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III

In der Nacht, schlaflos im Bett, mit sich selbst allein, fühlte Hermann erst ganz, wie Donna Claras Bekenntnisse in sein Herz und sein Leben eingegriffen hatten; er fühlte quälendes Mitleid mit ihr, Sehnsucht, ihr zu helfen, – und auch einiges Mitleid mit sich selbst, denn seine Armut war noch ärmer geworden. Als er aus der »Verbannung« heimkehrte, tröstete ihn vor allem die Hoffnung, bei der Freundin einen windstillen Ruhehafen zu finden, in ihrem poesieverklärten Frieden zu genesen. Frieden! Ruhehafen! Er fand hochaufgewühlte, heftig bewegte See; und all das tropfende Öl seiner Philosophie, würde es denn hinreichen, um diese Wogen zu glätten?

Als ihn nun nach ein paar Tagen Erhart verließ, stand er ganz allein. Das »Haus der Freunde« beherbergte keinen der Freunde mehr; Falk war für ihn tot, Erhart wieder auf seinem Mönchsberg, Kircher ihm durch das Schicksal und auch durch seinen grimmigen Feldzug gegen die »Schönheitssimpelei« verleidet; nur der unbedeutendste blieb ihm, der gute Nämlich, dessen Talent sich wie die Funken in einem verbrannten Papier immer mehr in den letzten, kleinsten Winkel zurückzog. Die Meister seiner Wissenschaft, an denen es in München nicht fehlte, waren zu alt, um seinen vierunddreißig Jahren noch Kameraden und Freunde zu werden; an die Jüngeren, die Unerfahrenen, Rücksichtslosen sich hingebend anzuschließen, war sein Gemüt noch zu empfindlich, wie er täglich fühlte. Aus München fliehen? dachte er. Nach Berlin übersiedeln, nach der neuen Reichshauptstadt, in der so viel junges Leben sich zusammendrängte? Dann mußte er die Baronin verlassen, die Einzige (außer den Kindern), die ihn so recht auf der Welt zurückhielt, die Einzige, die so recht seines Daseins bedurfte. Nach ihren trostlosen Geständnissen wär' es ihm als Feigheit, ja wie ein Freundschaftsbruch erschienen, ihr jetzt davonzugehn. So nahm er denn alles hin, wie es stand, die alte, verödete Wohnung, die gleichsam versteinerte Stadt, in der seine heitere Jugend und sein schönster Traum nicht mehr lebte; und gab die eine Hälfte seines Herzens den Kindern, die andre der Donna Clara hin, der er nach ihrem drollig ernsten Wort ein Fels war, um den sie als Schmetterling flattern konnte.

Gefährliche Macht der Gewohnheit! Wer hat diesen unsichtbaren, ungeheuren Feind nicht schon in seinem Leben verspürt ... Ifinger verspürte ihn auch; er fühlte, wie es ihn mit jeder Woche fester und magnetischer zog, das neue Haus beim Glaspalast aufzusuchen und die bekannte Treppe mit dem eisernen spitzenvergoldeten Geländer hinaufzugehn. Immer empfing ihn Donna Claras rührend dankbares, unwiderstehliches Lächeln; immer bangte er heimlich, ob nicht der falsche Don Quichotte oder sonst eine unerfreuliche Gestalt hinter ihr auftauchen würde; immer lächelte er vor Vergnügen und Triumph, wenn er sie allein fand. Das beste am Baron Pillnitz war (mit Ifinger gedacht), daß er keine Eifersucht kannte; er schien in demselben Maß seltener zu werden, wie Ifinger häufiger ward; »ich langweile ihn!« dachte dieser mit reiner, ungetrübter Freude.

Eines Abends, als er sich besonders sehnte, sie allein zu treffen – er wußte nicht, warum, und hatte sich auch schon abgewöhnt, viel zu fragen, warum – störte es ihn, sie herzlich lachend und in heiterster Unterhaltung mit einem noch jungen Mann von etwa dreißig Jahren zu finden, den er noch nicht kannte. Die Baronin sah ihn aber offenbar nicht zum erstenmal: sie behandelte ihn schon etwas vertraulicher und mit einer gewissen Auszeichnung, was sie selten tat. Nachdem sie den alten Freund mit ihrer amerikanischen Herzlichkeit begrüßt hatte, führte sie ihn an der Hand, die sie noch hielt, auf den andern zu: »Das ist Graf Waldsee aus Wien,« sagte sie; »er reist nach Paris und mein Spanien, hier in München studiert er die Galerie von meinem Mann und kopiert ein Bild von Erhart, Ihren Busenfreund, den er adoriert; denn er malt auch – aber nicht so gut. Und das ist der Doktor Ifinger, von dem ich Ihnen gestern eine halbe Stunde lang sagte. So, nun lernen Sie sich kennen, meine Herren; und lernen Sie sich lieben – denn das müssen Sie. Sie beide verdienen das. In eine Viertelstunde müssen Sie sich lieben!«

