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V

Endlich brach denn doch der Winter herein, wenn er auch den November noch ganz dem Herbst geschenkt hatte. Die Tage kürzten sich sehr; schon beim Mittagsmahl, das um vier begann, kam zuletzt die Lampe, und Erhart, der bei künstlichem Licht zu arbeiten nicht liebte, fuhr dann oft in die Stadt, mit Waldsee oder allein. Hermann begleitete ihn nicht gern; nicht daß sein Gefühl für Erhart sich ernstlich getrübt oder erkältet hätte: dagegen wehrte er sich mit allen seinen Kräften; aber irgend etwas in seiner Seele zog ihn gleichsam in sich zusammen, je länger, je mehr, und die Unterhaltungen der großen Stadt, die über den Leopoldsberg hinauswinkten, erschienen ihm noch als Störenfriede, er wußte selbst nicht, warum. Eines Abends jedoch – die kleine Veit war schon längst nach ihrem Hallein und zur Stuber zurückgekehrt – ward auch Ifinger, der »Eremit«, wie Erhart ihn schon nannte, mit hinausgerissen. Er saß und spielte mit den Kindern, eh' sie schlafen gingen; Erhart trat unerwartet in die Tür, den Hut auf dem Kopf, den er auch nicht abnahm: »ich komm' aus Wien zurück«, sagte er, »um dich abzuholen; sie haben mich herausgeschickt, und heut' mußt du mit. Baron Pillnitz ist da! Er will neue Bilder sehn, will mit allerlei Wiener Malern anbandeln, für seine Pillnitzothek. Seine Getreuen, der Prahm und der Brenzel, haben ihn begleitet; die hängen ihm nämlich noch immer an wie die Kletten – – aber dein Baron ist eigentlich doch ein großer Mann: für die schauderhaft wahre Natur haben sie ihn noch immer nicht gewonnen. Er will dich jetzt sehn, durchaus. Er ›adoriert‹ dich, sagt er; aber herauszukommen, dazu hat er keine Zeit mehr. Hänschen, gib deinem einzigen Vater seinen Hut, und dann geh zu Bett! – Sie sind im Hotel Imperial; da wohnt er. Waldsee ist auch dabei. Und so ein paar Maler. Also steh auf und komm mit!«

Ifinger folgte schweigend; vor einer Viertelstunde hatte er sich selber einen halben Narren gescholten, daß er sich eingrabe wie ein Dachs, statt sich umgekehrt »in die Welt zu werfen«. Denn vielleicht tat ihm nichts so gut wie die große Welt, um gewisse Nebel und Dünste, die ihn plagten, aus dem Kopf zu jagen ... Der nächste Zug und ein guter Fiaker brachte sie bald ans Ziel; sie traten aus der schneekalten Nacht in die vornehm behaglichen, ehemals fürstlichen Räume des Hotel Imperial ein, in dem der Baron Quartier genommen hatte. Er saß jetzt mit seiner Gesellschaft in dem großen, goldglänzenden Speisesaal, der aber nahezu leer war; auch hatten sie sich in den fernsten Winkel gezogen, wo sie ungestört debattieren konnten. Sie waren nur ihrer sechs, Schwalbe unter ihnen; Brenzel fehlte noch. Ifinger kannte sie alle. Pillnitz, der von einem »offiziellen« Diner gekommen war, trug den Frack und die weiße Binde; auch war er »an die Kette gelegt«, wie Erhart die Leute benannte, die sich ihr Ordenskettchen an die Brust gehängt hatten. Neben ihm saß Prahm; der gleichfalls dekorierte Meister Prahm, dessen rötlich feistes, selbstzufriedenes Gesicht auf dem kurzen Nacken Ifingern so fremd erschien, als hätte er es seit hundert Jahren nicht gesehn. »Das ist auch so was Gutes am Leben,« dachte er, während Prahm ihm die Hand drückte, »daß man diesen und jenen so gründlich vergessen kann!«

