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IX

Am zweiten Tag nach dieser Sterbestunde saß Ifinger mit seinen unerwarteten Gästen, Waldsee und Donna Clara, in seinem Speisezimmer am Tisch. Waldsee war früher gekommen, allein, die Baronin später, vom Wiener Westbahnhof, gradeswegs von München. Es war Nachmittag, nach ein Uhr; sie hatten ein leichtes, warmes Frühstück eingenommen, der Wein stand noch auf der Tafel. Ifinger, der blaß und still, nur zuweilen aufgeregt heiter war, saß den beiden gegenüber; er schien noch nicht recht zu fassen, daß die Zeit der Prüfung, der Entsagung nun aus sei, daß diese beiden nun das Recht haben sollten, sich auf Leben und Tod zu verbinden. »Mann, sieh doch nicht so geisterhaft aus«, sagte der vom Glück trunkene Waldsee, zu ihm hinüberlächelnd. »Nun hast du uns endlich so weit. Wir sehen dich ja alle als das Schicksal an, mehr oder weniger: der Baron verdankt dir seine Galerie, Clara verdankt dir mich, ich verdank' dir Clara, hochverehrtes Schicksal, so lache doch!«

Hermann lächelte nur, aber die Baronin lachte; es war ein feines, silbernes, reizend verwundertes Lachen; ihr war es noch so neu, drollig und beglückend, den Grafen zu Ifinger »du« sagen zu hören. Im stillen beobachtete sie aber den blassen Freund mit ihrem Frauenblick oder mit dem »sechsten Sinn«. Sie schien zu verstehn, was ihn in seinem verschlossenen Innern bewegte ... Eben wollte sie etwas sagen, um den glückseligen Übermut Waldsees von ihm abzulenken, als Christel ins Zimmer trat. Das Wort blieb ihr jetzt unwillkürlich auf der Lippe liegen. Sie nickte nur dem Mädchen zu, herzlich, freundschaftlich. Sie hatten sich schon gesehn. Christel ging zur Kredenz, als wolle sie etwas holen. Sie kam dabei hinter Hermanns Stuhl. Im Vorübergehn sagte sie halblaut – man wußte nicht, zu wem sie sprach –: »Um drei ist die Beerdigung!«

»Wessen Beerdigung?« fragte Waldsee, der es auch gehört hatte. Christel schien seine Frage nicht bemerkt zu haben: sie nahm ein paar Gläser aus der Kredenz und ging so geräuschlos, wie sie gekommen war, wieder hinaus. »Ah ja!« sagte nun der Graf und ward ernst. »Leo Falk wird begraben ... Schade um den Mann. Das Talent hat ihm nicht gefehlt; nur sonst allerlei. Ein Geschöpf wie diese Lina – so was heiratet man doch nicht. Man sagt, sie hat ihn –«

»Lassen wir diese Lina!« unterbrach ihn die Baronin. »Reden wir lieber von uns; das ist doch noch besser! Lieber guter Freund ...« Über den Tisch hinüber gab sie dem Ifinger ihre zarte Hand. »Sie sollen nun sehn, wenn ich diesen Mann heirate – er will es ja durchaus – da sollen Sie sehn, wie gut wir alle dann miteinander leben! ›Sei heute nicht aristokratisch‹, sagte er vorhin; das bin ich schon lange nicht mehr – und das weiß er auch. Was liegt uns an die Junker und die Junkerinnen,« fuhr sie mit drollig dramatischem Gebärdenspiel fort; »wir wollen nur Menschen sein, und wir suchen Menschen! Sie haben mir einst so schön gesagt, was der Geist und Sinn von diese neue Zeit ist – die nicht erst kommen soll, wie die jungen Phantasten sagen, sie hat schon begonnen –: Jeder bildet sein Wesen und sein Dasein aus so weit und hoch, wie er kann, jeder hat seine eigene Religion, seinen eigenen Gott – aber für den Staat, für das Vaterland, für die Menschheit stehn alle wie einer zusammen! – Meinten Sie es nicht so? Hab' ich's falsch verstanden?«

»O nein«, sagte Ifinger. »Ungefähr so war's –«

»Und die so denken und fühlen, die sollen sich zunächst fest zusammenschließen ...«

»Um drei ist die Beerdigung!« – Ifinger war auf einmal, als hörte er Christels Stimme wieder diese Worte sagen. Er ward unruhig auf seinem Stuhl. Er wußte nicht, wie ihm geschah. Die Baronin bemerkte seine Aufregung und sah ihn befremdet an.

