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VIII

Erharts letzter Wunsch wurde nicht erfüllt: nach einer ziemlich schlummerlosen Nacht versank Hermann Ifinger erst gegen Morgen in einen unruhigen traumreichen Schlaf. Aus diesem erwachend, fühlte er sich wenig erquickt, obwohl sein Fenster offengestanden hatte; aber er lächelte, als wäre ihm was Gutes geschehen, eine grundlose, jugendliche Heiterkeit durchsonnte ihn. Er lag noch eine Weile so da, die Hände hinter dem Kopf verschränkt; sein einziges Mißgefühl war, daß Erhart – »hochmütig, wie die Künstler sind« – ihn für einen unsinnlichen Gelehrten ausgegeben hatte. »Was liegt euch Platonikern an einer Stülpnase oder unküßlichen Lippen« ... Diese Worte kamen ihm immer wie ein Kehrreim wieder; sie erhitzten ihn, sie brachten, wie durch die Wirkung des Widerspruchs, das Bild der Porzelläne mit, ihre zierliche Nase, ihre verlockenden Lippen. Er stritt in Gedanken mit Erhart, widerlegte ihn; mußte dann wieder lächeln über seinen Eifer – und fühlte, wie seine verliebte Empfindung für das Mädchen wuchs. »Ach,« dachte er, »einmal ganz aus dem Vollen leben; keine Bedenken, keine Vorsicht und Rücksicht mehr – auch darin meinen Lehrmeistern, den Künstlern, gleich – dem Reiz der Schönheit sich hingeben; die Schönheit ist Sonnenschein!« – Die nur angelehnte Tür des Arbeitszimmers ward leise vom Wind bewegt; plötzlich durchfuhr ihn die Vorstellung, die Porzelläne sei an seiner Tür, sie werde nun eintreten, als seine junge Frau ... Ich bin schon halb närrisch, dachte er; wiederholte es laut, schüttelte den heißen Kopf und sprang aus dem Bett.

»Einmal ganz aus dem Vollen leben«, summte er vor sich hin, während er sich anzog; halb unbewußt hatte er die Worte in eine italienische Melodie hineingelegt und freute sich wie ein Kind, wenn von Zeit zu Zeit, ohne sein Zutun, beides wiederkam. »Die Schönheit ist Sonnenschein« gesellte sich dazu, mischte sich mit hinein; seine Stimme ward lauter, ihm war, als gehe er am Capo di Sorrento, über dem Meer, mit der Porzelläne spazieren. Er kleidete sich immer sorgfältig, aus ästhetischem Gefühl; heut war er doch noch aufmerksamer als sonst. Draußen lockte der Morgensonnenschein, der schräg über der Straße lag; einzelne Wolken zogen, sie machten ihn unruhig, er sehnte sich aus seinen Zimmern hinaus, ohne zu wissen, warum. Er klingelte, er frühstückte; dann stand er auf der Straße. Irgendeine Uhr schlug zehn. »Hm!« murmelte er fast erschrocken, als hätte er seine Zeit verloren, als könnte er zu spät kommen. Wo denn? Warum denn? Was wollte er? Was war denn geschehen? – Es war nichts geschehen. »Einmal ganz aus dem Vollen leben« – dazu war ja noch Zeit. Ohne Sinn und Vernunft stand er da; kein Mensch in München war so nutzlos und überflüssig. Er ärgerte sich und lachte. Wohin denn also? Wohin?

Im dritten Haus gegenüber öffnete sich ein Fenster, ein weibliches Gesicht erschien; der kurzsichtige Ifinger sah nicht viel davon, dennoch weckte es in ihm ein unbestimmtes Gefühl. Das wird die Amerikanerin sein! dachte er; die Baronin Pillnitz. Da wohnt er ... Dem Baron hatt' ich ja ein Bild versprochen; – also auf zu Nämlich. Den armen Kerl hatt' ich ganz vergessen. Gott sei Dank, ich laufe nicht mehr wie ein Narr herum, mein Leben hat einen Zweck!