Nachdem die erste Begrüßung vorbei war, nahm die durchdringende, schnarrende Stimme des Barons wieder das Wort; er hatte eben begonnen, dem Grafen und den Wiener Malern die Geschichte seiner Galerie zu erzählen, so wie sie sich nach und nach in seinem rückblickenden Geist geformt hatte. Sein Gesicht, schon etwas vom Wein gerötet (wiewohl er immer nur mäßig trank), hatte seinen strahlenden Glanz; er stellte die Ellbogen sogar etwas burschikos auf den Tisch. »Also, meine Herren,« fing er wieder an, »Sie können sich ja denken, ein so fort und fort wachsendes Unternehmen entsteht nur aus angeborener Begeisterung für die Kunst! Schon als Knabe träumt' ich davon, das Schloß meiner Väter, eine rettungslose Ruine, wieder aufzubauen – wieder aufzubauen – und die hohen Wände mit herrlichen Gemälden zu schmücken! Ähnliche Phantasien kamen immer wieder; das war ja natürlich; – das Merkwürdige ist nur, daß ich bei diesem feurigen Drang doch so weit in die mittleren Jahre kommen konnte, ohne ihn zu befriedigen. Die richtige Erklärung, die ich dafür gefunden habe, ist: ich bin dann soviel herumgereist, in der halben Welt. Da sammelt man nicht fürs Haus! Da sammelt man nicht fürs Haus!«

»Erlauben Sie, Herr Baron«, sagte Erhart, der ihm gegenübersaß. »Was wir Künstler sammeln, das sammeln wir grade auf Reisen –«

»Sehr richtig, sehr richtig!« fiel ihm der Baron ins Wort, dessen rosige Wangen sich etwas röter färbten. »Ich hatte mir aber schon damals zur Aufgabe gemacht, die heimische Kunst zu fördern; das kann man nicht gut im Ausland; ich glaube, das geben Sie zu!« – Er lachte in seiner kühl »herzlichen« Weise auf; Prahm lachte mit. – »Als ich dann aber meine Wanderjahre beendet hatte und nach München heimgekommen war, da sagte ich mir: So! deine Zeit ist da! Die ›Sammlung‹ und das Sammeln beginnt! Hast du dich früher mit Büchern umgeben, so kommen nun die Bilder; die Bibliothek war die erste Liebe – war die erste Liebe – dein festes, legitimes Verhältnis wird die Galerie – wird die Galerie!«

Ifinger, der eben anfing, ein »Giardinetto« zu essen, sah auf, als hätte er falsch gehört. »Aber wem lügt er denn das alles vor?« dachte er, zuerst wie vor den Kopf geschlagen: »sich oder uns? – Ich war ja doch damals dabei, 's war in meinem Zimmer, als er meckerte und lachte und sagte: ›eine eigene Galerie – schrecklicher Gedanke‹!«

»Und so fing denn die Sache auch an«, fuhr Pillnitz fort, mit einem strahlenden Blick den Tisch entlang, auf seine andächtigen Hörer; »und zwar sogleich fing sie an, fast am ersten Tag! Mein Programm war fertig; jedem Talent freie Bahn, ausgeschlossen wird nur die Ohnmacht. Um aber meinen idealen Standpunkt zu betonen, geh' ich einen bestimmten Weg, einen bestimmten Weg: zuerst ziehe ich mehr die sogenannten Ideenbilder heran – dann die rein malerischen. Keine Verschwendung, aber offene Hand, denn der Künstler soll leben; was mir gefällt, muß ich haben, kost' es, was es koste! Kost' es, was es koste!«

»Wieviel wollen Sie dran wenden?« fragte ich ihn damals – dachte Ifinger. »Hundert Mark«, sagte er; »die wären doch wohl genug!« – – Er konnte diesen gefälschten Don Quichotte nicht mehr so strahlen und lächeln sehn, ohne sich zu rühren. Ein Stück vom Apfel und einen Käseschnitt zusammenspießend, murmelte er so hin: »Das erste Bild, Herr Baron, kauften Sie durch mich. Für einhundert Mark.«

»Ganz richtig, ganz richtig! Das erste Bild kaufte ich durch Sie. Für einhundert Mark! Der junge Maler wollte nicht mehr!« – Pillnitz lächelte dem Grafen und den Wiener Malern mit anmutigem Kopfnicken zu: »Es war natürlich nicht sein Schade; er hat dann jahrelang für mich gemalt und durch mich gelebt. Und das war eben auch ein Punkt in meinem Programm: weise Sparsamkeit, damit ich nicht an einen vergeude, was zwei retten kann. Keinen wilden Preis für irgendein einzelnes Bild, aber für denselben Meister und seine Werke eine offene Hand durch das ganze Jahr, durch das ganze Jahr!«

»Auf diese Weise,« sagte Erhart und schaute aus seinem Weinglas auf, in das er die Augen versenkt hatte, – »auf diese Weise kauften Sie viele Bilder und für wenig Geld.«