Ihr reizendstes Lächeln begleitete diese überraschende Anrede – wenn Ifinger auch ähnliche Einfälle an ihr kannte – und sie huschte dann sogleich in ihrer geflügelten Anmut durch die Zimmer; im zweiten Salon setzte sie sich an den Steinwayflügel, wie wenn sie den beiden Männern Muße lassen wollte, den etwas schwierigen Auftrag zu erfüllen. Sie war am Klavier zu Hause, eine fast vollendete Künstlerin; aber zu Hermanns Bedauern spielte sie in seiner Gegenwart selten: denn wenn er da war, wollte sie sich »von sein Geist nähren«, wie sie sagte. Nun hörte er sie und sollte doch nicht hören; er sollte geschwind ein Mannsbild lieben lernen, das ihn in jedem Sinn störte. Mit höflichem Lächeln, aber mit ärgerlichem Widerspruch im Herzen, betrachtete er diesen Mann. Es war eine entschieden aristokratische Erscheinung, er konnte es nicht leugnen; nicht schmal und hager wie der Baron, sondern breit, eher voll, aber doch noch schlank, und im Gegensatz zu dem etwas steifen Pillnitz von der angenehmsten natürlichsten Lässigkeit, der aber die, sozusagen versteckte Würde und Selbstsicherheit des vornehmen Mannes nicht fehlte. Sein gekraustes Haar und sein voller, kurzer Bart waren dunkel, fast schwarz; die sonderbaren, brombeerfarbenen Augen nicht groß, aber von eigentümlich geistreicher Heiterkeit und Wirkung; der sehr lebendige Mund schien dem mißmutigen Ifinger mehr spöttisch als herzlich zu sein. Es überraschte ihn, aus diesem Mund eine angenehme, wohlklingende Stimme zu vernehmen; ihm war aber, als ob er auch aus ihr etwas Selbstbewußtes und Spöttisches heraushörte.

»Sie werden besser wissen als ich,« sagte der Graf, »daß die Baronin diese kleinen Sultansscherze liebt; sie stehn ihr ja nur zu gut. Ich kenne sie erst seit einer Woche – nein, noch keine Woche – aber so viel nordische Originalität mit so viel südlicher Anmut, die scheinen ja durch Wände durch. Ich gestehe Ihnen, das Erhartsche Bild, von dem ich so viel gehört habe, wollt' ich eigentlich jetzt nur anschauen und erst auf der Rückreise kopieren; aber nachdem ich die Baronin gesehen hatte, kam es mir ungeheuer unvernünftig vor, gleich wieder davonzugehn. Da hab' ich denn mein Handwerkszeug ausgepackt und –«

»Sie malen nicht nur als Dilettant, Herr Graf?« fiel Ifinger ein. »Sie leben in der Kunst?«

»Das ist eben der Teufel!« sagte der Graf, indem er die rechte Hand ausstreckte und ein leichtes Stühlchen so kräftig an der Lehne packte, daß es gleich in die Höhe ging: »ich fürchte, ich betreibe alles nur als Dilettant. Ich male, ich komponiere, ich ›schlage das Klavier‹ – und ich pfusche auch in den Naturwissenschaften herum – also in Ihrem Fach, wie ich von der Baronin höre. Zum Überfluß war ich auch bei der Marine; das hielt ich nicht aus. Vielleicht halt' ich gar nichts aus ...«

Er lächelte: »Sie sehen, Herr Ifinger, wie gut ich meine Sache anfange; ich soll mich bei Ihnen beliebt machen, wie die Baronin befiehlt. Statt dessen tu' ich, was ich kann, mich Ihnen zu verleiden –«

In diesem Augenblick verstummte das Klavier, das die kleinen Hände nur zart und träumerisch angeschlagen hatten, und der zierliche »Schmetterling« flatterte wieder herein. »Nun?« rief sie schon auf der Schwelle aus. »Wie gefallen sie sich, die Herren? Tun Sie Ihre Schuldigkeit? Sind Sie einander schon gut?«

»Ich wollt', er wär' wieder fort!« dachte Ifinger. Mit einer Verbeugung erwiderte er laut, sich zusammennehmend: »Sie wissen, Ihr Geschmack ist ja auch der meine. Nur haben Sie den Herrn Grafen wohl auch nicht gleich nach fünf Minuten geliebt –«

»Doch, ich habe! ich habe!« sagte sie mit einem kindlich übermütigen Lächeln. »Das heißt – verstehen Sie – mit die allgemeine christliche Liebe; wie er uns im Evangelium vorgeschrieben ist!«

