.

Damit ging sie hinaus. Martha arbeitete weiter, ohne aufzublicken. Seit einigen Tagen arbeitete sie wieder wie in einer fieberhaften Aufregung. Sie stickte ein Altartuch; es war ein Geschenk für die Kathedralkirche. Die Damen wollten einen ganzen Altar schenken. Die Frauen Rastoil und Delangre hatten die Schenkung der Leuchter übernommen. Frau von Condamin ließ von Paris ein prächtiges silbernes Kruzifix kommen.

Unterdessen machte der Abbé im Salon dem Herrn Maffre freundliche Vorstellungen, indem er sagte, daß der Dr. Porquier ein religiöser Mann von großer Rechtlichkeit sei, und daß er am meisten unter dem beklagenswerten Benehmen seines Sohnes leide. Der Richter hörte aufmerksam zu; sein dickes Gesicht, seine großen, hervortretenden Augen nahmen bei gewissen frommen Worten, die der Priester schärfer betonte, einen Ausdruck des Entzückens an. Er gab zu, daß er ein wenig zu heftig gewesen sei, und erklärte sich zu allen Entschuldigungen bereit, wenn der Priester glaube, daß er gefehlt habe.

Und Ihre Söhne? fragte der Abbé. Sie müssen sie mir schicken; ich werde mit ihnen sprechen.

Herr Maffre schüttelte mit einem leisen Hohnlächeln den Kopf.

Haben Sie keine Furcht, Herr Pfarrer, die Jungen werden es nicht ein zweitesmal tun ... Seit drei Tagen sind sie bei Wasser und Brot in ihrem Zimmer eingesperrt, wenn ich einen Stock gehabt hätte, als ich die Geschichte erfuhr, ich hätte ihn auf ihren Rücken geschlagen.

Der Abbé sah ihn an und erinnerte sich, daß Mouret ihn beschuldigte, seine Frau durch seinen Geiz und seine Härte getötet zu haben; dann erwiderte er mit einer Gebärde der Verwahrung:

Nein, nein, das ist nicht der richtige Weg bei jungen Leuten. Ihr Ältester, Ambroise, ist eben zwanzig Jahre, der Jüngere geht in das achtzehnte, nicht wahr? Bedenken Sie, das sind keine Kinder mehr; man muß ihnen einige Vergnügungen gestatten.

Der Richter blieb stumm vor Überraschung.

So würden Sie sie rauchen und in das Kaffeehaus gehen lassen? fragte er leise.

Freilich, erwiderte der Priester lächelnd. Ich sage Ihnen nochmals, die jungen Leute müssen zusammenkommen, um miteinander zu plaudern, zu rauchen oder auch eine Partie Billard oder Schach zu spielen ... Sie werden sich alles erlauben, wenn Sie ihnen nichts gestatten. Nur können Sie sich wohl denken, daß ich sie nicht in alle Kaffeehäuser gehen lasse. Ich möchte für sie ein besonderes Haus, einen Klub, wie ich sie in mehreren Städten gesehen habe.

Damit entwickelte er einen ganzen Plan. Herr Maffre, der allmählich begriff, nickte mit dem Kopfe und sagte:

Sehr gut, sehr gut ... Es wäre ein Seitenstück zu dem Werke der heiligen Jungfrau. Ach, Herr Pfarrer, einen so schönen Plan muß man ausführen.

Nun also, schloß der Priester, indem er ihn bis auf die Straße begleitete, scheint Ihnen der Gedanke gut, so sprechen Sie darüber mit Ihren Freunden. Wenn ich mit Herrn Delangre zusammenkomme, rede ich gleicherweise mit ihm darüber ... Sonntag nach der Vesper können wir in der Kirche zusammenkommen, um einen Entschluß zu fassen.

