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Zehntes Kapitel.

Der Sommer ging vorüber. Der Abbé Faujas schien durchaus nicht aus seiner wachsenden Beliebtheit Vorteil ziehen zu wollen. Er schloß sich immer noch bei den Mourets ein, glücklich über die Einsamkeit des Gartens, in den er schließlich auch tagsüber hinabging. Er las sein Brevier in der hinteren Laube und schritt langsam, den Kopf gesenkt, die Gartenmauer entlang. Manchmal schloß er das Buch und verlangsamte noch seine Schritte, als sei er in einen tiefen Traum gesunken. Mouret, der ihn beobachtete, wurde schließlich von einer dumpfen Ungeduld erfaßt, wenn er die schwarze Gestalt sah, die unter seinen Obstbäumen stundenlang hin und her ging.

Man ist nicht mehr Herr in seinem Hause, sagte er leise. Ich kann jetzt nicht aufblicken, ohne diesen Talar zu entdecken. Der Mensch da ist wie die Raben. Er hat ein rundes Auge, das etwas zu belauern und zu erwarten scheint. Ich traue nicht seiner scheinbaren großen Teilnahmlosigkeit.

In den ersten Septembertagen war das Haus des Werkes der heiligen Jungfrau fertig. Die Arbeiten ziehen sich in der Provinz dahin. Freilich hatte der Ausschuß zweimal die Pläne des Herrn Lieutaud durch seine eigenen Gedanken umgestoßen. Als er die Anstalt übernahm, belohnte er den Architekten durch die liebenswürdigsten Lobsprüche. Alles schien ihnen zu gefallen: die großen Säle, die Spielräume, der Hof, der mit Bäumen bepflanzt und mit zwei Springbrunnen geschmückt war. Frau von Condamin war von der Außenseite entzückt, die ihr Gedanke war. Über der Türe war auf einer schwarzen Marmorplatte in goldenen Buchstaben zu lesen: Werk der heiligen Jungfrau.

Die Einweihung gestaltete sich zu einem sehr rührenden Feste. Der Bischof selbst mit dem ganzen Kapitel führte die Schwestern vom heiligen Joseph ein, die bestimmt waren, die Anstalt zu leiten. Man hatte fünfzig Mädchen von acht bis fünfzehn Jahren auf den Straßen des alten Viertels aufgelesen und dort untergebracht. Die Eltern brauchten nur zu erklären, daß sie infolge ihrer Beschäftigung den ganzen Tag vom Hause ferngehalten würden. Herr Delangre hielt eine Rede, die sehr gefiel; er erläuterte in edlem Stile ausführlich diese neuartige Bewahranstalt, die er eine »Schule der guten Sitten und der Arbeit« nannte, wo junge und anziehende Geschöpfe den bösen Versuchungen entrinnen sollten. Gegen das Ende der Rede wurde eine zarte Andeutung auf den eigentlichen Gründer des Werkes, den Abbé Faujas, sehr bemerkt. Dieser befand sich bei den anderen Priestern unter den Anwesenden. Sein schönes, ernstes Gesicht blieb unempfindlich, als alle auf ihn blickten. Martha war auf der Erhöhung, wo sie inmitten der Ausschußdamen saß, errötet. Als die Feier vorüber war, wollte der Bischof das Haus in allen Einzelheiten besichtigen. Trotz der augenscheinlichen Verstimmung des Abbé Fenil ließ er den Abbé Faujas rufen, dessen schwarze Augen nicht einen Augenblick von ihm gewichen waren, und bat diesen, ihn begleiten zu wollen, indem er lächelnd hinzufügte, daß er gewiß keinen besseren Führer wählen könne. Diese Worte machten unter den Anwesenden, die sich zurückzogen, die Runde; am Abend sprach ganz Plassans von dieser Haltung des Bischofs.

Der Ausschuß der Damen hatte in dem Hause ein Zimmer für sich behalten, wo er dem Bischöfe eine Erfrischung anbot; er nahm ein Biskuit und ein Gläschen Malaga an, wobei er Gelegenheit fand, zu jeder der Damen liebenswürdig zu sein. Dies schloß das fromme Fest in glücklicher Weise ab, denn es hatte vor und während der Feier unter den Damen an Kränkungen wegen verletzter Eitelkeit nicht gefehlt. Das zarte Lob Seiner bischöflichen Gnaden brachte alle wieder in gute Laune. Als sie wieder allein waren, erklärten sie, daß alles sehr gut abgelaufen sei, und waren unerschöpflich in Lobsprüchen auf die Huld des Prälaten. Nur Frau Paloque war verletzt; der Bischof hatte, als er allen sich liebenswürdig zeigte, sie übergangen.