»Dann hab' ich freilich nichts vor Ihrem Portier voraus«, sagte der Graf, indem er humoristisch seufzte. »Ich dachte, nachdem ich mit Ihnen vierhändig gespielt habe –«

»Nun, und Sie?« fiel sie ihm ins Wort. »Lieben Sie mein Freund? den Herrn Ifinger?«

»So wie Sie mich, Baronin, nach dem Evangelium. Erlauben Sie mir die Bemerkung, daß er noch nicht zwölf Worte gesprochen hat –«

»Gesprochen! gesprochen! Sie können ihn ja auch sehn. Und ich habe einmal gelesen: wie die Brieftauben, die Wandervögel haben auch die höheren Menschen einen Instinkt – einen geistigen! – Kommen Sie morgen beide wieder und lernen Sie sich lieben ... Und nun erzählen Sie dem Herrn Ifinger, Graf, was Sie mir heute erzählt haben; – Graf Waldsee lebt nämlich in Wien, und mit alles, was Kunst und was Künstler ist. Erzählen Sie über den Abend, wo Sie mit drei lebende Hingerichtete waren ... Nein, nicht hingerichtet – aber –«

»Aber Lebende. Das letztere ist richtig!« – Der Graf wandte sich mit seinem klugen Lächeln, das Ifingern wieder spöttisch erschien, an diesen: »Die Baronin meint einen Konzertabend, den ich im großen Musikvereinssaal – – es ist schon lange her, es war Anfang März. Richard Wagner gab das Konzert, für Baireuth; am Schluß ein endloser Jubel, ein Sturm – der ›Meister‹ sollte reden, er redete auch, zweimal nacheinander. Ich war in einer der offenen Logen; mit einer kleinen Gesellschaft; wir standen alle und klatschten noch, da er gesprochen hatte, und unwillkürlich sah ich meine Nachbarn an. Links stand der alte Semper, der berühmte Architekt; rechts Graf Andrassy, der Kanzler. Da draußen Richard Wagner, der Meister, der sich noch verneigte. Da sagt' ich zu einer Dame vor mir: ›Ob das nicht ein guter Spaß der Weltgeschichte ist! Diese beiden hier rechts und links, und der Redner da draußen, waren in der Revolutionszeit verurteilt, hingerichtet zu werden; nun leben sie alle drei noch – und haben es doch alle drei ziemlich weit gebracht!‹«

»Und so auf einem Fleck beisammen«, rief die Baronin aus, sich in einem Sessel wiegend; »ist darin Humor oder nicht?«

»War auch Semper zum Tod verurteilt?« fragte Ifinger. »Das hab' ich nicht gewußt!«

»Er hatte mir's selber erzählt«, erwiderte der Graf. »Man schämt sich fast, daß einem der Kopf noch so gar nicht gewackelt hat; es ist beinah' schimpflich! – – Der alte Semper war sogar zweimal verurteilt; einmal durch sich selbst. Auch das hat er mir erzählt. Als junger Architekt in Dresden, bei einem Regierungsbau – ich weiß nicht mehr, was – fühlte er sich schwer gekränkt, durch den Herrn Minister, der ihm etwas verweigerte oder etwas rügte; er war heißblütig und sehr empfindlich; er schreibt an den Minister: ›Wenn Sie Ihre herabwürdigende Verfügung nicht zurücknehmen, kann ich nicht mehr leben!‹ Darauf schließt er sich in seinem Zimmer ein und nimmt keine Nahrung mehr; er will so verhungern ... Ich versichere Sie, er hat mir's erzählt. Zweimal vierundzwanzig Stunden vergehen so; da kommt ein Brief vom Minister als Rettung: er nimmt die Kränkung zurück. ›Und ich,‹ sagte Semper, ›ich bin darauf gegangen, hab' ein Rebhuhn gegessen und eine Flasche Rotwein getrunken – und ich versichere Sie, beides war vortrefflich!‹«

»Ah!« sagte die Baronin, die ihre kleine Gestalt aufgerichtet hatte. »Es ist ja hübsch, daß er noch lebt; ich bin ganz zufrieden; – aber wissen Sie, das gefällt mir: sich zu Tode hungern. Wenn ich einmal nicht mehr leben möchte, möcht' ich's auch so machen. Alle andern Todesarten finde ich abstoßend – oder abschreckend; wie sagt man – aber zu das hätt' ich Mut!«

Der Graf sah sie fast erschrocken an, mit einem auffallenden, warmen Blick seiner groß gewordenen Augen. »Wie kann eine reizende Frau so reden«, sagte er, sich schüttelnd; »das ist ja entsetzlich. Sie sollen leben, immer leben ... Was hat man Ihnen getan? – – Kommen Sie nach Wien! da lebt man!«