Am nächsten Sonntag brachte Maffre Herrn Rastoil mit. Sie fanden den Abbé Faujas und Herrn Delangre in einem kleinen Zimmer, das an die Sakristei stieß. Die Herren zeigten sich sehr begeistert. Die Gründung eines Klubs für junge Leute wurde im Grundsatz beschlossen; nur stritt man einige Zeit über den Namen, den dieser Klub führen solle. Herr Maffre wollte durchaus, daß er Jesusklub heiße.

Nein, rief schließlich der Priester ungeduldig. Sie bekommen niemanden dazu, man macht sich über die geringe Zahl der Mitglieder lustig. Verstehen Sie wohl, es handelt sich nicht einmal darum, die Religion miteinzubeziehen; im Gegenteil, ich will die Religion ganz beiseite lassen. Wir wollen, daß die Jugend sich anständig unterhalte, wir wollen sie für unsere Sache gewinnen, weiter nichts.

Der Richter sah den Präsidenten so erstaunt und ängstlich an, daß Herr Delangre sich bücken mußte, um sein Lächeln zu verbergen. Er zog den Abbé heimlich an dem Talar. Dieser wurde ruhiger und fuhr in milderem Tone fort:

Ich hoffe, daß Sie mir trauen, meine Herren. Ich bitte, überlassen Sie mir diese Angelegenheit. Ich schlage einen ganz einfachen Namen vor, z. B. »Jugendklub«; dieser Name besagt, was es ist.

Herr Rastoil und Herr Maffre verneigten sich, obgleich ihnen dieser Name läppisch vorkam. Sie sprachen dann noch davon, den Herrn Pfarrer zum Vorsitzenden des vorläufigen Ausschusses zu wählen.

Ich glaube, sagte Herr Delangre leise und warf dem Abbé Faujas einen Blick zu, daß dies nicht in dem Wunsche des Herrn Pfarrers liegt.

Freilich, ich schlage es aus, erwiderte der Abbé und zuckte leicht mit den Achseln; mein Kleid würde die Furchtsamen und Lässigen abschrecken. Wir würden nur fromme junge Leute bekommen, und für diese gründen wir nicht den Klub. Wir wünschen, die Verirrten zu uns zurückzuführen; mit einem Worte, Jünger zu machen, nicht wahr?

Gewiß, antwortete der Präsident.

Da ist es besser, wir bleiben im Hintergrunde, besonders ich. Ich schlage folgendes vor: Ihr Sohn, Herr Rastoil, und der Ihrige, Herr Delangre, stellen sich allein an die Spitze. Sie gründen den Klub. Schicken Sie mir beide morgen, ich setze mich mit ihnen vollständig auseinander. Ein Lokal habe ich schon im Auge und auch die Statuten fertig ... Ihre beiden Söhne, Herr Maffre, stehen an der Spitze der Mitgliederliste.