Du hattest recht, sagte sie wütend zu ihrem Manne, als sie heimkehrte, ich war bei ihren Dummheiten der Hund! Ein schöner Gedanke, diese verwahrlosten Gassenmädchen zusammenzustecken! ... Ich habe ihnen meine ganze Zeit gewidmet, und dieser kindische Bischof, der vor seiner Klerisei zittert, hat nicht einmal einen Dank für mich gefunden! ... Als ob Frau von Condamin etwas geleistet hätte! ... Diese »Ehemalige« hat ja genug zu tun, um ihre Toiletten zu zeigen. Wir wissen, was wir wissen, nicht wahr? Man zwingt uns schließlich, Geschichten zu erzählen, die nicht jedermann lustig finden wird. Wir haben nichts zu verheimlichen. Und Madame Delangre und Madame Rastoil! Es wäre ein leichtes, sie bis ins Weiße der Augen erröten zu machen. Haben sie sich auch nur aus ihren Salons gerührt? Haben sie sich halb soviel Mühe genommen wie ich? Und diese Madame Mouret, die sich den Schein gab, als leite sie das Ganze, und die nichts anderes tat als sich an den Talar ihres Abbé Faujas zu hängen! Das ist auch so eine Scheinheilige, die uns noch schöne Sachen wird sehen lassen ... Alle, alle haben ein liebenswürdiges Wort erhalten; ich nichts. Ich bin der Hund ... Siehst du, so kann es nicht weitergehen, Paloque. Der Hund beißt schließlich.

Von diesem Tage an zeigte sich Madame Paloque viel weniger gefällig. Sie führte die Schreibereien nur sehr unregelmäßig, schlug die Arbeiten aus, die ihr mißfielen, so daß die Damen davon sprachen, einen Beamten zu nehmen. Martha erzählte ihre Sorgen dem Abbé Faujas, den sie fragte, ob er ihr nicht eine geeignete Persönlichkeit empfehlen könne.

Suchen Sie nicht, erwiderte er ihr; ich werde vielleicht jemanden bekommen ... Lassen Sie mir nur zwei oder drei Tage Zeit.

Seit einiger Zeit erhielt er häufig Briefe mit dem Poststempel Besançon. Sie zeigten alle die gleiche plumpe, häßliche Schrift. Rosa, die sie ihm hinauftrug, behauptete, daß er sich ärgere, wenn er nur den Umschlag sehe.

Er wird grün und gelb, sagte sie. Gewiß kann er die Person nicht leiden, die ihm so oft schreibt.

In Mouret regte sich wegen dieser Korrespondenz einen Augenblick die alte Neugierde. Eines Tages trug er selbst einen solchen Brief hinauf, indem er sich mit liebenswürdigem Lächeln entschuldigte und sagte, Rosa sei nicht da. Der Abbé war ohne Zweifel mißtrauisch, denn er spielte den Erfreuten, als habe er schon mit Ungeduld diesen Brief erwartet. Aber Mouret ließ sich durch dieses Spiel nicht täuschen; er blieb auf dem Treppenabsatz stehen und hielt das Ohr an das Schlüsselloch.

Wieder von deiner Schwester? fragte die rauhe Stimme der Frau Faujas. Weshalb verfolgt sie dich so?

Dann ward es still; ein Papier wurde heftig zusammengeknittert und der Abbé brummte:

Immer dasselbe Lied. Sie will herkommen und ihren Mann mitbringen, damit ich ihm eine Stelle verschaffe. Sie glaubt, daß wir im Golde schwimmen ... Ich fürchte, sie machen eines Tages einen dummen Streich und kommen uns über den Hals.

Nein, nein, wir brauchen sie nicht, hörst du, Ovide! hub die Mutter wieder an. Sie haben dich nie geliebt, sind immer auf dich eifersüchtig gewesen ... Trouche ist ein Taugenichts und Olympe hat kein Herz. Du sollst sehen, sie wollen allen Vorteil für sich haben. Sie würden dich kompromittieren und dich in allem stören.