»Besser als hier?«

»O ja. In größerem Stil. Besonders in allen Künsten geht es etwas schwungvoller zu: die Architektur, die Theater, die Musik – jetzt auch die Malerei. Sehn Sie, Ihr Leo Falk: hier war er geschätzt, geehrt, beliebt – bei uns in Wien lebt er wie ein Halbgott. Man zahlt für seine Bilder das Dreifache; er gibt malerische Feste, die wie künstlerische Ereignisse gefeiert werden, zu denen sich alles drängt, was schön und was vornehm ist. Ich glaube, Tizian und Rubens haben nicht großartiger gelebt –«

Die Baronin fiel ihm ins Wort. Sie hatte einen unruhigen, verstohlenen Blick auf Ifinger geworfen, der mit etwas erblaßten Lippen harmlos zu lächeln suchte. Um das Gespräch abzulenken, rief sie wie im Eifer aus: »Aber ›die Musik‹, sagten Sie! Ich hab' immer gehört, daß man zum Beispiel Richard Wagners Opern hier besser, echter, Wagnerscher aufführt als in Ihr Wien!«

»Das mag sein, Baronin; die Wagnerschen Opern geb' ich Ihnen preis. Aber die bildende Kunst! Sehn Sie, dieser Falk: er malt jetzt mit einem Feuer, einer Kraft, einer Fruchtbarkeit, die er nie gehabt hat, weil sich in Wien alles an seiner Kunst berauscht; man trinkt sie wie ein Fluidum. Da malen schließlich die Pinsel von selbst! – Die Ganzgescheiten sagen freilich: er malt sich zu Tode –«

»Das wollen wir nicht wünschen,« unterbrach ihn Donna Clara wieder; »dann hätte ihn ja Wien doch nicht gut getan! – Lassen wir jetzt die Maler; ich will, daß Herr Ifinger Sie aus diesen ›irdischen Tand‹ (sie spielte den Tand förmlich) in reinere Sphären hebt; daß Sie von ihn lernen, wieviel es noch über Ihr ›berauschtes Wien‹ und Ihr malerisches ›Fluidum‹ in höheren Welten gibt!« – Sie wandte ihr geistreiches, etwas nervös erregtes Gesichtchen zu Hermann: »Bitte, lieber Freund, sagen Sie das an ihn; ich hab' es gestern versucht, aber ich kann es nicht so wie Sie. Er will von Welten und Geister nichts wissen; er ist« – sie geriet in drollig gespielte Empörung, die jeden Muskel an ihrem Kopf in Bewegung setzte – »er ist ein Materialist!«

Der Graf lächelte. Ifinger, auch durch dieses Lächeln wieder heimlich gereizt – eine Empfindlichkeit, die ihn ärgerte – rückte an seiner Brille und stieß mit einiger Hast hervor: »Bitte, lassen Sie mich heut' hier unten in dieser Welt. Ich komme mir lächerlich vor, wenn ich dem Herrn Grafen, den Sie einen Materialisten nennen, philosophische Märchen erzählen soll, an die er ja doch nicht glaubt!«

Der Graf, der auf seinem Stuhl rittlings saß und die Arme behaglich auf die Lehne gelegt hatte, schüttelte den Kopf. »Gegen den ›Materialisten‹,« sagte er mit anmutiger Heiterkeit, »muß ich mich verwahren; so schlimm bin ich nicht. Aber mit dem ›Märchen‹ haben Sie recht; mir kommen alle diese Jenseitsphantasien als Märchen für Erwachsene vor, die uns wenig nützen. Und offen gestanden, ich wundre mich, daß Sie, ein Naturforscher, sich damit befassen!«

»Als Naturforscher tu' ich's ja nicht«, entgegnete Ifinger, dem zu seinem Verdruß das Blut in die Wangen stieg. »Ich setze mich ja nicht hin und suche eine andre Welt in der Retorte zu fangen, oder einen Geist zu sezieren. Sondern weil ich aus fünfhundert Gründen ahne, daß es noch Dinge gibt, ›von denen unsre Schulweisheit sich nichts träumen läßt‹, träum' ich zuweilen davon – zum Beispiel an hohen Feiertagen, wo ich nicht naturforsche – und gehe am Weltrand spazieren. Überfällt mich dann ein heftiger Wissensdurst, so kneipe ich bei den Geistern ein ... Das ist doch verzeihlich!«

»Gewiß«, sagte der Graf lächelnd. »Ich weiß nur nicht, was bei dem Umgang mit diesen langweiligen, vollendeten Geistern für uns herauskommen kann –«