»Gewiß! gewiß!« erwiderte Pillnitz hastig, aber nicht aus der Fassung gebracht. »Ich fühle mich eben als den Verwalter einer ganzen Klasse – einer ganzen Epoche. Ich sagte mir von vornherein: daß ich die Kunst kenne und verstehe – wie ich wohl von mir behaupten konnte – das ist nicht genug; ich muß eine feste und ruhige Hand haben, denn ich lebe für einen großen Zweck. Ich sammle für die Menschheit! Bin ich erst so weit, dann werd' ich meine Tür weit aufmachen: ›Kommt ihr alle zu mir, die ihr nach dem Schönen lechzt. Ich hab' mir ein kleines Paradies geschaffen, werd' es größer schaffen, für mich und für meine Brüder! und für meine Brüder‹!«

Ifinger horchte auf. »Mir ist,« dachte er, »als hätt' ich ihm einmal so etwas gesagt. Damals, bei mir! – – Ob er das noch weiß? – Es scheint nicht. So großartig und erhaben lächelt er mich an. So ganz überzeugt; das war mein Gedanke! – Ob er überhaupt von nichts mehr weiß, wie es wirklich war? Ob er imstande wäre, sich dem lieben Gott auf das Knie zu setzen und ihm die Geschichte seiner Galerie ebenso zu erzählen, wie er sie uns jetzt erzählt hat? – Ja, so sieht er aus. Die rosige Unschuld; wie die Kinder Gottes. ›Lieber Baron Gott,‹ würd' er etwa sagen, ›die Bilder selber gemalt habe ich wohl nicht, lügen will ich nicht; aber die Geschichte dieser Bildergalerie hat sich so ereignet, darauf geb' ich dir mein freiherrliches Wort‹!«

Unterdessen tranken Prahm und die Wiener – zuletzt aus Höflichkeit auch Waldsee und Erhart – dem edlen Kunstmäcen zu; sie priesen die »Epoche«, in der so ein Mann aufgestanden sei, der die vollkommene Kennerschaft mit der idealsten Gesinnung verbinde. Sie beschworen ihn, seinem Werk nun auch die Krone aufzusetzen und dessen Geschichte niederzuschreiben; dem Publikum ein Bild davon zu geben, das zugleich ein Vorbild sei, das andern Ähnlichgesinnten ein Muster, ein Sporn, und allen kunstliebenden Gebildeten eine Erbauung werden könnte. Der Baron versprach es. Er war in der großmütigsten Laune, in der schönsten Stimmung. Er stieß mit jedem an; er lächelte allen zu. Er war aufgestanden: er stand da wie ein Mann, der seinem angeborenen Beruf gefolgt ist, seine Bestimmung erfüllt hat ...

Jetzt kam endlich auch Brenzel; seine kleine, magere Gestalt im gewöhnlichen schwarzen Rock – er hatte nur mit Künstlern und Schriftstellern in einer Kneipe gesessen – schob sich etwas schwerfällig heran und nahm nach flüchtiger Begrüßung Platz. Das bartlose, fahle Gesicht, im letzten Jahr noch kahler geworden, hatte einen ernsten, fast düsteren Ausdruck; ein herbes und gleichsam verurteilendes Lächeln mischte sich sonderbar in diesen Ernst hinein. Nachdem er dem Baron gedankt hatte, der ihm aus seiner Flasche einschenkte, sah er plötzlich umher und fragte: »Wissen die Herren das Neueste? Der Falk ist verrückt.«

»Wer ist verrückt?« fragte Erhart, auffahrend.

»Der Maler; Leo Falk. Man hat mir's eben erzählt. Aus den zerrütteten Nerven ist es ins Gehirn gegangen. Er spricht lauter verkehrtes Zeug. Es sieht aus wie Gehirnerweichung. Seine eigenen Freunde haben es erzählt!«

»Bitte, hier sitzt auch einer«, ertönte es jetzt aus der Ecke, in der Schwalbe saß. Der Doktor hatte bisher noch kein Wort gesprochen, meist trübsinnig auf den Tisch oder ins Glas geguckt; es war niemand aufgefallen, weil nach alter Gewohnheit niemand auf ihn achtgab. Sein rötliches, gutmütiges Gesicht beugte sich nun vor; »hier sitzt auch einer!« wiederholte er. »Und einer, der es wissen muß, da er ihn behandelt. Die Sache ist wesentlich anders: eine Nervenüberreizung, mit gelegentlicher, flüchtiger Störung im Denkapparat – illucida intervalla könnte man es nennen – weiter ist es nichts. Von Gehirnerweichung keine Spur!«