Mouret hörte schlecht, da er durch sein unfeines Tun sehr in Aufregung gekommen war. Er glaubte, daß man zur Türe komme, weshalb er sich davonmachte. Übrigens hütete er sich, dieser Tat sich zu rühmen.

Einige Tage später gab der Abbé auf der Terrasse in seiner Anwesenheit Martha eine endgültige Antwort:

Ich kann Ihnen einen Beamten vorschlagen, sagte er ganz ruhig: Es ist einer meiner Verwandten, mein Schwager, der in einigen Tagen von Besançon hier ankommt.

Mouret spitzte die Ohren. Martha schien entzückt.

Ei, um so besser! rief sie aus. Ich war wegen einer guten Wahl in Verlegenheit. Sie sehen ein, ich brauche einen Mann von tadelloser Sittlichkeit bei diesen jungen Mädchen ... Da es sich aber um einen Ihrer Verwandten handelt ...

Ja, erwiderte der Priester. Meine Schwester hatte einen kleinen Wäschehandel in Besançon; sie mußte ihn indes aus Gesundheitsrücksichten aufgeben. Jetzt wünscht sie bei uns zu sein, nachdem ihr die Ärzte die südliche Luft empfohlen haben ... Meine Mutter ist darüber sehr glücklich.

Gewiß, sagte Martha, Sie haben sich vielleicht nie getrennt und wollen wieder vereint sein ... Wissen Sie, was Sie tun können? Oben sind zwei Zimmer, die Sie nicht benutzen. Warum sollten Ihre Schwester und ihr Gatte nicht da wohnen? ... Haben sie keine Kinder?

Nein, sie sind nur ihrer zwei ... Ich hatte wirklich einen Augenblick daran gedacht, ihnen diese zwei Zimmer zu überlassen; nur fürchtete ich, Ihnen lästig zu fallen, wenn ich diese Leute hier wohnen lasse.

Aber ganz und gar nicht, ich versichere, Sie sind ja so friedliche Leute! ...

Sie hielt inne. Mouret zog sie heftig an dem Zipfel ihres Kleides. Er wollte nicht die Verwandten des Abbé in seinem Hause haben, denn er erinnerte sich an die häßliche Art, wie Madame Faujas von ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn gesprochen hatte.

Die Zimmer sind sehr klein, sagte er, der Herr Abbé könnte gestört sein ... Es wäre für alle besser, wenn die Schwester des Herrn Abbé sich nebenan einmietet; es ist gerade in dem Hause der Paloques vornheraus eine Wohnung frei.

Das Gespräch stockte. Der Priester antwortete nichts und sah in die Luft. Martha glaubte, er sei beleidigt; der rauhe Ton ihres Mannes kränkte sie. Nach einem Augenblicke konnte sie dieses verlegene Schweigen nicht länger ertragen.

Es ist abgemacht, hub sie an, ohne weiter zu versuchen, in geschickterer Weise das Gespräch wieder anzuknüpfen. Rosa soll Ihrer Mutter behilflich sein, die beiden Zimmer zu reinigen ... Mein Mann denkt nur an Ihre Bequemlichkeit; aber in dem Augenblicke, wo Sie es wünschen, hindern wir Sie nicht, nach Ihrem Belieben über die Wohnung zu verfügen.

Als Mouret mit seiner Frau allein war, wurde er zornig:

Ich verstehe dich wirklich nicht. Als ich dem Abbé die Wohnung vermietete, schmolltest du und wolltest keine Katze ins Haus lassen; jetzt könnte der Abbé seine ganze Familie, die ganze Sippe bis zum Urgeschwisterkind mitbringen ... Du bedanktest dich noch ... Ich habe dich doch genug bei dem Kleide gezerrt. Hast du es denn nicht gemerkt? Es war ganz klar, ich wollte diese Leute nicht ... Es sind keine ehrlichen Leute.

Wie kannst du das wissen? rief Martha, die die Ungerechtigkeit aufregte. Wer hat dir das gesagt?

Nun, der Abbé Faujas selbst... Ich habe ihn eines Tages gehört, wie er mit seiner Mutter sprach.