»Aber erlauben Sie!« fiel Ifinger etwas hitzig ein. »Sie scheinen an die sogenannten ›Engel im Himmel‹ zu denken; von denen red' ich ja nicht. Bei denen kneipe ich niemals ein. Warum ist nur der kleine Mensch so kindlich eitel, zu glauben, daß es über ihm nur noch vollendete Wesen geben kann, wenn es welche gibt? Was ist denn der Herr Mensch anders als der erste Anfang? – Ich denke mir, die Herrschaften in der Geisterwelt sind durchaus nicht langweilig, sondern sie haben noch Ewigkeiten zu tun, um sich zu entwickeln, um so einigermaßen das zu werden, was man ›gottähnlich‹ nennt. Denn bis dahin gibt es Möglichkeiten und Entwicklungsstufen, die ich auf einige Millionen schätze; und wenn ich nicht aus übertriebener Bescheidenheit irre, so sind diese sich fortbildenden Geister bedeutend unterhaltender, temperamentvoller und geistreicher als wir!«

»Ah! Auch temperamentvoller?«

»Ich denke! Nur geben sie sich nicht mehr mit Kleinigkeiten ab! – Ein Strolch, der in seiner blinden Wut einen Bauer erschlägt, weil er ihn nicht auf seinem Wagen mitnehmen will, und ein Martin Luther, der in seinem gotterfüllten Zorn die Bannbulle verbrennt, die sind beide schneidig, nicht wahr? aber doch verschieden ... So könnte wohl auch so ein Geist seinen ›heiligen Zorn‹ haben – aber gefüllt mit Hoheit, mit bedeutendstem Bestreben – Menschenworte sagen das schlecht. Auch würden wohl, wie bei großen Menschen, in so einem Geist all die gewaltigen, aufgeregten Kräfte immer wieder zu einem innern Gleichgewichte kommen ... Und so gehn sie vorwärts, gradaus oder weitherum, immer wieder wachsend, immer reicher gemischt, immer der Klarheit zu – bis sie vielleicht in der siebenten Ewigkeit – – – Doch ich glaube, so weit gehn Sie nicht mehr mit; damit langweile ich Sie nicht!«

Der Graf sah den »sonderlichen Schwärmer« verwundert, nicht ohne ein gewisses unheimliches Staunen der Hochachtung an; aber wieder mit einem Lächeln, das sich wie Verspottung ausnahm. »Verzeihen Sie – das alles kann ja wörtlich wahr sein,« sagte er dann langsam; »ich sehe nur nicht ein, was es mit uns Menschenkindern zu tun hat. Wenn wir nur hier auf der Erde leben, und begraben werden, was nützt uns die Existenz von Geistern und ihren mehreren Millionen von Entwicklungen?«

»Vielleicht werden wir nicht begraben; wer weiß es!« antwortete Ifinger. »Vielleicht steigen wir in irgendeiner Art doch mit hinauf!«

»Jeder? einzeln? persönlich? Hinz und Kunz und alle?«

»Das sag' ich nicht. Ich glaube, Hinz und Kunz taugen dazu nicht! – Aber es gibt ja auch da tausend Möglichkeiten; die alle wissen wir nicht. Ich will Ihnen nur eine sagen: bedenken Sie, daß wir Menschen aus Erbschaften von Vater und Mutter und deren Vorfahren bestehn; so könnten ja auch die niederen Geister aus körperlosen, verklärten Einsaugungen bestehn – bitte, lachen Sie noch nicht –: aus den geistigen Extrakten unsres Daseins nämlich, von denen so ein minderer Geist nach und nach eine Menge – oder auch wenige, außerordentliche – in sein Wesen aufnimmt. So bestünde das von uns fort, was die Herren Würmer nicht verdauen können; und es bliebe bei dem alten Spruch, an den jeder glaubt, auch ohne es zu wissen: nichts, was ist, kann vergehn!«

» Avete ragione! Parlate bene!« rief die Baronin aus.

»Herr Ifinger hat jedenfalls eine geflügelte Phantasie«, sagte der Graf, der seine klugen Augen halb zudrückte. »Seine Spaziergänge am Weltrand haben ihren Nutzen. Sie hätten einen noch größeren, Herr Doktor – Sie entschuldigen – wenn Sie dabei etwas erführen, das auch ganz gewiß wäre!«

»Da haben Sie recht, Herr Graf. Wäre das schon geschehn, so wär' ich der infamste Schurke, wenn ich Ihnen und der übrigen Menschheit nicht sofort Mitteilung davon gemacht hätte. Ich bin aber schuldlos. Ich weiß nichts; gar nichts.«

»Das dacht' ich«, sagte der Graf und stand auf. Ein unbefangener, gemütlicher Humor flog dabei über sein angenehmes Gesicht; im Klang seiner Stimme war aber doch etwas Scharfes, das er nicht zur Genüge unterdrückt hatte. Auch er schien gereizt zu sein; bei den letzten Beifallsrufen der Baronin hatte er unwillkürlich mit Hand und Schulter gezuckt. Donna Clara blickte beide Männer an (auch Ifinger erhob sich); sie empfand offenbar, daß diese erste Viertelstunde vergangen war, ohne daß sie sich liebten.

