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III

Die Baronin Pillnitz blieb noch vier oder fünf Tage in Wien; sie fuhr aber täglich hinaus, um mit Ifinger und den Seinen einige Stunden zu verbringen. Als sie zum letztenmal gekommen war und nun scheiden mußte, waren Vater und Sohn von sehr verschiedenen Gefühlen bewegt: Hermann war weich bis zur Wehmut – wenn auch das Gefühl der wieder verklärten, beruhigten Freundschaft ihn beglückte –, der kleine Hans zitterte vor Ungeduld, denn seine neueste Seligkeit war, mit dem geschwenkten Taschentuch zu winken, sooft jemand abreiste. Die Baronin zögerte noch im Terrassenzimmer, sie hatte insbesondere der Christel immer noch ein Wort zu sagen; unterdessen stand Hänschen draußen auf der Bank und rief mehrmals, zuletzt beinahe weinerlich: »Geht's denn noch nicht fort?« – Endlich ging es fort; sein kleines Tuch wehte wie eine weiße Fahne, Gretchen ahmte ihm nach, wie immer, zuletzt mußte auch Christel winken. Ifinger begleitete die Freundin bis zum Bahnhof; sie hatte keinen Wagen gewollt, sie ging fast leidenschaftlich gern zu Fuß. Als ihr Zug dann abfuhr, winkte sie aus dem Fenster, nicht so stürmisch, aber herzlicher, als sein Sohn gewinkt hatte. Er sah ihr nach, solange noch ihr Wagen zu erblicken war. Langsam und versonnen ging er dann zu seinem Hause zurück, dessen cottageähnlicher, holzverzierter, ansteigender Bau ihn schon fast heimatlich grüßte.

Er stieg im Garten aufwärts, da der Tag so schön war, in ein kleineres Gärtchen, das, terrassenförmig aufgemauert, in gleicher Höhe mit dem Oberstock, weit ins Land hinausschaute. Als er oben ankam, sah er Christel mit dem zweiten Frühstück – denn es war noch Vormittag, und sie speisten erst um vier – zu Erhart ins Oberhaus gehn. Seine Augen folgten ihr träumerisch verwundert, wie sie es schon oft in diesen Tagen getan hatten; – »die ›Gouvernante‹! die ›Erzieherin‹!« sagte er vor sich hin, Donna Claras Worte in ihrem Tonfall wiederholend. »Eine ›junge Dame‹ ... Ja, ja, so sieht sie jetzt aus. Das hat was vom Märchen ... Sie kam doch wie ein Dienstmädchen; – dann warf das Schicksal sie freilich bald in die große Aufgabe hinein, wie ins tiefe Wasser – und sie lernte schwimmen. Aber so wie die Christel, das ist schon ›Genie‹ ... Was soll man dabei tun? Soll man ihr verbieten, noch wie eine Magd mit dem Butterbrot ins andre Haus zu gehn – so wie eben jetzt? – Und wenn sie dann wieder bürgerstolz wird? und mir gar auf und davon geht? – Was fing' ich ohne sie an?«

Es überlief ihn förmlich, nur daran zu denken. Er suchte sich andre Gedanken; endlich stand er auf, um wieder zu seinen »kleinen Freunden«, den Bazillen und Mikrokokken, zu gehen – so wunderbar wenig er sich auch heut' zum Arbeiten gestimmt fühlte. Er machte ein paar Schritte und blieb wieder stehn: ihn wunderte, daß Christel immer noch nicht zurückkam. Es verdroß ihn fast; was hatte sie so lange bei Erhart zu tun? Seine Gedanken gingen ihr nach: was tun sie? – Beide sind ja Menschen ... Nicht daß ihm einfiel, an Christels Ehrbarkeit zu zweifeln, o nein, das nicht, das gewiß nicht; aber kannte er denn Erhart nicht? dessen Maleraugen so leicht seine andern Sinne erregten? Erhart, den »Zigeuner«? Wenn dieses leichte, lustige Blut sie etwa zu betören suchte – jung war sie doch auch ... Er runzelte die Brauen. »Ich bin Hausvater«, dachte er. »Hab' für sie zu sorgen!« – Nie hatte er sich selber gestattet, das Weib in ihr zu sehn, das man begehren kann; jedes zärtliche Gelüst oder Gefühl, auch das bescheidenste, hatte er von Anbeginn in sich unterdrückt, als unwürdig, unmöglich. Sollte nun ein andrer – –?