Sie sah ihn scharf an; er errötete ein wenig und stammelte dann:

Kurz, ich weiß es und das genügt ... Die Schwester ist herzlos und ihr Mann ein Taugenichts. Du kannst immer die Beleidigte spielen, es sind dies ihre eigenen Worte, ich erfinde nichts. Du siehst ein, daß ich die Leute in meinem Hause nicht mag. Die Alte war die erste, die von ihrer Tochter nichts hören wollte. Jetzt spricht der Abbé anders. Ich weiß nicht, was ihn dazu kann bestimmt haben. Es ist eine neue Geheimniskrämerei von ihm. Sicherlich braucht er sie.

Martha zuckte die Achseln und ließ ihn schimpfen. Er gab Rosa den Befehl, die Zimmer nicht zu reinigen; aber Rosa gehorchte nur mehr der gnädigen Frau. Fünf Tage lang machte sich sein Zorn in bitteren Worten und schrecklichen Vorwürfen Luft. Wenn der Abbé anwesend war, schmollte er nur und wagte nicht, ihn offen anzugreifen. Schließlich fügte er sich wie immer. Er fand nur Spöttereien gegen diese Leute, deren Ankunft man erwartete. Er zog die Schnüre seines Geldbeutels noch besser zusammen, sonderte sich noch mehr ab und zog sich ganz in den selbstsüchtigen Kreis zurück, in dem er sich bewegte. Als die Trouches sich an einem Oktoberabend einstellten, sagte er einfach:

Teufel! Die riechen nicht gut, sie sehen verdammt verdächtig aus.

Der Abbé Faujas schien wenig geneigt, seine Schwester und seinen Schwager am Tage ihrer Ankunft sehen zu lassen. Die Mutter stand auf der Schwelle der Haustüre. Sobald sie sie um den Präfekturplatz kommen sah, paßte sie auf und warf unruhige Blicke in das Vorhaus und in die Küche. Aber ihre Vorsicht war erfolglos. Als die Trouches eintraten, kam gerade Martha mit ihren Kindern aus dem Garten herauf.

Ei, da ist die ganze Familie, sagte sie mit einem verbindlichen Lächeln.

Frau Faujas, die gewöhnlich sich immer beherrschen konnte, geriet ein wenig in Verlegenheit und stotterte eine Antwort. Sie standen sich einige Minuten mitten im Vorhause einander prüfend gegenüber. Mouret war schnell die Stufen der «Freitreppe hinaufgegangen; Rosa hatte sich auf der Schwelle der Küchentüre aufgestellt.

Sie müssen sich sehr glücklich fühlen, wandte sich Martha an Frau Faujas.

Da sie die Verlegenheit fühlte, die alle stumm machte, wollte sie sich gegen die Neuangekommenen liebenswürdig zeigen und wandte sich mit den Worten zu Trouche:

Sie sind mit dem Fünfuhrzuge angekommen, nicht wahr? ... Wie weit ist es von Besançon bis hierher?

Man fährt siebzehn Stunden mit der Eisenbahn, erwiderte Trouche und zeigte seinen zahnlosen Mund. In der dritten Klasse zu fahren, ist schrecklich, sage ich Ihnen ... Es wird einem der Magen förmlich umgedreht.

Er fing an zu lachen mit einem sonderbaren Geräusche der Kinnbacken. Madame Faujas warf ihm einen schrecklichen Blick zu. Dann versuchte er einen zerbrochenen Knopf seines schmierigen Rockes festzumachen und hielt zwei Hutschachteln vor sich hin, eine grüne und eine gelbe, ohne Zweifel um die Flecke zu verbergen. Sein rötlicher Hals blähte sich unter der Schleife einer schwarzen, zusammengedrehten Krawatte fortwährend und ließ nur das Ende eines schmutzigen Hemdes sehen. In seinem blatternarbigen Gesicht, dem man alle Laster ablesen konnte, flammten zwei kleine schwarze Augen, die fortwährend mit verstörten und gierigen Blicken die Leute und die Sachen betrachteten; die Augen eines Diebes, der das Haus besichtigt, wo er eines Nachts einbricht.

Mouret glaubte, daß Trouche die Schlösser betrachte.

Der schaut, um Abdrücke zu nehmen, der Taugenichts, dachte er.

