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VI

Christel erschrak, als ihr Doktor spät am Morgen im Speisezimmer erschien: er sah wieder fast so grau aus wie in jener Unglücksnacht, als die Frau fortgereist war; nur daß auf den Wangen immer wieder rötliche Flecken erschienen. Auch fiel ihr nun auf, daß er in diesen wenigen Tagen abgemagert war, mit spitzer Nase und hohlen Augen, und daß über seinem freundlichen Mund sich scharfe, schräge, humorlose Linien eingegraben hatten. Sie sah ihm ganz verdutzt ins Gesicht, als er ihr erklärte, diesen Abend verreise er; nur auf kurze Zeit; sie möge ihm »mit ihrer gewohnten Kunst und tiefen Einsicht« seinen Koffer packen.

»Wohin?« fragte sie stotternd.

»Nach Klosterneuburg bei Wien, zum Herrn Erhart. Hier ist seine Adresse; falls sich was ereignet!«

Sie faßte sich einen Mut: »Aber Sie können ja nicht reisen, Herr Doktor; nehmen Sie's nicht übel, daß ich das sage. Es geht Ihnen ja gar nicht gut!«

»Es geht mir nicht gut? – Mir scheint, Christel, Sie fangen an, mehr zu wissen als ich. Lassen Sie das lieber. Mir geht es grade so gut, wie ich's brauche, um nach Wien zu reisen. Was mir etwa zu einer normalen Mustergesundheit fehlt, das hol' ich mir unterwegs!«

»In der Nacht, Herr Doktor?« wandte sie etwas schüchterner ein. »Wenn Sie des Nachts reisen, schlafen Sie ja so schlecht. Und diese letzten Nächte haben Sie jämmerlich geschlafen –«

»Sie sind ein wunderbares Geschöpf: was Sie alles wissen! Grade in der letzten Nacht – –«

Er stockte.

»Was haben Sie in der letzten Nacht?«

»Ganz ausgezeichnet geschlafen!« stieß er, durch ihre großen Augen gereizt, mit einem fliegenden Erröten aus.

»Aber mein guter Herr Doktor!« rief das Mädchen und hob beide Hände. »Wie können Sie das sagen! Sie haben sich ja gewälzt und geseufzt und mit sich gesprochen, fast die ganze Nacht. Und wenn Sie wohl einmal eingeschlafen sind, dann haben Sie auch im Schlaf gerufen und geredet! Ja, Herr Doktor, Sie!«

Er sah sie sehr betroffen an. »Darf man fragen, woher Sie das alles wissen? Können Sie durch drei Türen und drei Zimmer hören? Oder haben Sie diese interessanten Sachen geträumt?«

»Nein, das hab' ich nicht, aber – – ich war doch schon unruhig, und bin zuweilen aufgestanden – und hab' an Ihrer Tür –«

»Gehorcht!«

»Das ist doch kein Verbrechen, Herr Doktor, in so einem Fall doch nicht. Sie sahen schon so übel aus ... Und zum Arzt – wenn es nicht für die Kinder ist – wollen Sie nie schicken. Da bin ich in meiner Sorge um Sie denn umhergegangen –«

»Wie die weiße Frau!«

»Ach, mein guter Herr Doktor, lächeln Sie doch nicht. Das ist nicht zum Lächeln. Schicken Sie zum Doktor, ich bitte Sie, oder wenn Sie das nicht wollen – reisen Sie wenigstens nicht!«

Ifinger ging durchs Zimmer, er erregte sich, eine innere, schleichende Glut drängte ihn dazu, es tat ihm wohl, daß er sich erregte. Mit den Armen schlenkernd kam er langsam zurück: »Ich will Ihnen was sagen, Christel. Ich kann auch den Koffer packen, und Sie können den Doktor Ifinger spielen, das ist alles zu machen. Aber nötig ist es noch nicht. Ich bin noch bei Verstand. Sobald ich einen Vormund brauche, wird man darüber einen Gerichtsbeschluß machen; werden dann Sie dazu ernannt, dann genieren Sie sich nicht, nehmen Sie das Gängelband und leiten Sie meine Schritte. Wie jetzt die Sachen noch stehn, reise ich heute abend nach Wien, mit dem letzten Zug. Ich bitte um Ihre Zustimmung. Schrumpfen Sie aber etwas ein, Christel; ich glaube, Sie werden zu groß!«

Es durchfuhr sie heftig. Sie sah ihn eine Weile an, bis in die Lippen blaß, dann starrte sie vor sich hin. Es schien, daß sie etwas erwidern wollte; als sie aber wieder aufblickte, schüttelte sie nur, wie beteuernd, den Kopf. Ein paar vorwitzige Tränen drängten sich hervor, blieben aber, als würden sie angehalten, in den Augen stehn. Sie ging still zur Tür.