Die kleine Frau Veit riß ihn aus seinem Brüten, sie kam aus dem Oberstock des Hauses und ging auf ihn zu. Schon von ferne konnte man ihrem wichtig ernsten Gesicht, ihrer beklommenen Schulterhaltung anmerken, daß sie etwas auf der Seele hatte. In ihrem einfachen, grauen Hauskleid verstand sie doch wie jemand auszusehen, der abreisen will. »Gnädiger Herr,« sagte sie, als sie vor ihm stand, – »da ich schon die Ehr' hab', Sie anzutreffen, – nichts für ungut, ich hätt' eine Bitte. Ich sollt' – ich möcht' wieder fort!«

»Was?« sagte Ifinger, der zuerst glaubte, er habe sich verhört. »Sie schon wieder fort? Sie sollten ja vier Wochen bleiben; so war's ja gemeint. Was hat man Ihnen denn getan?«

»Getan? Aber gnädiger Herr, da müßt' ich lügen, getan hat mir kein Mensch was –«

»Oder tun wir zu wenig, Frau Veit, um Sie zu zerstreuen? Waren Sie denn nicht schon zweimal in Wien, um Ihre weltlichen Gelüste zu befriedigen? Im Wurstelprater und im Burgtheater? Haben Sie nicht schon hier in der ›Schießstätte‹, als Vorbild für die jungen Ifingers, sich in ›Strohwein‹ berauscht?«

»Aber gnädiger Herr! Aber gnädiger Herr!« rief die Alte aus und verdrehte fast ihren kleinen Körper; sie hatte schon fünfmal versucht, diesen ihren gefährlichsten Nebenbuhler im Schnellreden mit Hand und Mund zu unterbrechen. »Ist ja alles viel zu viel für so 'ne alte Person. Übrigens, berauscht war ich wirklich nicht – Gott ist mein Zeuge –«

»Woran fehlt's denn sonst?« nahm Ifinger schon wieder das Wort. »Haben Sie unbefriedigten Ehrgeiz, werden Sie nicht genug gewürdigt und gefeiert? Hat Herr Erhart nicht gestern abend bei der Familienbowle auf Ihr Spezielles getrunken? Hat dann nicht der Graf seinen Arm um Sie gelegt und ist mit Ihnen um den Tisch getanzt, um Ihnen seine besondere Hochachtung auszudrücken? Und hat Ihnen das nicht sehr wohlgetan? Wie? Hab' ich's nicht gesehn, wie Sie die Augen vor Wonne eindrückten wie ein alter Kater, als Sie so dahinschwebten? wie alles an Ihnen Gott für die Ehre dankte, an einem gräflichen Busen zu ruhn?«

»Oh, Sie sind schlimm! Sie sind schlimm!« rief die Kleine in den höchsten Tönen ihrer sonst so männlichen Stimme aus. »Verzeihen Sie die dreiste Bemerkung – aber Sie sind wirklich schlimm! – Ich in meinen Jahren –«

»Nu, so sagen Sie endlich – öffnen Sie den Riegel – warum wollen Sie fort?«

»Ich komm' ja nicht zum Wort, Euer Gnaden. Und was Sie mir alles nachsagen ...«

Sie nahm sich nun aber mutig zusammen, und den Kopf ganz zurückgeworfen, so daß sie ihm voll ins Gesicht sah, tat sie einen tiefen Seufzer und sagte: »Euer Gnaden – – die Christel!«

»Was ist mit der Christel?« fragte er verwundert. »Was tut Ihnen die?«

»Tun? O gar nichts. Gar nichts!« – Frau Veit schnitt beteuernd die Welt mitten durch, indem sie beide Arme von sich streckte. – »Tun? Nein, da müßt' ich lügen. Das wär' ein grauslicher Undank; so brav und gut als die ist! – – Aber schaun's, Euer Gnaden – Sie sagen noch: ›die Christel‹ – ich auch. Aber wie wär' denn das die Christel; gar keine Spur! Müssen's nicht übel aufnehmen: die Christel Schellenberg, die ich hab' besuchen wollen, die ist ja nimmer da. Ich geh' immer an ihr herum, schau' an ihr herum – mir wird völlig unheimlich! – Ich muß wieder fort!«

»Veiterl!« sagte Ifinger, aus einer sonderbaren Beklommenheit heraus sie anlächelnd. »Sie sind ein altes Kind! – Weil die Christel Französisch gelernt hat –?«

»Aber wie, gnädiger Herr – aber wie! Viertelstundenlang hat sie dagestanden und hat mit der Frau Baronin, leider ist sie nun fort, eine feine Dame, – hat mit ihr Französisch gered't, als wär' sie aus Paris!«