Unterdessen sah Olympe ein, daß ihr Mann eine Dummheit gesagt habe. Sie war eine große, magere, schmächtige Blondine mit einem platten, unangenehmen Gesichte. Sie trug eine kleine Kiste von weichem Holze und ein großes Paket, das in ein Tischtuch eingebunden war.

Wir hatten uns Kissen mitgenommen, sagte sie und wies mit einem Blicke auf das große Bündel hin. Mit Kissen geht es schon in der dritten Klasse; man fährt dann so bequem, als sitze man in der ersten. Es ist eine bedeutende Ersparnis! Wenn man auch noch soviel Geld hat, braucht man es doch nicht zum Fenster hinauszuwerfen, nicht wahr. Madame? Gewiß, erwiderte Martha, ein wenig über diese Leute erstaunt.

Olympe trat ein wenig in die Helle vor und fuhr in einschmeichelndem Tone fort:

Es ist gerade so mit den Kleidern; ich ziehe auf die Reise nur das Schlechteste an. Ich sagte zu Honoré: »Was, dein alter Rock ist gut genug.«. Er hat auch seine Arbeitshose an, eine Hose, die er sonst nicht mehr trägt ... Sie sehen, ich habe mein schlechtestes Kleid angezogen, das, wie ich glaube, sogar schon einige Löcher hat. Diesen Schal da habe ich von der Mutter; ich binde ihn immer zu Hause um ... Und erst mein Hut! Ein alter Hut, den ich nur aufsetze, wenn ich ins Waschhaus gehe ... Alles das ist noch zu gut für den Staub, nicht wahr, Madame?

Gewiß, gewiß, wiederholte Martha, die zu lächeln versuchte.

In diesem Augenblicke ließ sich oben eine gereizte Stimme vernehmen:

Nun, Mutter?

Mouret sah hinauf und bemerkte den Abbé an dem Geländer des zweiten Stockes, mit fürchterlichem Gesichte und sich so weit herabbeugend, daß er herunterzufallen drohte, um nur besser sehen zu können, was in dem Vorhause geschah. Er hatte Stimmen gehört und mußte schon seit einer Weile ungeduldig geworden sein.

Nun, Mutter? rief er von neuem.

Ja, ja, wir kommen hinauf, erwiderte Madame Faujas, die bei der wütenden Stimme ihres Sohnes zu erzittern schien.

Sie wandte sich zu dem Ehepaar Trouche:

Kinder, wir müssen hinauf ... Halten wir die gnädige Frau nicht auf!

Aber die Trouches schienen nicht zu hören. Es gefiel ihnen in dem Vorhause, denn sie sahen sich entzückt um, als habe man ihnen das Haus geschenkt.

Das ist sehr schön, sehr schön, sagte Olympia leise, nicht wahr, Honoré? Nach den Briefen Ovids dachten wir nicht, daß es so schön sei. Ich sagte es dir ja: Wir müssen hin, wir befinden uns dort besser und ich werde gesünder. Hatte ich recht?

Ja, ja, da muß es einem sehr gefallen, sagte Trouche zwischen den Zähnen ... Und der Garten ist ziemlich groß, glaube ich.

Dann wandte er sich an Mouret:

Mein Herr, erlauben Sie Ihren Mietern, im Garten spazieren zu gehen?

Mouret hatte keine Zeit zu antworten. Der Abbé Faujas war heruntergekommen und rief mit donnernder Stimme:

Nun, Trouche? Nun, Olympia?

Sie drehten sich um. Als sie ihn auf der Treppe in schrecklichem Zorne stehen sahen, da gaben sie klein bei und folgten ihm unterwürfig. Er ging ihnen voran hinauf, ohne noch ein Wort zu sagen, ohne nur bemerken zu wollen, daß die Mourets da waren, die diese eigentümliche Szene beobachteten. Madame Faujas wollte alles gutmachen und lächelte Martha zu, während sie den Zug beschloß. Als alle fort waren und Mouret sich allein befand, blieb er noch einen Augenblick in dem Vorraum. Oben im zweiten Stock wurden die Türen heftig zugeschlagen; dann hörte man laute Stimmen, hierauf wurde es totenstill.

Hat er sie eingesperrt? sagte er lachend. Es ist eine schmutzige Familie.