Er kümmerte sich nicht weiter um die Dame am Fenster – wie es uns Ahnungslosen so oft ergeht – wandte sich nach rechts und hatte bald in der Augustenstraße das »Haus der Freunde« erreicht. Es war ein seltsames Viergespann, das sich da vor den Wagen der deutschen Kunst gespannt hatte: oben die jungen »Genies«, wie geflügelte Pegasusse, unten Kircher und Nämlich, als ein Paar von den »schwer Hinwandelnden«, von denen Ifinger gestern zum Baron gesprochen. Auf dem Vorplatz hörte er schon eine ihrer Stimmen: der unverwüstlich heitere und mutige Nämlich sang links in seiner Werkstatt, während er Farben auf seine Palette strich. Als Ifinger bei ihm eintrat, kam ihm der Maler mit seinen großen Heldenschritten entgegen, lächelte ihm treuherzig zu, und deutete sogleich nach dem Bild auf der Staffelei, an dem er schon seit früher Morgenstunde gemalt hatte.

»Die Iphigenie erkennen Sie nicht wieder!« sagte er triumphierend; »mit der hab' ich kurzen Prozeß gemacht; oben ist sie weg – da unten steht sie, sehen Sie, wenn ich im Kopf mit etwas im reinen bin, dann auch gleich drauflos! – Eine Sächsin, meinte Erhart; ich glaube, jetzt ist sie eine richtige Griechin, wie irgendeine, die jetzt gemalt wird. Wie gefällt Sie Ihnen? Sind Sie nun zufrieden?«

Die Iphigenie stand richtig unten, im Profil wie gestern, in derselben Haltung, als wäre sie in der Nacht wirklich weitergegangen, von Stufe zu Stufe, bis sie den Erdboden erreicht hatte. Die kleine Gestalt erschien den Laienaugen Ifingers völlig unverändert, nur ein wenig steifer, archaistischer. Sie schien noch immer zu sagen: Fragt nicht, wer ich bin, ich bin niemand; bitte, kümmert euch nicht um mich, laßt mich nur so stehn!

»Sie wissen, neben Ihren Kollegen maße ich mir kein Urteil an«, erwiderte Ifinger, nachdem er die Puppe eine Weile betrachtet hatte. »Da müssen Sie den Falk und den Erhart fragen; die können das im einzelnen – – Ich hab' heut eine Frage des Schicksals an Sie, die Ihnen nicht leid tun wird. Unser jüngster Kunstfreund, ein Baron Pillnitz, kann nie wieder glücklich werden, wenn er nicht ihre Landschaft mit der heiligen Familie rechts und dem gekreuzigten Ägypter links von Ihnen erwerben kann; mehr als hundert Mark darf sie aber nicht kosten. Hätten Sie die noch?«

Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Nämlich mit seinen beflügelten Schritten schon einem Winkel zustrebte, wo in dem sonst ziemlich öden Atelier eine kleine Galerie verkannter Meisterwerke sich gesammelt hatte; zum Teil an die Wand gehängt, zum Teil nur unten angelehnt und demütig abgekehrt. Der Maler griff mit sicherer Hand gleich nach der rechten Leinwand und drehte sie herum; »nämlich ich habe sie noch!« sagte er ernsthaft, mit voller Stimme. »Warum gerade die ... Aber wie er will. Haben Sie ihm davon gesagt?«

»Das ist für den Baron das rechte«, antwortete Ifinger. Es war eine seltsam unheimlich beleuchtete ägyptische Landschaft; rechts beschien die Sonne, durch Wolken, die heilige Familie auf der Flucht, Maria mit dem Jesuskind im Schoß, ein sentimentales, glückliches Idyll; links stand in tiefem Wolkenschatten ein hohes Kreuz, an dem ein nackter Ägypter hing, offenbar verendet. Das Bild war nicht schlechter als die andern, es war sogar kühn gedacht; weil aber die Kollegen es verspottet hatten, war das Herz des entmutigten Nämlich von ihm abgefallen. »Meinen Sie –?« fragte er, mit schief gesenktem Kopf.