»Der Baronin hat's Spaß gemacht –«

»Und Italienisch auch. Ich hab' dabeigestanden, Euer Gnaden; ich denk', ich steh' auf dem Kopf!«

»Die Baronin hat die Christel gern«, entgegnete Ifinger; es ging ihm dabei eine stille, unbewußte Freude über die Brust. »Und sie hat über allerlei Wirtschaftliches hören wollen, wie's die Christel macht –«

»Da hat sie auch recht!« sagte die Alte wichtig. »Denn die Christel versteht's; da ist nichts zu sagen! Von Französisch und Italienisch will ich auch nichts reden; – aber schaun's, Euer Gnaden, das Ganze! was man so sagt!«

»Ich versteh' nicht. Die ganze Christel?«

»Ja freilich. Sie verstehn mich schon. Sie verstehn ja alles. Ja, ich mein' halt die ganze Christel; und überhaupt – die Augen – und das Reden – und wie sie die Kinder zieht – und alles. Die ›alte Christel‹, von der sie in der Nacht gebet't hat – und so wie sie damals in Hallein gestanden hat, bei der Kirch' auf dem Friedhof – die ist nimmer da! Die kommt auch nicht wieder!«

Ifinger legte ihre eine Hand auf die breite Schulter. »In der Nacht gebetet, sagen Sie. Was hat sie gebetet?«

Die Alte zog sich zusammen. – »Ich sollt's wohl nicht sagen –«

»Warum nicht?«

Sie verbesserte sich schnell: »Aber ich kann's auch wohl sagen; 's ist ja keine Schand' – und auch kein Geheimnis. Ich schlaf' mit in ihrem Zimmer, der gnädige Herr werden's wissen; sie kommt aber immer später ins Bett. Vorgestern kommt sie auch, denkt natürlich, ich schlaf' schon; hab' auch sonst einen guten Schlaf, kann nicht klagen, Gott sei Dank, da fehlt nichts; diesmal lieg' ich aber noch so da – denk' grad' über die Christel nach – kann's noch gar nicht fassen. Und sie setzt sich auf ihr Bett und macht sich die Haare – schöne Haare hat sie; von ihrer Mutter selig; war überhaupt eine hübsche Frau, etwas zart – und auf einmal legt sie die Hände zusammen, und mit so 'ner leisen Stimme fangt sie an zu beten. Das erste, das versteh' ich nicht; dann sagt sie ein bissel lauter, dass ich's hören kann: ›Und behüt' mich vor Hoffart! Laß mich immer bleiben, was ich war: deine alte Christel, deine alte Christel!‹«

»Haben Euer Gnaden verstanden?« fragte die Veit nach einer Weile, da Ifinger in die Luft sah und schwieg.

»O ja; hab's verstanden«, antwortete er mit halber Stimme. »Also was wollen Sie dann, Sie törichtes altes Kind? Sie will ja nicht hoffärtig sein, will sich nicht verändern. Will Ihnen und – – und uns allen bleiben, was sie ist!«

»Freilich, freilich, das will sie; – oh, die hat keinen Stolz, keinen Übermut, wie die andre, das durchtriebene Menscherl, jetzt eine große Malersfrau – – Euer Gnaden, so mein' ich's auch nicht! Nur weil ich immer denk': was soll sie noch mit mir reden; ich kann ja doch nichts als das Nähen – – aber das kann ich, da kommt mir keine vorbei, muß's schon selbst sagen –«

Ihre hurtige Zunge hörte plötzlich auf, ihren Trab zu laufen. Sie deutete mit dem Kopf nach oben: Christel kam um die Ecke von Erharts Häuschen, auf die kleine Stiege zu, die nach unten führte. »Wie man den Wolf nennt,« flüsterte die Alte einen ihrer Lieblingssprüche, »so kommt er gerennt! – Jetzt kann ich nichts mehr sagen, Sie entschuldigen; ein andermal hab' ich noch die Ehre –«

Sie machte eine von ihren tiefen, raschen Verbeugungen und lief wieder ins Haus zurück.

»Wir sind schon fertig! Sie bleiben!« rief ihr Ifinger nach.