Am folgenden Tage wurde Trouche, der, wie sich's gehört, schwarz gekleidet war und seine wenigen Haare sorgfältig über die Schläfen hinausgekämmt hatte, von dem Abbé Martha und den anderen Damen vorgestellt. Er war fünfundvierzig Jahre alt, besaß eine sehr schöne Schrift und sagte, daß er lange Zeit hindurch die Bücher in einem Handlungshause geführt habe. Die Damen stellten ihn sofort an. Er mußte den Ausschuß vertreten und sich mit den Verwaltungsangelegenheiten von zehn bis vier Uhr in einer Kanzlei beschäftigen, die sich im ersten Stocke der Anstalt der heiligen Jungfrau befand. Sein Gehalt betrug fünfzehnhundert Franken.

Du siehst, diese Leute sind sehr ruhig, meinte Martha nach einigen Tagen zu ihrem Gatten.

Wirklich machten die Trouches nicht mehr Lärm als die Faujas. Zwei- oder dreimal wollte wohl Rosa einen Streit zwischen der Mutter und der Tochter gehört haben; aber sofort erhob sich die ernste Stimme des Abbé und stiftete Frieden. Trouche ging regelmäßig um dreiviertel zehn Uhr fort und kehrte um einviertel fünf Uhr zurück; abends ging er nicht aus. Olympia ging manchmal mit Madame Faujas einkaufen; niemand hatte sie noch allein herunterkommen sehen.

Das Fenster des Zimmers, in dem die Trouche schliefen, ging auf den Garten; es war rechts das letzte gegenüber den Bäumen der Präfektur. Grobe Vorhänge von rotem Kattun, mit einem gelben Streifen besetzt, hingen hinter den Scheiben. Übrigens blieb das Fenster beständig geschlossen. Als eines Abends der Abbé Faujas mit seiner Mutter sich in Gesellschaft der Mouret auf der Terrasse befand, ließ sich ein leises, unfreiwilliges Husten vernehmen. Der Abbé hob erzürnt den Kopf und bemerkte die Schatten der Olympia und ihres Mannes, die unbeweglich zum Fenster herausgebeugt standen. Er sah einen Augenblick empor und unterbrach sein Gespräch mit Martha. Die Trouche verschwanden. Man hörte das heisere Knarren des Riegels.

Mutter, sagte der Priester, du solltest hinaufgehen; ich fürchte, du erkältest dich.

Madame Faujas wünschte der Gesellschaft einen guten Abend. Als sie fort war, begann Martha wieder das Gespräch und fragte in verbindlichem Tone:

Befindet sich Ihre Schwester schlimmer? Ich habe sie seit acht Tagen nicht gesehen.

Sie bedarf sehr der Ruhe, erwiderte der Priester trocken.

Aber sie beharrte aus Gutherzigkeit bei der Sache:

Sie schließt sich zu viel ein, die Luft würde ihr gut tun ... Die Oktoberabende sind noch warm ... Warum kommt sie niemals in den Garten? Sie hat ihn noch gar nicht betreten. Sie wissen doch, daß der Garten ganz zu Ihrer Verfügung steht.

Er entschuldigte sich, indem er nach nichtssagenden Worten suchte; aber Mouret, der ihn noch mehr in Verlegenheit bringen wollte, wurde noch liebenswürdiger als seine Frau:

Ja, das sagte ich heute früh auch. Die Schwester des Herrn Abbé sollte lieber nachmittags in der Sonne draußen nähen, anstatt sich oben einzusperren. Es sieht so aus, als wage sie nicht einmal, an dem Fenster zu erscheinen. Fürchtet sie sich vielleicht vor uns? Wir sehen doch gar nicht so schrecklich aus ... Ebenso ist es mit Herrn Trouche; er stürmt wie gejagt die Treppe hinauf. Sagen Sie ihnen doch, daß sie von Zeit zu Zeit herabkommen und einen Abend mit uns zubringen. Sie müssen sich ja zu Tode langweilen da oben ganz allein in ihrem Zimmer.

Der Abbé war an diesem Abend nicht gelaunt, die Spöttereien seines Hausherrn zu ertragen. Er sah ihm ins Gesicht und sagte mit fester Betonung:

Ich danke Ihnen, aber es ist wenig wahrscheinlich, daß sie es annehmen. Sie sind am Abend müde und legen sich nieder, übrigens ist es das Beste, was sie tun können.