»Gewiß. Das Kind und seine Zukunft, auf einem Bild ahnungsvoll beisammen. Wenn Sie's für hundert Mark hergeben, dann ist es verkauft!«

»Herschenken würd' ich es, lieber Herr Doktor – wenn ich nicht so ein armer Hund wäre –«

»Nehmen Sie, was Sie kriegen können; das tut Ihnen besser. Hier schreib' ich Ihnen die Adresse auf; haben Sie die Güte, es hinzuschicken; das Geld kommt noch heut. Ich wollt', es wären tausend statt hundert!«

»Nämlich das wollt' ich auch«, sagte der Maler lächelnd, aber ganz ohne Bitterkeit. »Es ist sonderbar: da haben wir nun das neue Deutsche Reich, die Siege, den Ruhm, die Eroberungen – alles wunderschön – aber die Kunst verhüllt ihr Haupt. Was verkauft man? Nichts ... Na, heut muß ich das Maul halten: eine so unerwartete Ausgrabung. Meine alte ägyptische ... Eigentlich haben Sie recht: das Ding ist nicht schlecht. Schneidig komponiert. Aus meiner verwegensten Zeit. Damals segelte ich noch mit tausend Segeln, wie der Dichter sagt – oder heißt es: Masten. Nach und nach wird man kleiner und denkt: wär' ich nur im Hafen!«

»Das geht im Leben auf und ab«, sagte Ifinger gutmütig. Er griff nach Nämlichs großer, schwerer Hand, drückte sie und ging; im nächsten Augenblick war er draußen. Eine plötzliche Sehnsucht hatte ihn an die Luft getrieben ... Bald stand er wieder in seiner Brienner Straße und schritt eilig dahin, als werde er erwartet. Die Wolken hatten sich vermehrt, die Luft begann schwül und feucht zu werden; von Zeit zu Zeit legte sich ein breiter Schatten über die Straße. Wieder leise summend, den Kopf vorgeneigt, den Körper sacht hin und her wiegend, ging er durch Sonne und Schatten fort, bis er den Wittelsbacher Platz erreicht hatte und den Kurfürsten Maximilian auf seinem Pferde mit der erhobenen Hand aufragen sah. Einige Schritte weiter gab's ihm einen Ruck: er war an seinem Ziel, vor dem Haus, das ihm Erhart gestern angedeutet hatte. Ein Porzellanwarengeschäft zeigte sein Schaufenster, sein einziges. Auf den ersten Blick war zu sehen, daß es keine der großen und vornehmen Handlungen war, vielmehr eine schlichte, fast kleinbürgerliche, mehr für das Nützliche, als für das Schöne sorgend. Einige Prachtstücke, Vasen und Schalen suchten darüber zu täuschen, sie sollten wohl auch Verwöhntere anlocken; sonst schien das Ganze zu sagen: Fremdling, tritt ein, hier ist's billig! – »Ich trete jedenfalls ein«, dachte Ifinger. »Eine gute Stunde, diese Morgenstunde; vielleicht find' ich sie gar allein ...«

Diese Hoffnung betrog ihn nicht: der etwas enge Raum für die Käufer war leer, und hinter dem Ladentisch, unter hängenden farbigen Ampeln und Lampen, stand niemand als die Porzelläne. Sie deuchte ihm diesmal dem Bild ähnlicher als gestern, denn sie errötete, sowie sie ihn erblickte. »Der Herr Doktor!« sagte sie mit einem reizend verwunderten Lächeln. »Wie kommen Sie zu uns? Sie haben sich doch nicht verirrt?«