»Christel!« rief er ihr nach. Es hatte ihm auf einmal jemand von innen einen Stoß gegeben. »Christel!« rief er noch einmal, da sie sich langsam herumgewendet hatte und ihr treuherziges Gesicht, durch den Schmerz verschönt, einen schwachen Versuch machte, sich wieder zu erheitern. »Bitte, bleiben Sie noch; mir ist – – Ich glaube, man hat Sie hier eben gekränkt. Ja, ja; schütteln Sie nicht den Kopf. Wie kann man Christel Schellenberg kränken; das ist nicht in der Ordnung! – Ich bin – bin nervös. Bitte, geben Sie mir die Hand. Ich will Ihnen was auf französisch sagen, da Ihnen die Sprache jetzt geläufig ist: tout comprendre c'est taut pardonner!«

Sie lächelte und nickte.

»Verstehn Sie, was das heißt?«

»O ja«, sagte sie schlicht. »Alles begreifen, das ist: alles verzeihn!«

»Statt ›das ist‹ sagen Sie einfach ›heißt‹. Ja, ich bin nervös, Christel. Es ist nicht alles in mir, wie es soll. Darum – reis' ich fort. Und darum ärgerte ich mich vorhin über Ihre Sorge und Ihre Weisheit. Sie sind aber auch – – Nein, ich will mich nicht wieder ärgern; will Sie nicht mehr kränken. Sie, Christel Schellenberg – die Säule – die – –«

Er legte ihr plötzlich die Hand auf das braune, dichte Haar; was noch nie geschehen war. Ihr Kopf begann leise zu zucken, mehrmals nacheinander. Das Mädchen ward aber nicht rot, eher blaß.

»Wir können uns doch nicht veruneinigen, wie?« sagte er, an ihrer Schläfe hinstreichend. »Wär' das möglich, Christel?«

»Nein«, sagte sie mit einem rührenden Lächeln; dann zog sie den Kopf leise weg.

»Uns hat das Leben nun einmal so zusammengeworfen; dabei bleibt es, wie? – – Den Koffer müssen Sie aber packen; – reisen muß ich, Christel ...«

»Ja, ich werd' ihn packen«, sagte sie mit gesenkter Stimme, resigniert, ein wenig die Achseln zuckend. Wie um ihr gebrochenes Selbstgefühl wieder aufzurichten, setzte sie etwas fester, bittend, hinzu: »Sie werden aber was essen, Herr Doktor; da steht noch Ihr Frühstück!« – Damit ging sie hinaus.

Der Tag zögerte sich so hin. Hermann versuchte zu arbeiten; es gelang ihm nicht, die Gedanken hielten nicht still. Er war mit den Kindern, bis ihre Lebhaftigkeit ihn erschöpfte und vertrieb. Endlich kam der Abend und die Stunde der Abfahrt; Christel hatte für alles gesorgt. Er fuhr in einem Wagen zum Bahnhof, matt in die Ecke gedrückt. Gedankenlos sah er auf die Häuser und das Pflaster hinaus; in einem dumpfen, grundlosen, ahnenden Gefühl, dass er für immer abreise, daß er nicht mehr wiederkomme. In der Luisenstraße tauchten bei dem flackernden Laternenlicht drei wunderliche Gestalten auf: Brenzel, Prahm und Kircher, die drei Wahrheitspriester; sie gingen gegen den pfeifenden Wind, der mit ihren Haaren seinen Unfug trieb, sie schritten aber so trotzig aus, als wollten sie den Wind aus der Welt hinausdrücken, und die Welt mit ihren großen Füßen platt treten. Ifinger sahen sie nicht. Er fuhr an ihnen vorbei; über seine fast erstarrten Züge ging ein schwaches Lächeln ...