Wie Sie wollen, mein lieber Herr, erwiderte Mouret, den der rauhe Ton des Abbé reizte.

Als er mit Martha allein war, sagte er:

So, so! Glaubt der, er wird mir ein X für ein U vormachen? Es ist klar: er fürchtet, dieses Pack, das er in unser Haus genommen hat, könne ihm einen schlimmen Streich spielen ... Du hast es heute abend gesehen, wie er in Zorn geriet, als er sie am Fenster bemerkte. Sie waren dort, um uns zu belauern. Es nimmt ein schlechtes Ende.

Martha lebte in großer Ruhe dahin. Sie hörte nicht mehr das Geschimpfe Mourets. Daß sie für den Glauben gewonnen ward, erfüllte sie mit einer köstlichen Freude; sie versenkte sich langsam ohne Aufregung in Andacht; sie wiegte sich darin ein und fiel dabei gleichsam in Schlummer. Der Abbé Faujas vermied es immer noch, mit ihr von Gott zu sprechen; er blieb ihr Freund und bezauberte sie nur durch seinen Ernst und jenen unbestimmten Weihrauchgeruch, der von seinem Talar ausströmte. Zwei oder drei Male war sie mit ihm allein wieder in ein nervöses Schluchzen ausgebrochen, ohne zu wissen warum, nur weil sie sich glücklich fühlte, so zu weinen. Jedesmal hatte er sich begnügt, sie schweigend bei den Händen zu nehmen, und sie mit seinem ruhigen und mächtigen Blicke besänftigt. Wenn sie mit ihm von ihrer grundlosen Traurigkeit, ihren geheimen Freuden und ihrem Bedürfnisse geleitet zu werden sprechen wollte, lächelte er nur und hieß sie schweigen. Er sagte, daß es ihn nichts angehe und daß sie darüber mit dem Abbé Bourrette sprechen müsse. Dann behielt sie zusammenschauernd alles für sich. Er aber nahm eine hoheitsvolle Miene an und hielt sich in ferner Höhe von ihr wie ein Gott, zu dessen Füßen sich schließlich ihre Seele niederwarf.

Die Hauptbeschäftigung Marthas war jetzt, daß sie Messen und anderen religiösen Übungen beiwohnte. Sie befand sich in dem Hauptschiffe der Kirche Saint-Saturnin so wohl und genoß dort vollkommener jene leibliche Ruhe, die sie suchte. Wenn sie dort war, vergaß sie alles; es war wie ein ungeheueres Fenster, das sich auf ein anderes Leben öffnete, auf ein langes, endloses Leben, voll einer Erregung, die sie ganz erfüllte und ihr genügte. Aber sie hatte noch immer Furcht vor der Kirche; sie trat mit einem unruhigen Scheugefühl daselbst ein, das sie unwillkürlich nötigte, sich umzublicken, wenn sie die Türe öffnete, um zu sehen, ob niemand da sei und sie eintreten sehe. Dann gab sie sich ganz hin; alles rührte sie, selbst die breite Stimme des Abbé Bourrette, der sie manchmal nach der Beichte noch einige Minuten lang auf den Knien ließ und mit ihr von den Essen der Madame Rastoil oder von der letzten Gesellschaft bei den Rougons sprach.

Martha kam oft niedergeschlagen nach Hause. Die Religion drückte sie nieder. Rosa war in der Wirtschaft allmächtig geworden. Sie sprang jetzt sehr barsch mit Mouret um, zankte mit ihm, weil er zu viel Wäsche schmutzig mache, und hieß ihn speisen, wenn das Essen fertig war. Sie unternahm es sogar, an seinem Seelenheil zu arbeiten.

Die gnädige Frau hat recht, ein christliches Leben zu führen, sagte sie zu ihm. Sie werden in Verdammnis geraten, gnädiger Herr, und das ist ganz recht, denn Sie sind im Grunde genommen nicht gut; nein, Sie sind nicht gut ... Sie sollten sie am nächsten Sonntag zur Messe führen.

Mouret zuckte mit den Achseln. Er ließ die Sache gehen und half selbst in der Wirtschaft mit, indem er das Speisezimmer auskehrte, wenn es ihm zu schmutzig war. Die Kinder machten ihm mehr Sorge. Desirée und Octave, der bei der Maturitätsprüfung durchgefallen war, stürzten in den Ferien das Haus um, weil die Mutter nie da war. Serge war leidend, hütete das Bett und las tagelang in seinem Zimmer.