»Guten Morgen, mein Fräulein«, erwiderte er, nachdem er das erste bange Gefühl überwunden hatte. »Wenn hier Porzellan verkauft wird, dann hab' ich mich nicht verirrt. Es ist die höchste Zeit, daß ich mit einigen von diesen nützlichen Sachen meine Wirtschaft bereichere ... Aber ich störe Sie: Sie hatten da ein Buch!«

»Für solche Störungen bin ich engagiert«, sagte sie und lächelte wieder, diesmal ganz ohne Verlegenheit. »Wenn Sie einkaufen wollen, so stehe ich zu Diensten; aber ich fürchte, bei uns finden Sie nicht, was Sie brauchen. Am Odeonsplatz, da sind die großen Geschäfte, wo –«

»Erlauben Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle«, fiel er ihr ins Wort; »ich bin ein deutscher Bücherwurm, elternlos, mit zwei vollständigen Anzügen und bescheidenem Vermögen – brauche also grade das, was ich hier finde. Es gibt kein Geschäft in München, das so genau für mich paßt wie dies. Wenn ich Sie also nicht grade im spannendsten Kapitel gestört habe, so gestatten Sie mir, daß ich etwas kaufe!«

Die Porzelläne sah ihn mit zutraulicher Heiterkeit an; sie strich mit einer Hand über die andere (schmale, feine Finger! dachte Ifinger; die fehlen auf meinem Bild!), und fast unmerklich nickte sie vor sich hin. »Mein Bruder hat mir schon gesagt – gestern abend – daß Sie die Dinge gern humoristisch behandeln. O ja, dafür bin ich auch. Das Leben wär' sonst so schrecklich ernst ... Also Sie wollen mir wirklich was abkaufen? Deswegen sind Sie hier?«

»Ganz allein deswegen nicht«, antwortete Ifinger, der zu seinem Mißvergnügen nun errötete. »Vor allem wollte ich – fragen, wie Sie geschlafen haben; – da Sie aber so blühend und – – und kurz, und so blühend aussehn, so hab' ich's vergessen. Sehen Sie, mein Fräulein, warum sollt' ich die Tatsachen der Weltgeschichte verleugnen: es hat sich ein sogenannter Faden zwischen uns angesponnen, ich hab' Sie von Koller gekauft, außerdem sind Sie die Schwester meiner Freunde – das heißt, eines von ihnen – aber doch, sozusagen, die ›Schwester des Regiments‹. Es war also jedenfalls hohe Zeit, daß ich Sie kennenlernte ... Ich danke auch meinem Schicksal, daß es nun geschehen ist; ich halte es für ein ganz besondres – – Also bitte, zunächst Tassen; ein Dutzend!«

»Warum gleich ein Dutzend?« fragte die Porzelläne, die, um ihre innere Freude zu verbergen, sich mit beiden Händen die Haare zurückstrich.

»Nun, ich denke, im Dutzend sind sie billiger. Auch weiß man ja nie, was geschieht. Zum Beispiel, man will einmal heiraten,; – dergleichen kommt vor. Dann sind zwölf Tassen gewiß nicht zuviel; im Gegenteil – man kann fester auftreten, kann höhere Ansprüche machen. Also von diesen da ein Dutzend, wenn ich bitten darf!«

»Wie Sie befehlen, mein Herr –«

»Dann haben Sie Ampeln, da oben; ich liebe diese Ampeln mit antiken Mustern. Unbegreiflich, daß ich so lange ohne sie leben konnte. Von denen ist aber wohl ein halbes Dutzend genug –«

»Um Gottes willen!« rief das Mädchen aus, wobei ihre herzverführende Unterlippe zu Ifingers Freude vorsprang. »Was wollen Sie mit sechs Ampeln machen, wenn ich fragen darf?«

»Ich hänge sie paarweise auf«, entgegnete er schnell gefaßt; »dann sind's also eigentlich nur drei. Erlauben Sie mir, mein Fräulein: die Käufer abzuschrecken, damit müssen Sie vorsichtig sein; Sie könnten sonst wegen Untreue verklagt werden – was eine häßliche Sache ist. Also ein halbes Dutzend!«