Also da kam diese Christel; endlich ... Er schlenderte hinter der Alten her, bis zum Eingang in den Oberstock, damit das Mädchen an ihm vorbeigehn müsse. »Christel!« sagte er, als sie still und ruhig ins Haus wollte: warum tragen Sie denn das Frühstück hinauf? warum nicht das Laufmädchen?«

»Es machte sich heute so, Herr Doktor«, sagte sie harmlos. »Heut' hatte ich Zeit, und sie nicht. Wie es grade kommt!«

Nachdem er ein aufsteigendes Erröten glücklich unterdrückt hatte, fragte er so gelassen wie möglich: »Was hatten Sie denn so lange da oben –?«

»Oh, es war schön! wunderschön!« fiel sie ihm fast ins Wort. »Herr Erhart wollte mich ›auch wieder einmal bilden‹, wie er sagte; er hat mir ganze Mappen gezeigt, alles Photographien; aber große, nach den Originalen, den Bildern im ›Belvedere‹, Tizian, Rubens, Moreto –«

»Ihnen leuchten ja die Augen, Christel ... (Da haben wir's! dachte er; ich hätte wahrhaftig beinah' ›Fräulein Christel‹ gesagt! – Alles wird verrückt!) Sie interessieren sich für alles, scheint mir. Waren Sie denn schon im Belvedere?«

»O ja, einmal schon. Mit Herrn Erhart. Er hat mir alles Schönste gezeigt, und hat mir's erklärt.

»Er hat ihr's erklärt! ich nicht!« dachte Ifinger. – Er antwortete dem Mädchen nicht; er murmelte nur etwas, das nicht zu verstehen war, und machte so eine halbe, verlorene Bewegung, daß sie das Gespräch für beendet hielt. Mit ihren gleichmäßigen, elastischen Schritten ging sie in das Haus.

Er sah ihr nach, mißgestimmt, ohne zu wissen, warum. Von oben her weckte ihn eine andre Stimme. Erhart war aus seinem Atelier auf den oberen Balkon getreten und rief herab, aber weicher, gedämpfter, als sonst seine Art war: » Buon giorno, poverino!«

Ifinger wandte sich. »Wieso poverino?« fragte er hinauf.

Erhart lächelte. »Armer Strohwitwer!« sagte er, wie zur Erklärung.

»Ich versteh' dich nicht. Was meinen Eure Lordschaft?«

Der Maler nahm seinen Fes vom Kopf und deutete damit gegen den Leopoldsberg, nach Wien zu. »Ich meine, daß Donna Clara fort ist. Tut mir leid für dich, Alter; neidlos wie ich schon bin. – – Wie prachtvoll du schweigst; stoisch wie ein alter Römer. – Hast übrigens eigentlich recht; denn das muß man sagen: Glück hast du doch!«

»Wieso hab' ich Glück?« fragte Hermann, dem die Brauen zu zucken begannen.

»Nu, ist das nicht Glück? Eine zauberhafte Frau, vor der andre gerutscht sind wie die jungen Hündchen, und nicht einmal bellen oder winseln durften – die kommt angereist, kommt alle Tage heraus, zu dem ›besten Freund‹ ... Mir gefällt das, muß ich sagen; wenn's mich auch nicht trifft. Ist das Glück, oder nicht?«

»Willst du nicht noch lauter sprechen?« murmelte Hermann. Das Blut stieg ihm ins Gesicht.

»Aber ich flüstere ja; was willst du. Wer soll uns denn hören? – Ich wollte dir nur andeuten, daß ich in meinem jetzt geläuterten Zustand keinen Neid verspüre; daß ich aber mit einer gewissen Genugtuung sehe, ich war damals doch ein ahnungsvoller Prophet –«

»Wann denn? Worin denn?«

»Bitte, nicht so laut!« flüsterte Erhart, mit triumphierendem Spott. »Wann denn? Damals in München – als ich wieder fortging. Als ich dir auseinandersetzte, aus so einer idealen ›Freundschaft‹ wird oft unversehens –«

»Mensch, du glaubst also wirklich, daß – –!« fiel Hermann ihm gereizt in die Rede.

»Nun ja, allerdings. Ich glaube, daß du – und daß sie –«

Er sprach seinen Gedanken nicht aus; es war auch nicht mehr nötig. Sein Zwinkern, sein Ton, sein ganzes Gesicht hatten ihn beendet. Durch Ifinger fuhr ein zuckendes, unsinniges Gefühl; eine übertriebene, maßlose Entrüstung und Empörung: dieser Mensch, den er liebte, war auf einmal fast etwas Widriges für ihn. »Also meine ›Geliebte‹,« dachte er; »das kann er sich vorstellen, und weiter nichts. Diese Bocksnatur ... Und von dem kommt Christel ...«

Es schüttelte ihn wieder. »Du – – du bist nicht gesund!« war alles, was er endlich hervorzustoßen vermochte. Er drehte sich um und ging in sein Haus.


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