Es war eine stürmische Nacht; wie der März sie gern hat. Von Osten, wohin seine Fahrt ging, sauste ein stoßender, »böiger« Wind, der dann nach Süden sprang; eine »heulende Bestie«, wie es Ifinger erschien, ein Feind der Ruhe, der Nacht, des Menschen. Wie lange glühende Linien flogen die Funken vorbei; es war, als pfiffen und ächzten sie, wenn der Zug minder laut fuhr, als wären sie lebendige, vorüberhöhnende Wesen. Wolken jagten am nachtblauen Himmel, doppelt geschwind, da man ihnen entgegenzog; sie rissen zuweilen den Halbmond in Stücke, plötzlich aber erschien er wieder, unversehrt, als hätten die Winde ihn wieder zusammengeweht. Hier und da flimmerte ein Stern, aber schwach und trüb, gleichsam zaghaft, wie aus weiterer Ferne als sonst; »sie scheuen den Tumult, sie sind Aristokraten!« dachte Ifinger. In ihm war es anders; eine wilde Gärung verbreitete sich allmählich in seinem überreizten Hirn. Die Elemente seines Daseins schienen durcheinander zu wirbeln, während Denken, Vonsichwissen, Charakter, all der »angewöhnte Krimskrams« nach und nach erlosch. Ihn reizte, empörte, erbitterte der Sturm der Natur; es kämpfte in ihm ein andrer dagegen, auch so rastlos und ruhlos ... Er fuhr ganz allein; bald hier, bald dort streckte er sich auf den Polstern aus, wälzte sich umher; aber er blieb wach und sein Kopf blieb heiß, und er lehnte ihn immer wieder an das windumsauste Fenster, um ihn, wenn möglich, zu kühlen. Die Nacht ward etwas heller; an einem kleinen, öden Bahnhof, wo sie einige Minuten hielten, stand ein einzelnes Bäumchen, das ihm in die Augen fiel: es kämpfte einen harten Kampf, seine kahle, noch zierliche Krone flog hin und her, als säße der Wind als unsichtbarer Affe darin, der sie in blinder Wut rasend schüttelte. So schien auch seinen Kopf irgendwer zu schütteln ...

Auf einmal erwachten darin tiefere, schmerzliche Gefühle; es fiel ihm wieder ein, wohin er fuhr und vor wem er floh. Er sah Donna Clara an ihrem Kamin, und sich neben ihr. Er griff an seine Stirn, konnte nicht begreifen, daß er so dagesessen, daß er nicht wenigstens einmal sich zu ihren Füßen hingeworfen hatte; daß er nicht ihre Knie umfaßt, nicht in die Luft hinausgerufen hatte, was er für sie fühlte. Ja, ja, ja, die Poesie stöhnte es aus ihm, während seine Stirn an das Fensterglas des zitternden Wagens schlug; ja, ja, ja, du bist die Poesie ... Die ist nicht für mich; natürlich ... 's ist aber doch ein unsinniger Schmerz, daß sie nicht für mich ist – sondern für den andern ...

Es ward endlich Tag. Die Bäume am Weg wurden ruhiger; der Wind heulte nicht mehr, wenn der Zug auch still hielt. Doch er hielt bald nicht mehr. Er fuhr an den »Sommerfrischen« des Wientals vorbei, die noch alle in ihrem Winterschlaf lagen; neblig sprühte die graue Luft. Er fuhr gegen Wien zu ... Das wußte Ifinger noch, das begriff er noch. Dann verschwand ihm alles, der Nebel, der Tag, das Wissen und Begreifen. Endlich sank er von dem Haken herunter, an dem sein nach Ruhe lechzendes Gehirn diese ganze Nacht gehangen, Windluft und Feuerluft eingesogen hatte. Er sank in den Abgrund. Es gefiel ihm sehr; nur versank er so rasch, daß er nicht Zeit genug hatte, seine Erlösung zu fühlen. – –

Als er die geschlossenen Augen wieder auftat, war ihm als erwache er aus einem langen, oft wiederholten Traum: vom heißesten Afrika, wo ihn viele Ameisen äußerst lästig überliefen, hatte man ihn auf einmal nach Sibirien gebracht, in die schönste Kälte; immer kam er aber nach einiger Zeit wieder in die Hitze zurück. Zuweilen war ein Gesicht erschienen, ganz in seiner Nähe; er kannte es nicht; es lag ihm aber auch nichts dran ... Jetzt deuchte ihm das Erwachen nicht übel; er wußte noch nicht, warum. Daß der Traum zu Ende sei, das schien das Gute daran. Er blickte langsam umher, völlig ahnungslos, wo er sich befinde. Auch sah er nur undeutlich. Dagegen kam ihm bald ein erster deutlicher Gedanke: daß er offenbar nicht durch die Brille sehe. Mit einer matten, langsamen Bewegung griff er nach seinen Augen. Er hatte recht: da war keine Brille. Dagegen stieß er an einen nassen, kühlen Umschlag, der ihm nun vom Scheitel fiel. Um ihn her war ein heller, weißlich grauer Raum; oben, als Schluß, eine geweißte Decke; um ihn her ein Bett. Ein Hemdärmel lag darauf; – es war sein eigener Arm, wie er nach einem tastenden Versuch zu seinem Erstaunen bemerkte. Wie kam er in Hemdsärmeln hierher? Wie kam er in dieses Bett?