»Ich bin schon ganz still«, sagte sie, indem ihre ruhigen, sanften Augen vor Vergnügen glänzten. »Ich werde Ihnen also das ganze und das halbe Dutzend in Ihre Wohnung schicken; wollen Sie mir Ihre Adresse –«

»Bitte, bitte! Sie scheinen ganz zu vergessen, daß ich noch keine Messerböcke habe. Sie aber haben welche. Das muß zwischen uns ausgeglichen werden. Haben Sie die Gnade, lassen Sie mich wählen!«

»Ich fürchte, das gibt wieder ein halbes Dutzend –«

»Gewiß; ich darf nie vergessen, daß der Deutsche gewöhnlich heiratet. Wer nimmt einen Mann ohne Messerböcke. Bitte zeigen Sie den da. Er ist ebenso rührend häßlich wie die andern; aber ich denke mir, er wird nach dem Geschmack meiner Frau sein, er wird ihr gefallen!«

»Wenn ich fragen darf,« sagte sie harmlos lächelnd, »Sie kennen also schon so ungefähr den Geschmack Ihrer Frau?«

Plötzlich lief ihm wieder ein wunderliches, liebliches Gefühl über die Haut, da er diese Stimme, die Stimme der Porzelläne, von »seiner Frau« sprechen hörte. Er vergaß eine Weile zu antworten, und blickte sie nur an. Dieses schöne Mädchen, so blühend, so heiter, das so nah vor ihm stand, nur durch einen Tisch getrennt, kam ihm auf einmal wie ein Schicksalsfragezeichen vor; die Wirklichkeit erschien ihm so märchenhaft, so verwirrend, so reizend schauerlich ... Das war also die Porzelläne, die Emilie Kircher; sie hatte noch keinen Mann, er noch keine Frau. Wenn er nun diese Hand da mit den rosigen Fingerspitzen in die seine nähme – –

»Ob ich ihren Geschmack schon kenne?« erwiderte er, etwas stotternd. »Habe nicht die Ehre; noch nicht. Es ist sogar noch die Frage, ob ich weiß, wie sie aussieht; oder ob ich – –«

Seine rasche Zunge wurde völlig ungeschickt; mit einer verlegenen Gebärde, die ihn innerlich wütend machte, griff er nach seiner Brille und schob und rückte sie, ohne jeden Grund. Da er aber fortfuhr, die Porzelläne zu betrachten, wurde sie verlegen; es zog sich wieder ein zarter rosiger Schleier über ihre Wangen, und die feinen Adern auf ihren gesenkten Lidern wurden sichtbar. Sie nahm einen Messerbock zwischen die Finger, drehte ihn herum, und zog ihn wieder hin. Endlich gab er sich gleichsam einen Stoß, so daß die ganze Gestalt sich bewegte, und warf die Worte heraus: »Sie haben auch Eierbecher?«

»O ja, auch; warum nicht?«

»Dann haben Sie die Güte ...«

Sie griff hinter sich und stellte verschiedene Eierbecher vor ihn auf den Tisch. In der Hauptsache war einer wie der andere; Hermann Ifinger betrachtete sie aber sehr aufmerksam, als wähle er mit Nachdenken. Hinter ihm ging die Tür; er fuhr leicht zusammen. Eine Störung, eine andere »Kundschaft«; – nun ja, wie sollt' es auch anders sein; ein Laden, an der Straße! – Mit schwacher Wendung des Kopfes warf er einen mißvergnügten Seitenblick auf den Eindringling. Ihn entwaffnete die Wahrnehmung, daß es ein Kind, ein schüchtern lächelndes Mädchen war. Die Kleine kaufte ein »Nichts«; dann verschwand sie wieder. Ifinger brütete noch über den Eierbechern. Sein abirrender Blick fiel auf das Buch, in dem die Porzelläne gelesen hatte.