»Gut,« sagte sie, um das erfolglose Gespräch durch einen Scherz zu beenden: »bis Herr Ifinger etwas Gewisses erfährt, werden wir warten. Er wird uns ja dann als Ehrenmann mitteilen, wie es steht, und ob Sie noch ein Recht haben, von den Geistern zu zweifeln. Unterdessen könnten wir ihm vierhändig etwas vorspielen – wenn es ihn gefällt!«

»Vierhändig etwas vorspielen«, dachte Ifinger ... Er begriff nicht, wie ihm bei diesen Worten geschah: sie kamen so liebenswürdig und gut von den schönen Lippen, und gaben ihm doch einen Stoß vor die Brust. Als sollte ihn heute alles verletzen, aus der Fassung bringen ... Er warf einen Blick auf den Grafen, der so hoch, und wie ihm schien so hochmütig, neben der kleinen »Märchenprinzessin« stand, und um dessen Mund eine so eigentümlich erregte Freude spielte. Ein Mißgefühl, das aus allen möglichen Ecken und Winkeln zusammenzukommen schien, legte sich ihm um die Brust. Nach einem ungeschickten Zögern sagte er hastig: »Ob es mir gefällt – – gewiß! Sie wissen, wie gern ich Sie am Klavier sehe; und nun vollends mit – –«

»Lügen auch noch!« dachte er und verstummte wieder. Seinen Satz durch eine Bewegung beendend, griff er nach dem Hut. »Nur muß ich leider fort!« setzte er dann, noch abgewandt, hinzu. »Dumme, notwendige – –!«

»Geschäfte«, ergänzte der Graf, da Ifinger schwieg; und wie es schien, mit Freude.

»Ah!« rief die Baronin dagegen traurig aus; »Sie müssen schon fort?«

Er nickte. Sie flog herzu, ihm die Hand zu drücken, wie immer rascher als er. »Aber Sie kommen bald, bald wieder ... Sie hatten recht; Sie haben ganz in mein Herz gesprochen. Der Graf versteht das nicht; er ist noch zu jung!«

Sie sah an diesem »jungen« Mann mit einem Blick hinauf, der ihn drollig überlegen verurteilte, aber doch auch einen Abglanz von Erbarmen und »christlicher Liebe« hatte. – »Also Sie kommen bald!« wiederholte sie. »Gute, gute Nacht!« – –

»Ich bin ein Narr«, dachte Ifinger, als er auf der Straße war und im Gasdunkel heimging. »Ist sie nicht lieb und gut wie je? Und was will ich weiter? – Warum bin ich nicht dageblieben und hab' zugehört, wie sie ihren Mendelssohn ins Amerikanische übersetzt? Statt dessen geh' ich tragisch wie ein Sekundaner nach Hause – wo die Kinder dieses Sekundaners schlafen – und werde mir in meinem einsamen Zimmer wiederholen, was ich schon vorhin bemerkte: daß ich ein Narr bin ...«

Es erwartete ihn aber noch etwas andres, das ihn überraschte. Als er seine Wohnung aufgeschlossen hatte und in das Speisezimmer eintrat, das mit jetzt geöffneter Tür an das Kinderzimmer grenzte, sah er an dem großen Tisch, an dessen Ende für ihn allein gedeckt war, Christel bei der Lampe sitzen. Sie sprang auf, sowie sie ihn hörte; er hatte aber noch gesehn, daß sie in ein Buch vertieft war. Sie schlug es im Aufstehn zu, nahm es in die Hand, hielt den Ellbogen nach hinten, als möchte sie es verstecken, und die sanft gebräunten Wangen wurden etwas dunkler.

»Guten Abend, Christel«, sagte er zerstreut. »Was studieren Sie da?«

»Wie kommen Sie auf ›studieren‹, Herr Doktor?« fragte sie mit verlegenem Lächeln.