Der Abbé Faujas hatte ihn sehr liebgewonnen und lieh ihm Bücher. Mouret verbrachte zwei schreckliche Monate, da er sich keinen Rat wußte, wie er die Kinder leiten sollte. Octave besonders machte ihn schier toll. Er wollte das neue Schuljahr nicht mehr abwarten und beschloß, den Jungen nicht mehr studieren zu lassen, sondern ihn in ein Handlungshaus nach Marseille zu geben.

Du willst nicht mehr über sie wachen, sagte er zu Martha, so muß ich sie irgendwo unterbringen ... Ich habe es satt und will sie lieber aus dem Hause haben. Um so schlimmer, wenn du darunter leidest! ... Octave ist unerträglich; die Prüfung besteht er nie. Es ist besser, ich lasse ihn sofort etwas lernen, wodurch er seinen Lebensunterhalt verdient, als ihn mit einem Haufen Nichtsnutziger herumlaufen. Man begegnet ihm überall in der Stadt.

Martha ging es sehr zu Herzen; sie erwachte wie aus einem Traume, als sie erfuhr, daß eines ihrer Kinder sich von ihr trennen solle. Durch acht Tage erlangte sie einen Aufschub der Abreise. Sie blieb sogar zu Hause und nahm wieder ihr tätiges Leben von früher auf. Dann erschlaffte sie von neuem; und als ihr Octave unter Küssen mitteilte, daß er an diesem Abend nach Marseille abreise, war sie kraftlos und begnügte sich, ihm gute Ratschläge zu geben.

Als Mouret von der Eisenbahn zurückkam, war ihm das Herz zu schwer. Er suchte seine Frau und fand sie in dem Garten in einer Laube, wo sie weinte. Er machte sich Luft.

Nun ist einer hinaus! rief er. Das muß dir doch Freude machen. Jetzt kannst du ganz nach Herzenslust in den Kirchen herumstreichen ... Sei ruhig, die beiden anderen werden nicht lange hier bleiben. Serge behalte ich noch zu Hause, weil er sehr schwach ist und noch zu jung, um die Rechte zu studieren; aber wenn er dir im Wege ist, brauchst du es nur zu sagen, ich befreie dich auch von ihm ... Desirée geht zu ihrer Amme.

Martha fuhr fort, still zu weinen.

Was willst du? Man kann nicht draußen und zugleich zu Hause sein. Du hast dir die Außenwelt erwählt, deine Kinder sind dir nichts mehr, das ist doch logisch ... Übrigens muß jetzt für die Leute Platz gemacht werden, die in unserem Hause wohnen, nicht wahr? Unser Haus ist nicht mehr groß genug. Es ist noch ein Glück, wenn man uns nicht hinausjagt.

Er hatte den Kopf gehoben und sah prüfend zu den Fenstern des zweiten Stockwerkes empor. Dann fuhr er leise fort:

Weine doch nicht so dumm! Man beobachtet dich. Siehst du nicht das Augenpaar zwischen den roten Vorhängen? Das sind die Augen der Schwester des Abbé, ich erkenne sie wohl. Man kann sie den ganzen Tag dort finden ... Der Abbé ist vielleicht ein braver Mensch, aber diese Trouche kommen mir hinter ihren Vorhängen wie lauernde Wölfe vor. Ich wette, wenn der Abbé sie nicht hinderte, sie würden des Nachts zum Fenster heraussteigen und mir die Birnen stehlen ... Trockne deine Augen; sei versichert, sie haben an unserem Streite ihre Freude. Weil sie die Ursache der Abreise unseres Kindes sind, braucht man ihnen nicht zu zeigen, welchen Schmerz uns diese Trennung bereitet.

Seine Stimme wurde weich, er war selbst nahe daran zu weinen. Gerührt durch seine letzten Worte, wollte Martha sich in seine Arme werfen. Aber sie fürchtete, gesehen zu werden, sie fühlten etwas wie ein Hindernis zwischen sich. Dann trennten sie sich, während die Augen Olympias noch immer zwischen den beiden roten Vorhängen funkelten.


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