»Also ein halbes Dutzend von diesen«, sagte er in tiefem Ernst. »Darf man fragen, bei welcher Lektüre ich Sie unterbrochen habe?«

Sie hielt ihm das Buch freundlich lächelnd hin. Es war keiner von diesen zerlesenen, schmierigen Bänden aus der Leihbibliothek, die Ifinger haßte, sondern ein »Privatbuch«, reinlich, rührend einfach gebunden. Wo es aufgeschlagen war, sah er Verse, die er sogleich erkannte; Verse eines Schauspiels. Er machte eine erstaunte Bewegung, dann begann er die Zeilen, die ihm zunächst vor die Augen kamen, mit leise murmelnder Stimme zu lesen:

Mein Schicksal? Gutes Kind, das weiß ich schon:
Bin arm und werd' als Unvermählte sterben ...

»Als Unvermählte sterben«, wiederholte er mechanisch. »Das ist ja – aus dem Italienischen übersetzt. Ein modernes Schauspiel. Wie kommen Sie zu dem Buch?«

»Mein Bruder hat mir's geliehen«, antwortete sie.

»Ja, ja – aber wie kommen Sie dazu, grade das zu lesen? Ein unbekanntes Schauspiel – in Versen –«

Sie lächelte, etwas gekränkt, überraschend fein. »Sie meinen, so ein Mädchen wie ich liest nur Romane – und nur was grade in der Mode ist. So bin ich nun gar nicht; Sie müssen schon erlauben. Ich schnüffle bei meinem Bruder herum, der hat viele Bücher; was mir da gefällt, das nehm' ich. Die andern mögen lesen, was sie wollen, ich les' auch, was ich will. Hab' ich nicht recht?«

»Ganz gewiß haben Sie recht. Ich – – ich danke Ihnen.«

»Wofür?«

»Nun – – daß Sie so sind. – Aber grade dieses italienische –«

»Ich weiß,« sagte sie etwas altklug: »Anton sagt ja auch, die Italiener haben eigentlich nicht viel rechte Poeten. Aber dieses Stück hab' ich gern. Ich les' es zum zweitenmal. Es ist so was Herzliches drin ... Und dann diese Verse. Wie gut es übersetzt ist!«

»Meinen Sie?« fragte er, mit den Brauen zuckend.

»O ja. Meinen Sie nicht? – Der Übersetzer hat übrigens einen ähnlichen Namen wie Sie. Wenigstens ist mir so, als ob –«

Sie nahm das Buch, das er wieder auf den Tisch gelegt hatte, und schlug das Titelblatt auf. »Hermann Ifinger«, sagte sie verwundert. »Er heißt also ganz wie Sie!«

»Das ist auch ganz in der Ordnung, mein Fräulein; denn er und ich, wir haben es zusammen übersetzt. Eigentlich ich.«

»Ah!« stieß sie drollig heraus, mit offenem Mund, so daß ihre kleinen, schmalen Zähne blitzten. Das auch noch, dachte Ifinger, dem eine unendliche Freude am Leben plötzlich zu Kopfe stieg. Auch diese kleinen Elfenbeine fehlen auf meinem Bild!

»Nein!« sagte sie nach einer Weile, ihr Erstaunen in Worte fassend. »Sie übersetzen auch!«

»Warum das grade nicht?«

»Weil Sie – – nun, weil Sie schon so viel anderes tun. Anton hat mir davon gesagt ... Aus dem Italienischen!«

»Das ist nicht schwer; Keilschrift ist schon schwerer. Übrigens, die Sache ist richtig: ich pfusche so herum. Ich gehöre noch zu diesen unmodernen, allmählich aussterbenden Menschen, die so ein wenig von allem wollen, die möglichst rund werden wollen – auf die Gefahr, daß das Leben sie auslacht und sie sich zersplittern. Die Verse eines andern nachmachen, das ist übrigens noch keine Herkulesarbeit ... Also sechs Eierbecher. Sie lesen hier hinter diesem Tisch meine Übersetzung; unterdessen kauf' ich Ihr Bild; was die Vorsehung für Späße macht. Mir scheint, mit uns beiden hat sie – – Kommen Sie vielleicht heute abend mit Ihrem Bruder in einen Wirtsgarten? Herr Erhart sagte davon –!«