»Ich kann auch sagen: ›was lesen Sie da‹. Übrigens, wenn Sie es als Geheimnis behandeln wollen, will ich's auch nicht wissen.«

»Es ist nur – – Wollen Sie jetzt essen, Herr Doktor? – Ich dachte wohl, Sie blieben bei der Frau Baronin; aber für alle Fälle hab' ich doch gedeckt –«

»Sie sind wirklich wie die Vorsehung, Christel. Übrigens – was treiben Sie denn? Das Buch, das Sie da haben, das ist ja Zumpts lateinische Grammatik. Meine alte lateinische Grammatik von Zumpt. Haben Sie die genommen, um zu sehn, ob sie sich auch kriegen?«

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung«, brachte Christel mit Mühe heraus, nun ganz ernstlich rot. »Es war wohl sehr vorwitzig. Ich trag's wieder hin!«

»Bitte, das eilt gar nicht. Als Nachtlektüre ist Zumpt nicht gut. Aber in des Teufels Namen – – ich meine, bei allen himmlischen Heerscharen – was wollten Sie mit dem Buch?«

»Sie werden mich auslachen, Herr Doktor ...«

»Was ich tun werde, das weiß ich nicht. Wollten Sie Lateinisch lernen?«

Sie besann sich, stockte; ihre braunen Augen sahen dann auf die offene Tür und ins Kinderzimmer. »Eh' der Hansei einschlief,« sagte sie, mit dem Buch in der Hand hindeutend, »nahm er noch meinen Kopf zwischen seine Arme, guckte mich sehr wichtig an und legte den Mund an mein Ohr: ›Christel, wenn ich sechs Jahr' alt bin, lerne ich Lateinisch, was der Vater kann; dann werd' ich auch ein Vater!‹ – Darauf schlief er bald ein; und ich saß dann so da, Herr Doktor. Und ich dachte mir: wenn ich beim Hansei bleibe – das halt' ich nicht aus, daß er Lateinisch lernt und ich versteh' nichts davon! kann ihn nicht überhören, und nicht mit ihm lernen, und nichts! – Und endlich bin ich hingegangen – Sie entschuldigen – hab' das Buch genommen –«

»Woher wußten Sie, wo es steht?«

»Ich kenn' ja doch Ihre Bücher, Herr Doktor. Ich stäube sie ja ab; seh' sie alle Tage.«

»Und – – und Sie wollten nun Lateinisch lernen?«

»Ja, ich wollt's versuchen. Damit ich dann, wenn Hänschen –«

»Sie für sich? ganz allein?«

»Ich bin ja nicht mehr so dumm wie früher, Herr Doktor; kann ja Italienisch. Und das Italienische kommt ja aus dem Lateinischen, wie Sie einmal sagten.«

»Also nur weil das Kind einmal –?«

Sie nickte.

»Haben Sie so wenig zu tun, Christel? – Wär' es nicht gescheiter, sich am Feierabend wie andre junge Leute zu zerstreuen und zu unterhalten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht mehr so jung, Herr Doktor,« sagte sie ruhig; »das wissen Sie ja. Und dann – nehmen Sie mir's nicht übel, wenn ich das offen sage – mit den andern von meiner Art weiß ich nicht viel zu reden. Die haben doch eigentlich nur dummes Zeug im Kopf; oder Klatschereien. Das interessiert mich nicht ... Bitte, denken Sie nicht, daß das Hochmut ist!«

»O nein, das denke ich nicht. – Sie wollen also durchaus noch was lernen, Christel?«

»Noch? Ich bin ja noch so jung!«

»O Sie Frauenzimmer! Es kann noch nicht sehr lange her sein, da haben Sie das Gegenteil gesagt!«

Sie ließ sich auf diesen Widerspruch nicht ein, sondern sagte rasch, das Buch auf ihren Händen schaukelnd: »Es liegt vielleicht auch im Blut, Herr Doktor. Meiner Mutter Vater war ein armer Schulmeister.«

»In Schlesien?«

»Ja!«

»Hm!« summte er und sah sie mit zunehmender Teilnahme an. »Schulmeisterblut ... Ich will Ihnen was sagen, Christel. Wenn Sie in Ihrer strafbaren Liebe zu Hänschen auch den Flug seines Geistes mitmachen wollen – der dumme Kerl ist im Irrtum: mit sechs Jahren wird er erst buchstabieren, aber noch lange nicht Latein lernen. Bis dahin könnten Sie die ganze Zumptsche Grammatik noch zweimal wieder vergessen. Aber Hänschen und Gretchen, beide, sollen möglichst früh Französisch plappern lernen, aus weltgeschichtlichen Gründen; nicht von so einer französischen Bonne – die sollen mir nicht ins Haus – sondern in Gottes Namen von ihrem eigenen Vater; der kann's von Paris her. Dabei könnten Sie ihm helfen, Christel; wenn Sie durchaus wollten.«

»Französisch lernen?« – Sie war fast bestürzt vor Freude, und ließ den Zumpt auf den Tisch fallen. – »O Gott! O wie gern! – Aber das kann ich ja nicht allein?«

»Sollen es auch nicht«, antwortete er kurz und ging aus der Tür. Als er wiederkam, hatte er ein braun gebundenes Buch in der Hand, das er mehrmals aufrichtete und gegen sie schüttelte, als schüttelte er ihr damit seinen Inhalt zu. »Das ist Doktor Karl Plötz«, sagte er in tiefem Ernst: »Elementargrammatik der französischen Sprache. Das ist ein nützliches Buch. Das will ich mit Ihnen durchstudieren, Christel.«

»Sie, Herr Doktor?«

Er nickte.