Der Präsident schien von der seinem Sohne zugedachten Rolle geschmeichelt zu sein. Die Dinge wurden denn auch in dieser Weise festgesetzt, obwohl der Richter Widerstand leistete, weil er gehofft hatte, aus der Gründung des Klubs irgendwelchen Ruhm ziehen zu können. Vom folgenden Tage an setzten sich Severin Rastoil und Lucien Delangre mit dem Abbé Faujas in Verbindung. Severin war ein großer junger Mann von fünfundzwanzig Jahren mit schiefem Schädel und plattem Gehirn, der dank der Stellung seines Vaters soeben die Advokatenprüfung gemacht hatte. Der Präsident beschloß, ihn zum Staatsanwaltsvertreter ernennen zu lassen, weil er daran verzweifelte, daß er sich als Advokat jemals eine Praxis schaffe. Lucien hingegen war klein, mit lebhaftem Auge, offenem Kopfe und redete sicher wie ein alter Praktiker, obzwar er um ein Jahr jünger war; der »Anzeiger von Plassans« begrüßte ihn als die zukünftige Leuchte des Advokatenstandes. Letzterem gab der Abbé die genauesten Anweisungen. Der Sohn des Präsidenten lief herum und barst schier vor Hochmut. In drei Wochen war der Jugendklub gegründet und eingerichtet. Damals befanden sich unterhalb der Minoritenkirche, die am Ende der Promenade Sauvaire lag, große Räume und ein altes Klosterrefektorium, die alle nicht mehr benützt wurden. Das war das Lokal, das der Abbé Faujas im Auge hatte. Die Geistlichkeit des Sprengels trat es gern ab. Als eines Morgens der vorläufige Ausschuß des Jugendklubs in diese kellerartigen Räume Arbeiter geschickt hatte, sahen die Bürger bestürzt, daß man ein Kaffeehaus unter der Kirche einrichte. Nach fünf Tagen war kein Zweifel mehr möglich. Es handelte sich wirklich um nichts anderes als um ein Kaffeehaus. Man schaffte Sofas, Marmortische, Stühle, zwei Billards, drei Kisten voll Geschirr herbei. In die Mauer des Gebäudes wurde soweit wie möglich von dem Portale der Minoriten eine Türe gebrochen; hinter der Glastüre, die man zu öffnen hatte, nachdem man fünf steinerne Stufen hinabgestiegen war, hingen große rote Vorhänge wie in einem Restaurant. Zuerst kam man in einen großen Saal; dann war rechts ein kleineres Zimmer und ein Lesesalon; rückwärts in einem viereckigen Zimmer standen die zwei Billards genau unter dem Hauptaltar.

Ach, ihr armen Kerle, sagte eines Tages Wilhelm Porquier zu den beiden jungen Maffre, denen er auf der Promenade begegnete, man läßt euch jetzt zwischen zwei Partien Bézigue ministrieren.

Ambroise und Alphonse baten ihn flehentlich, mit ihnen nicht mehr am hellen Tage zu sprechen, weil ihr Vater ihnen gedroht habe, sie in die Marine zu stecken, wenn sie noch weiter mit ihm verkehrten. In Wirklichkeit blühte der Jugendklub, nachdem das erste Erstaunen vorüber war, ungemein auf. Bischof Rousselot übernahm das Amt eines Ehrenvorsitzenden und kam sogar eines Abends in Begleitung seines Sekretärs, des Abbé Surin, in die Klubräume. Sie tranken in dem kleinen Salon ein Glas Johannisbeerensaft; das Glas, aus dem der Bischof getrunken hatte, wurde mit großer Hochachtung auf einem Kredenztische aufbewahrt. Noch heute erzählt man es sich mit großer Rührung in Plassans. Dieses Ereignis hatte zur Folge, daß alle jungen Leute der besseren Stände dem Klub beitraten. Es gehörte zum guten Ton, Mitglied des Klubs zu sein.

Unterdessen schlich Wilhelm Porquier um den Klub herum wie ein junger Wolf, der in einen Schafstall einbrechen will. Die Söhne des Maffre liebten trotz der schrecklichen Furcht, die sie vor ihrem Vater hatten, diesen großen, schamlosen Jungen, der ihnen Geschichten aus Paris erzählte und mit ihnen unterhaltende Ausflüge in die Umgegend machte. So kamen sie schließlich jeden Samstag um neun Uhr auf einer Bank der Promenade du Mail mit ihm zusammen. Sie machten sich aus dem Klub davon und plauderten mit ihm bis elf Uhr im Dunkel der Platanen. Wilhelm kam beharrlich immer wieder auf die Abende zu sprechen, die sie unter der Minoritenkirche zubrachten.

Ihr seid doch gar zu gutmütige Narren, sagte er, daß ihr euch an der Nase herumführen lasset ... Nicht wahr, der Kirchendiener trägt euch das Zuckerwasser, als wäret ihr bei der Kommunion.

Aber nein, du bist im Irrtum, erklärte Ambroise. Man ist dort wie in einem Kaffee auf der Promenade, im Café de France oder im Kaffee der Reisenden. Man trinkt Bier, Punsch, Madeira, kurz alles was man will und was man überall trinkt.