»Ach, ich kann ja nicht«, erwiderte sie kläglich. »Wenn ich nach Hause komme – heute wird's wieder spät – dann hab' ich zu nähen, zu flicken. Für den Bruder und mich. Wir müssen uns behelfen, wissen Sie; es sind die sogenannten ›mageren Kühe‹ aus dem pharaonischen Traum. Sie sehen, dies Geschäft ist klein; danach ist denn auch mein Gehalt.«

»Liebes, gutes Fräulein! Verzeihen Sie mir die Frage – es ist nur – – ich meine es mit Ihnen gut. Wie kommen Sie, mit Ihrer Bildung, Ihrem Geschmack, Ihren Kenntnissen, und mit allen Ihren – – wie kommen Sie in dies Geschäft?«

»Wie kommen Sie zu Ihrer Brille?« fragte sie etwas hastig zurück, wieder rot angehaucht. »Jeder hilft sich halt, so gut er kann. Ich hab' allerlei andres versucht, glücken wollte nichts; endlich bin ich hier untergekrochen – solange wie's geht. Das Kämpfen macht so müde, so faul ... Gouvernante werden, meinte mein Bruder. Ach, das ist auch leicht gesagt. Die Kinder von andern Leuten erziehen, so dran mit herumpfuschen, ihnen ein paar ›Kenntnisse‹ eintrichtern – würd' Ihnen das Vergnügen machen? Mir nicht. Hier ist's auch nicht schön; aber ich hab' auch nicht viel zu verantworten – und ich kann doch dem Bruder beistehen, muß ihn nicht verlassen. Was würd' mit ihm ohne mich? Ich darf's gar nicht denken. Es – – es geht nicht aufwärts mit ihm; die Kunst ist für ihn kein Glück; – es ist gar so traurig –«

Sie wandte sich nach rückwärts und suchte Ifingers Tassen und Eierbecher zusammen, um ihm ihre feuchten Augen nicht zu zeigen und einige schwere Atemzüge still für sich abzumachen. Er sah ihr beklommen nach; auf die sanft abfallenden Schultern, zwischen denen ihr Blondgelock sein üppiges Wesen trieb. Sie rührte ihn sehr ... Wie furchtbar leicht wäre da zu helfen, fuhr ihm durch den Kopf. Zum Beispiel, man heiratete sie ... Eine verwöhnte Modedame könnt' ich nicht ernähren; aber so eine – o ja. Die hat die beste Mitgift, die Schönheit; »die Schönheit ist Sonnenschein« ... Und eine rührende Schwester, ein »guter Kamerad«; da wär' sie denn wohl auch eine gute Frau. Ich könnt' auch ihrem Bruder helfen, das ist keine Frage; kurz, es wär' uns allen geholfen ... Wie sie dasteht. Jede Bewegung so sanft, so hübsch. Sie hat meinen Italiener gelesen; wie merkwürdig. Dieses blonde Dickicht; und dieses »feine Gestell«, wie der Erhart sagt – dieses wunderbare – –

Die Brust ward ihm zu eng; eine unsinnige Angst befiel ihn, die er nicht begriff. Ihm war, als drängte ihn jemand vorwärts, als sei dies die Stunde, als würde er etwas versäumen, etwas Unwiederbringliches, wenn er's jetzt nicht täte. Jemand schien ihm zu sagen: »Frag' dich nicht länger, ob du willst; frag' sie, ob sie will!« – Ganz verstört stand er da, wie ein Horchender. In seinen dreißig Jahren war noch nie so etwas über ihn gekommen ...