Sie ward schreckhaft blaß. Ihr Atem fing an zu stoßen und zu fliegen. – »Das kann ja nicht sein!« stammelte sie. »Das ist ja unmöglich!«

»Ich will Ihnen noch was sagen, Christel: alles, was Sie mir über diese ›Unmöglichkeit‹ mitteilen wollen, das weiß ich schon selbst; also diese ganze Unterhaltung können wir uns sparen. Ich will Sie Französisch lehren, weil Sie Schulmeisterblut haben, und weil ich Sie schonungslos ausnutzen will: ich brauche dann keine Bonne. Das geht niemand was an, als Sie und mich; und da Sie so einfältig sind, sich ausnutzen zu lassen, so haben Sie nichts dagegen. Wir fangen heute abend an!«

»Herr Doktor!« rief sie aus, wieder bis in die Lippen blaß. »Sie sind – –!«

Sie sprach nicht aus.

»Sie irren«, sagte er trocken, als hätte sie ausgesprochen. »Und daß ich Ihnen noch was sage – aber das ist das letzte –: Sie sind ein besonderes Mädel, das ist nun nicht mehr zu leugnen; fallen Sie nun nicht ins Gewöhnliche zurück, halten Sie sich auf Ihrer Höhe! – Ich stürze mich gleich in den methodischen Teil ...«

Er schlug auf und suchte.

»›Kursus für Quinta‹! – Ich mach's aber auf meine Art; will sehn, wie das geht. Sie sind mein Versuchsquintaner ... › Le roi, der König‹!«

Christel sagte nichts mehr. Über ihr Gesicht war ein sonderbares Lächeln geflogen, bescheiden und stolz zugleich; es wich einem tiefen Ernst, mit dem sie sich neben ihn setzte, nachdem er einen Augenblick sanft auf ihre Schulter gedrückt hatte. Wie ein großes Kind saß sie da. Ihre Augen gingen auf und nieder, von Ifingers Antlitz, der sie von der Seite ansah, auf das Buch hinab, und vom Buch wieder zu ihm hinauf. Sie sprach auf sein Verlangen nach, zuerst wie ein Automat, aber tief errötend: » Le roi ... L'ami ... Le livre« ...

Plötzlich bekam sie wieder ihr Hausfrauengesicht: »Aber, ach, Herr Doktor! Ich vergesse ganz: Sie haben ja noch nicht gegessen –«

»Ich will noch nicht essen!« fiel er ihr ins Wort. »Stören Sie nicht die heilige Handlung. Wenn ich Hunger haben werde – la faim, der Hunger – dann werde ich essen; un pain, ein Brot. Jetzt schauen Sie in le livre, das Buch!«

Sie gehorchte stumm, wieder leise und verwundert lächelnd, als hörte sie ein Märchen; oder als wäre sie doppelt, als säße sie wach an ihrem Bett und sähe in einen Traum hinein, den »die andre« träumte. Übrigens träumten beide, die Schülerin und der Lehrer: ihm war gar seltsam zumut, er glaubte, Donna Clara zu sehn, wie sie lächelnd zuhörte, während er dieser »Dienerin aus dem Volk« mit der »Weltanschauung« französische Wörter vorsprach. Immer sah er sie wieder; zuerst gegenüber am Tisch, einen Ellbogen aufgestützt, die Wange in der Hand, mit geistreich spottenden Augen; dann schien sie auf einem Stuhl zu sitzen, der oben auf dem Tisch stand; mit einem hinreißenden, herzlich süßen Ausdruck lächelte sie herab. Aber sonderbar, eben dieses Süße gab ihm einen Stich in die Brust ... Endlich entfernte sie sich, aber nicht für immer. Weit hinten tauchte sie wieder auf, an ihrem Steinwayflügel; sie saß im Profil, über die Schulter blickten aber die Virginiaaugen zu ihm hinüber, spöttisch oder warnend, es war unbestimmt; sie schüttelte verwundert den Kopf, als wollte sie etwa sagen: »Was treibst du für Kindereien? Stell dich doch nicht so, als mache es dir Vergnügen, das Mädchen aus dem Volk zu ›bilden‹; dein Herz ist ja doch hier bei mir ...«

Dazwischen hörte er Christels gedämpfte, ehrenfeste, wohlklingende Stimme: » La reine, die Königin. Une main, eine Hand. Le monde, die Welt!«


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