»Fest zusammenschließen«, wiederholte er laut, mechanisch, ihre letzten Worte. »Ja, ja«, sagte sie und nahm langsam wieder das Wort. »Die Gleichgesinnten sollen sich zunächst fest zusammenschließen; – und das wollen wir tun! Ich hab' Ihnen noch nicht gesagt: der Baron zieht mit seine Galerie nach Rom, die ›Schackothek‹ ärgert ihn zu sehr; und wir – wir kommen zu Ihnen. Wir ziehen auch in dieses Städtchen heraus, wenn es Ihnen recht ist; ich hab' ihn schon gern; und der Graf will ja mit Ihnen arbeiten, das ist all sein Ehrgeiz. Und wir drei mit unserm Maler, Herrn Erhart, und mit – und mit – –«

Sie verstummte. Sie sah Ifinger an; er erwiderte nichts. Etwas verlegen streckte sie die Hand nach ihrem Glas aus, nur um etwas zu tun, und trommelte mit ihren zierlichen Fingernägeln auf dem Rand herum. Plötzlich sprang Ifinger auf.

»Um drei ist die Beerdigung«, glaubte er zum drittenmal zu hören ...

»Sie entschuldigen«, sagte er, hastig und etwas übertrieben lächelnd. »Ich hab' noch einen Gang; ich lasse die Herrschaften allein. Donna Clara bleibt ja bis zum Abend hier. In einer oder zwei – – Ich bin bald zurück!«

Er grüßte mit der Hand und ging. Draußen suchte er in Eile seinen schwarzen Mantel und Hut; stahl sich aus der Tür, als habe er etwas Heimliches, zu Verbergendes vor, und ging den kleinen Hohlweg neben dem Garten hinab, damit man ihn womöglich nicht sehe. Unten auf der Landstraße fiel er in seinen Geschwindschritt, gegen den Bahnhof zu; ein Fiaker fuhr aber hinter ihm heran, er sah, daß er leer war, rief den Kutscher an und stieg ein. »Nach Wien, in die Alleegasse!« rief er: »zu dem Haus, wo begraben wird. Eh' wir hinkommen, steig' ich aus. Aber fahren Sie gut!« – Es war ein echter Wiener Fiaker, er fuhr ehrgeizig gut. Sie sausten an der Donau hin, dann durch die Stadt hindurch. Als sie das Sterbehaus erreicht hatten und Ifinger ausgestiegen war, sah er schon den schwarzen Wagen vor dem Hause halten; mehr als hundert junge und ältere Männer, fast alle von der Wiener Künstlerschaft, hatten sich mit mächtigen Kerzen aufgestellt, an denen schwarze Flore hingen. Die Kerzen wurden eben angezündet, eine an der andern. Hermann sah Schwalbe vor dem Haufen stehn, einige der Maler mit ihm. Auf dem rötlichen Gesicht des kleinen Doktors war eine gewisse nüchterne Ruhe; vor lauter Geschäftigkeit, da er alles zu besorgen übernommen hatte, kam er nicht dazu, seinen Schmerz zu fühlen. Ifinger ging auf ihn zu. »Können Sie mir auch so eine Kerze geben?« fragte er mit gedämpfter Stimme. »Ich möchte nämlich auch –!«

Schwalbe sah ihm verblüfft ins Gesicht. Auch die Maler neben ihm staunten Ifinger fast verlegen an; sie wußten alle, daß er den Falk nicht mehr kannte, weil eine böse Frauengeschichte sie einmal entzweit hatte ... Mit ruhigem, stillem Ernst erwiderte aber Ifinger alle ihre Blicke. »Haben Sie noch eine Fackel für mich?« wiederholte er.

»O ja, da ist eine«, antwortete Schwalbe, der noch drei oder vier in der Linken hielt. Er wollte noch etwas sagen; mit einer raschen Bewegung streckte er aber nur seine Rechte aus, in dem schwarzen Handschuh, und drückte Hermann die Hand. Eine geschäftliche Frage eines andern rief ihn wieder ab ... Ifinger stand mit der Kerze da; jemand trat heran, sie ihm anzünden zu helfen. »Danke«, flüsterte er, ohne ihn zu sehn; denn seine Augen umflorten sich jetzt. Alles war voll Menschen; Berge von Blumen, Palmzweigen und Kränzen wurden auf den zweiten Wagen gehäuft, der dem Sargwagen folgte; feierliche Musik begann. Es war ein Trauertag für das lebensfrohe, kunstfrohe Wien: so ein Zauberer üppigster Farbenseligkeit, so ein Wunder von rascher, fruchtbarster Entfaltung, so ein glänzender Stern so viel vor der Zeit erloschen. Wie viele hatten ihn wie einen »dritten Rubens«, einen »zweiten Makart« gefeiert, bewundert und wohl auch geliebt; – »auch ich!« dachte Ifinger. »Nun ist er ja tot; nun kann ich ihn feiern, bewundern und auch lieben; warum ich denn nicht? Oja, Christel hat recht. Das ist der Maler des ›Frühlings‹, den sie da jetzt bringen; dem werd' ich nun folgen. Seine Fehler und Sünden folgen nicht mit. Ich seh' sie nicht. Ich seh' nur den Tod!«