Die Porzelläne wandte sich wieder, kam zu ihm zurück, und stellte die aufeinandergelegten Schalen, die getürmten Tassenköpfe auf den Tisch. Ihre Augen waren trocken, ihr weiches Gesicht ganz still, nur in weiblicher Aufmerksamkeit bei ihrem Geschäft. Als sie von den Tassen aufblickte, lächelte sie wieder; ein Lächeln, das ihn befremdete, störte: dem so seltsam Erregten kam es leichtsinnig, kindlich, oberflächlich vor. Es ernüchterte ihn. Er strich sich, fast verlegen, über die dünnen Haare und drehte sie am Ohr nach vorn, wie er es zu tun gewohnt war. Das Mädchen bemerkte es nicht; sie war in diesem Augenblick ganz die »Porzelläne«. Sie stellte alles zusammen, was für ihn bestimmt war. Dann riß sie von einem Buch ein Zettelchen ab, zog ihren Bleistift aus dem Gürtel, wo er an einer Stahlkette hing, führte ihn an die Lippen, um ihn ein wenig anzufeuchten, und begann, vornübergeneigt, auf dem Tisch zu schreiben.

Meine Rechnung! dachte er, abgekühlt, beruhigt, und sah ihren malenden Fingern zu. Seine ahnende, hellsehende Bangigkeit war verflogen; er konnte wieder warten. Er war wieder der wissenschaftlich skeptische Mensch, der zögernde Junggesell. Ich bin übrigens wohl verrückt, dachte er; vor allem kennt sie mich gar nicht. Sie schwärmt für Leo Falk, nicht für Hermann Ifinger. Wer ist Hermann Ifinger, daß so eine kleine Venus sich beeilen sollte, ihn zum Mann zu nehmen? Einen komischen »Gelehrten«, den Erhart parodiert? – Sie ist fertig. Zahlen!

Er zog seine Brieftasche hervor, legte eine Banknote und eine Visitenkarte mit seiner Adresse auf den Tisch. Sie nahm beides und gab ihm Silbergeld heraus; alles mit der weichen, etwas trägen Anmut, die zu seinen hastig eckigen Bewegungen ein merkwürdiger Gegensatz war. Endlich begegneten sich wieder ihre Blicke; in den langen, schmalen Augen des Mädchens schien eine Frage zu liegen, eine Untersuchung. Ihm ward abermals beklommen zumut, aber als schäme er sich vor ihr, als habe sie ein Recht, ihm etwas vorzuwerfen. Als sei etwas versäumt worden ... Mit einer jähen Bewegung griff er nach seinem Hut, nach dem Geld. »Guten Morgen«, sagte er hastig. »Wenn Sie erlauben, auf Wiedersehen. Meine Ausstattung ist noch nicht fertig; Sie haben hier noch allerlei, mein Fräulein, das ich noch nicht habe.«

»Dann können wir also weiter ›ausgleichen‹«, antwortete sie lächelnd, sein eigenes Wort wiederholend. Er hielt ihr hastig die Hand hin; sie nahm sie sanft, ohne sie zu drücken. Gleich darauf schob er sich aus der Tür. Zwecklos, aufs Geratewohl wandte er sich nach rechts, der Ludwigstraße und dem »Englischen Garten« zu.

Die Porzelläne blickte noch eine Weile nachdenklich auf die Tür, durch die er sich entfernt hatte. Ein träumendes, unbestimmt trauriges Gefühl ging einigemal in leisem Zucken über ihre Lippen und floh dann in die Mundwinkel, wo es sich versteckte. Langsam, unentschlossen nahm sie das Buch wieder in die Hand, das sie mit einer gewissen Aufmerksamkeit betrachtete, als wär' es ein anderes geworden. Ihre Augen fielen auf die Verse, die er gelesen hatte:

Mein Schicksal? Gutes Kind, das weiß ich schon:
Bin arm und werd' als Unvermählte sterben ...

Sie nickte vor sich hin.


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