Wilhelm spottete weiter:

Gleichviel, sagte er; ich möchte all den Pantsch nicht trinken; ich hätte Furcht, daß sie irgendein Pulver hineingegeben haben, das mich nötigt, zur Beichte zu gehen.

Die jungen Maffre lachten über diese Witze. Sie rissen ihn aber aus dem Irrtume und erzählten ihm, daß sogar das Kartenspiel erlaubt sei. Es rieche ganz und gar nicht nach der Kirche. Man habe es sehr gut, die Sofas seien schön, und es gebe Spiegel überall.

Nun, hub Wilhelm wieder an, ihr wollt mich nicht glauben machen, daß man die Orgel nicht hört, wenn abends in der Kirche Gottesdienst gehalten wird ... Ich brächte meinen Kaffee nicht hinunter, wenn ich wüßte, daß man oben tauft, traut und begräbt.

Das ist wahr, sagte Alphonse; als ich neulich am Tage eine Partie Billard mit Severin spielte, hörten wir deutlich, wie man jemanden begrub. Es war das Kind des Fleischers an der Ecke der Banne-Straße ... Severin ist dumm wie die Nacht; er glaubte mir Furcht einzujagen, indem er mir sagte, das Begräbnis werde mir auf den Kopf fallen.

Das ist ein schöner Klub! rief Wilhelm. Ich würde um alles Gold der Welt den Fuß nicht hineinsetzen. Da trinkt man ja gleich lieber seinen Kaffee in einer Sakristei.

Wilhelm fühlte sich sehr gekränkt, daß er nicht Mitglied des Jugendklubs war. Sein Vater hatte es ihm verboten, sich um die Aufnahme zu bewerben, da er fürchtete, er könne zurückgewiesen werden. Aber die Aufregung, in der er sich befand, wurde unerträglich; er schrieb ein Aufnahmegesuch, ohne jemandem etwas zu sagen. Es war eine peinliche Sache. Der Ausschuß, der über die Aufnahme sich auszusprechen hatte, zählte damals die jungen Maffre zu Mitgliedern. Lucien Delangre war Vorsitzender, Severin Rastoil Schriftführer. Die Verlegenheit dieser jungen Leute war fürchterlich. Keiner wagte, das Gesuch zu unterstützen; sie wollten aber dem Dr. Porquier, dem würdigen Manne, der so schöne Halsbinden trug und das Vertrauen der Damen der Gesellschaft besaß, keine Verdrießlichkeiten bereiten. Ambroise und Alphonse beschworen Wilhelm, die Dinge nicht weiter zu treiben, und gaben ihm zu verstehen, daß er sich keine Hoffnung machen dürfe.

So hört doch auf, erwiderte er ihnen; ihr seid alle beide Feiglinge. Glaubt ihr denn, ich will in eure Kumpanei eintreten? Das ist ja nur ein Spaß von mir. Ich will sehn, ob ihr den Mut habet, gegen mich zu stimmen ... Ich lache nur, wenn diese Scheinheiligen mir die Türe vor der Nase zuschlagen. Unterhaltet euch, wo ihr wollt; ich rede mit euch nicht mehr.

Die jungen Maffres baten voll Bestürzung Lucien Delangre, die Angelegenheit ohne Aufsehen zu ordnen. Lucien trug diesen schwierigen Fall seinem gewöhnlichen Ratgeber, dem Abbé Faujas vor, den er wie ein Jünger bewunderte. Der Abbé kam jeden Nachmittag in der Zeit von fünf bis sechs Uhr in den Jugendklub. Er durchschritt das große Zimmer mit leutseliger Miene, grüßte, blieb manchmal bei einem Tische stehen und plauderte einige Minuten mit einer Gruppe von jungen Leuten. Dann ging er in das Lesezimmer, setzte sich an den großen grünen Tisch und las aufmerksam alle Zeitungen, die der Klub hielt, die legitimistischen Blätter von Paris und der benachbarten Bezirke. Manchmal machte er sich schnell eine Notiz in ein kleines Heft. Dann ging er wieder ruhig fort, lächelte neuerdings den Stammgästen zu und reichte ihnen die Hand. Aber an gewissen Tagen blieb er länger, sah einer Schachpartie zu und sprach in heiterem Tone von allen möglichen Dingen. Die jungen Leute, die ihn gut leiden mochten, sagten von ihm:

Wenn er plaudert, glaubt man gar nicht, einen Priester vor sich zu haben.

Als der Sohn des Bürgermeisters ihm von der Verlegenheit erzählte, in die der Ausschuß durch das Gesuch Wilhelms versetzt worden sei, versprach der Abbé Faujas, sich ins Mittel zu legen. Wirklich kam er am folgenden Tage mit dem Dr. Porquier zusammen, dem er die Geschichte erzählte. Dieser war ganz niedergeschmettert. Sein Sohn wollte ihn also vor Kummer ins Grab bringen, indem er seine weißen Haare schändete. Was war da zu machen? Wenn das Gesuch zurückgezogen werde, sei die Schande nicht weniger groß. Der Priester riet ihm, Wilhelm für zwei oder drei Monate auf einen Besitz zu verbannen, den er einige Meilen von Plassans hatte; er werde dann das übrige schon machen. Die Lösung war die denkbar einfachste. Sobald Wilhelm fort war, legte der Ausschuß das Gesuch beiseite und erklärte, daß die Sache nicht dränge und ein Beschluß später gefaßt werde.

Dr. Porquier erfuhr diese Lösung eines Nachmittags durch Lucien Delangre, als er sich im Garten der Unterpräfektur befand. Er eilte auf die Terrasse. Es war die Brevierstunde des Abbé Faujas, der in der Gartenlaube der Mourets war.

Ach, Herr Pfarrer, wie soll ich Ihnen danken? sagte der Doktor, indem er sich hinunterbeugte. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich Ihnen die Hand drücken könnte.

Dazu ist es ein wenig zu hoch, erwiderte der Priester, der die Mauer lächelnd betrachtete.

Aber Dr. Porquier war ein Mann, dem das Herz überströmte, den kein Hindernis entmutigte.

Warten Sie, rief er. Wenn Sie erlauben, Herr Pfarrer, komme ich hinunter.

Damit verschwand er. Der Abbé ging lächelnd auf die kleine Türe zu, die auf die Sackgasse hinausging. Schon klopfte der Doktor leise an die Türe.

Die Türe ist vernagelt, sagte der Priester leise. Einer der Nägel ist gebrochen ... Wenn man ein Werkzeug hätte, so wäre es nicht schwer, den anderen herauszuziehen.

Er sah sich um und erblickte eine Hacke. Dann öffnete er mit einer kleinen Anstrengung die Türe, deren Riegel er zurückgeschoben hatte. Hierauf trat er in die Sackgasse, wo der Doktor ihn mit freundlichen Worten überhäufte. Als sie so plaudernd in der Gasse hin und her gingen, öffnete Herr Maffre, der sich gerade in dem Garten des Herrn Rastoil befand, seinerseits die Türe, die hinter dem Wasserfalle versteckt war. Nun lachten diese Herren sehr, sich alle drei in diesem einsamen Gäßchen so zusammenzufinden.

Sie blieben einen Augenblick beisammen. Als sie sich von dem Abbé verabschiedeten, blickten der Bezirksrichter und der Doktor in den Garten Mourets neugierig hinein.

Unterdessen sah Mouret, der seine Tomaten stützte, auf, und erblickte sie. Er blieb stumm vor Überraschung.

Jetzt sind sie in meinem Hause, sagte er leise. Es fehlt nur noch, daß der Pfarrer mir die beiden Banden herbringt.


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