Wie lange sie noch so standen, war ihm nicht bewußt; endlich gingen alle, er mit. Zwei und zwei zusammen, jeder nach außen hin die tropfende Kerze haltend; neben ihm ging Erhart, er hatte bis dahin weder ihn noch irgendeinen andern gesehn. Die klagende Musik ging vorauf; rechts und links an der Straße brannten die umflorten Gaslaternen, mit schwachem, vom Tag gedämpften und ebendarum so eigen feierlichen Licht. Die Luft war ganz still und der Himmel bedeckt; es sah aus, als wolle Schnee aus dem grauen Gewölk fallen, aber er kam nicht herab. Man hörte die Glocken läuten, als der Trauermarsch schwieg. Es klang aus der Höhe herab, als riefen oder summten sie: »Ihr Menschenkinder, die das Leben trennt, euch versöhnt der Tod! Der da unten im Sarg, der hat viel gebüßt, der hat viel gesühnt!« – Ifinger sah in die graue Luft, ihm war's wunderlich: als ginge die Welt, in der wir leben, vor ihm auseinander, als zeige sich dahinter das andre, das Unbekannte, das wir sonst nicht sehn – freilich nicht deutlich, nicht hell, ungestalt, verschleiert – aber es zeige sich doch, für einen Augenblick ... »O wie wir dahinleben«, dachte er, »in unsrem großen Käfig, der Welt. Wie die Menschenkinder sich im Leben so oft überstürzen, übereilen, weil sie die Geheimnisse des andern, des Unbekannten nicht kennen. Oh seht nur immer hin! seht hin! Vor dem ewigen Rätsel schwebt etwas wie ein ungeheurer Vorhang, in der Mitte geteilt; den einen Teil lüftet das Leben, ihn nach links emporhebend, den andern, nach rechts, der Tod. So jetzt dieser Tod ... Freilich der obere Teil des Vorhangs, der ist ihnen beiden zu hoch: wie sie sich auch auf den Zehen recken, sie können ihn nicht heben. Dahinter verborgen bleibt der allerletzte Wille ...«

Langsam bewegte sich der Zug die Alleegasse hinab; als sie dann bei ihrem nächsten Ziel, der Karlskirche, ins Freie kamen, dröhnten die Glockentöne mit verdoppelter Stärke, fast zu schauerlich gewaltig, aus der Luft herab. Grade vor ihnen, jenseits des winterkahlen Wienflußparks, wurden die Trauerfahnen des Künstlerhauses sichtbar; rechts, in allernächster Nähe, stieg über der breiten Freitreppe und der Säulenvorhalle die majestätische Kuppel der Karlskirche auf, zwischen den beiden Riesensäulen, aus deren Glockentürmen das »ewige Rätsel« so gewaltig rief. Der Wagen, dem sie alle folgten, hielt still; der Sarg, der hier geweiht werden sollte, ward herabgehoben, man trug ihn die Freitreppe hinan. Sie kamen in die Kirche; Trauernde aller Art hatten sie schon fast gefüllt. Da waren sie nun, die dem Sterbenden an seinem Bett gefehlt hatten; die Freunde, die Verehrer, auch schöne und gute Frauen; hier konnten sie sich noch einmal mit ihm zusammenfinden, in seinem verunreinten Haus hatten sie's nicht gekonnt. Frommer Gesang von Männerstimmen füllte den hohen Raum und stieg in der Kuppel hinauf. Die Orgel erhob ihre tiefe, summende Klage, der es doch nie an Trost und Frieden fehlt. Dann schwebte die klangvolle, nicht unedle Stimme eines Priesters über die bläulichen Weihrauchwolken hin. Dem traumhaft horchenden, in sich versunkenen Hermann ward gar ernst, demütig, brüderlich zumute. Das ganze Wunder des Lebens stand ihm vor der Seele. Er dachte auch an Christel, die ihn gleichsam hergeschickt; aber wie er an sie dachte, störte es nicht das erhaben Feierliche dieser Weihestunde ...

Endlich bewegte sich der Strom der Menschen wieder ins Freie hinaus. Ifinger kam auf den Platz vor der Kirche, wo die Trauerwagen hielten; nun fiel ihm erst ein: er hatte die ausgelöschte Kerze da oben weggestellt, vergessen. »Auch gut so«, dachte er; »was tut's, ich war ja dabei. Ich hab' den Herrschaften da oben und hier unten gezeigt, wie ich's meine!« – Er schickte sich an, still davonzugehn. Er warf noch einen Blick auf die Kirche zurück, aus der sich noch immer Menschenhaufen hervordrängten. Oben am Rand der Freitreppe stand die große, schwarze Gestalt der Lina, in die eleganteste Trauer gekleidet; Schwalbe und einer der Maler standen neben ihr, boten ihr den Arm, um sie die Treppe hinunter zu ihrem Wagen zu führen. Die trostlose Witwe konnte sich aber nicht fassen; auf so unzählige Köpfe hinabsehend, die fast alle die Augen auf sie richteten, überließ sie sich ihrem unbändigen Schmerz, rang die Hände, verrenkte fast ihre schöne Gestalt, stieß verzweifelte Klagelaute aus und drohte in den Armen der Männer, die sie faßten, elend zusammenzubrechen. Ifinger sah dem eine Weile zu; dann konnte er nicht mehr. Er wandte sich plötzlich ab und ging.


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