Noch immer hatte er halb geträumt; jetzt verging auch das. Eine Gestalt kam heran, die einen Schatten warf; ein Gesicht, ein fremdes, fiel ihm in die Augen; – eben das Gesicht, das er zuweilen in Sibirien oder irgendwo da oben wahrgenommen hatte. Es war aber körperlich, wirklich; das angenehme, blaßrötliche Gesicht einer Frau, die sich ein wenig über ihn neigte und ihm still freundlich zunickte. Sie hatte eine Haube auf dem Kopf und war schlicht gekleidet. Sie sah ihn aber nur an, sprechen tat sie nicht.

In solchen Fällen fragt man immer zuerst: »wo bin ich?« dachte Ifinger, in dem mit der ersten Klarheit des Denkens ein verrückter Humor erwachte. Also gut ... »Wo bin ich?« fragte er dann laut. Er verwunderte sich aber, wie wenig Klang seine Stimme hatte.

»Im Krankenhaus«, sagte die Frau, mit einem sanften nüchternen Lächeln.

»Bitte: es gibt ziemlich viele. In was für einer Stadt, wenn ich bitten darf?«

»Nu, in Wien«, erwiderte sie etwas verwundert. »Sie sind wohl noch weit weg. Drehen Sie sich lieber herum und schlafen Sie wieder ein!«

Er sann einige Augenblicke nach, ob er das tun solle, ob es besser sei. Die Wißbegier war aber doch stärker als die Schwere über seinen Augen und auf seiner Zunge. »Das kann ich ja immer noch«, antwortete er, seine Kräfte sammelnd. »Wollen Sie mir nur sagen: wie komme ich denn hierher?«

»Man hat Sie auf dem Bahnhof im Wagen gefunden,« sagte die Frau, – »als der Zug hereinfuhr. Man hat gesehen, Sie sind krank; und hat nicht gewußt, wer Sie sind. Da hat man Sie in das große Krankenhaus gebracht. Und ich pflege Sie. Sie haben aber diese Tage tüchtig gefiebert; – hoffentlich ist's nun vorbei. So, nun wissen Sie alles. Sie sollen noch nicht sprechen. Schlafen Sie nur ein!«

»In Wien wär' ich also«, dachte er, »nur am falschen Ort! – – Krank! – Welcher Unsinn. – Christel hatte recht ...«

»Bitte, nur noch eine Frage!« sagte er nach einer Weile, da er die Frau noch am Bett stehn und ihren grauen Schatten auf die Wand werfen sah. »Können Sie mir nicht sagen, wann die Sache vorbei ist und ich wieder gesund bin?«

Die Pflegerin lächelte wieder, aber, wie es schien, etwas spöttisch. »Das kann ich Ihnen wohl nicht sagen«, antwortete sie; »kommt ja auch darauf an, ob der Herr vernünftig ist. Wenn der Herr Professor kommt ... Daß Sie sich nur nachher nicht wundern, will ich Ihnen noch sagen: ich geh' heut' fort, meine Leut' sind krank, hab' ein paar Tage Urlaub. Es wird also derweil eine andre Wärterin – – Aber nun machen Sie nur die Augen wieder zu, das ist jetzt das beste!«

Ifinger schüttelte trübselig träumerisch den Kopf. »Im Wiener ›Allgemeinen Krankenhaus‹«, dachte er; »das war nie mein Ehrgeiz! – – Aber die Frau hat recht. Wärterinnen haben immer recht. Mein Kopf ist von Platina – oder welches Metall sonst das schwerste ist. Ich weiß keine Chemie mehr; ich kann nicht mehr denken ...«

Das Bewußtsein verging ihm, und gegen die Wand gekehrt, versank er in einen tiefen, langen, traumlosen Schlaf.


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