»Nun, Sie müßten es ja wissen, da Sie ihn behandeln«, entgegnete Brenzel, der sein gewohnheitsmäßiges kritisches Lächeln nicht unterdrücken konnte. »Ich höre aber doch ganz bestimmt –«

»Sie hören es ja noch bestimmter von mir«, unterbrach ihn Schwalbe. »Darum ist auch noch kein Spezialist, kein Irrenarzt zugezogen worden –«

»Die Frau läßt eben keinen zu!« fiel Brenzel ihm ins Wort. »Sie behandelte ihn am liebsten allein! – Da geschehen kuriose Dinge, meine Herren, kann ich Ihnen sagen ... Der Herr Doktor Schwalbe sieht es rosig und gottvertrauend an, wie es seine Art ist, wir kennen ihn ja von München her; andre sehn es anders an. Die geben für den Herrn Falk keinen Sechser mehr. ›Aus ist's,‹ sagen sie. ›In einem Jahr, einem Monat ist's aus; so oder so‹!«

Dem Hermann Ifinger ging ein Stich durch die Brust; aber anders als sonst, wenn er von Leo hörte. »Unsinn!« murmelte Schwalbe, gereizt. Brenzel nahm aber mit seiner scharfen, gleichsam knochigen Stimme sogleich wieder das Wort: »Meine Herren, seien wir übrigens objektiv; seien wir gerecht! So eine Zerrüttung wie diese kommt ja nicht aus der Luft geflogen; alles auf der Welt hat doch seinen Grund. Man spricht jetzt so gern von Mechanischem im Gehirn, als wär's eine Maschine: aber populär gesprochen darf man doch wohl noch sagen: wie's einer treibt, so geht's! Aus dem Seelenleben kommt es! Wie es dem Leo Falk ergeht, so wird es wohl nach und nach mehreren ergehn; den geistigen Vagabunden, mein' ich, den Schönheitsduselern, den Feuerbachs und Makarts, die in der Phantasie, im Märchen, im Farbenrausch leben, statt in der Wahrheit und in der Wirklichkeit!«

Franz Erhart, der halb mit dem Rücken gegen Brenzel gesessen hatte – weil er ihn so ungern sah –, drehte sich jetzt herum und blitzte ihn mit den scharfen Feueraugen an. »Wie meinen Sie das?« fragte er.

»Nun, so wie es ist! Dusel und Fusel – beides ist ungesund. Wer sich eine Welt zusammenschwindelt, die es nicht gibt, der hat zuletzt auch keine andre mehr im Hirn. Den wirft das Leben dann um. Jeder solche Fall – und es gab schon mehr davon – predigt für jeden, der Ohren hat zu hören: hinaus aus der Kunst mit all diesem veralteten Zeug, mit den Farbenkonzerten, mit der Romantik in Öl, mit dem Schönheitsschwindel – hinein in die Natur, grad' so wie sie ist!«

»Sehr wahr!« rief Prahms' tiefer, dicker Baß. – »Hört, hört!«

Erhart lächelte noch; es war aber ein erregtes, beinahe grimmiges Lächeln. »Mich dünkt, Herr Brenzel,« sagte er langsam, »ich hätt' Sie früher anders sprechen hören. Zum Beispiel im Englischen Kaffeehaus in München, wo Sie mit ebensolchen Kraftworten die Wahrheitssimpelei verdammten und Ihren deutschen Brüdern predigten: ›Schönheit, Schönheit, Schönheit‹!«

»Ja, ich habe einmal, ich habe«, erwiderte Brenzel kaltblütig. »Jetzt sind andre Zeiten!«

Auch der wieder in sich versunkene Schwalbe richtete sich auf: »Erinnern Sie sich gefälligst, Herr Brenzel, was Sie vor fünf, sechs Jahren über diesen selben Leo Falk in die ›Allgemeine Zeitung‹ schrieben – wie Sie seinen ›Frühling‹ priesen – über den roten Klee. Mit solcher Beredsamkeit und mit solchem Feuer, daß mich die Maler vor Freude prellten –«

»Vor fünf, sechs Jahren! nun ja!« rief Brenzel dazwischen, nachdem er sich gefaßt hatte. »Fünf, sechs Jahre sind heutzutage eine Ewigkeit! Damals durfte er den ›Frühling‹ malen, damals war es was; jetzt mußte er ein andrer Kerl sein – er mußte den großen Sprung in die Tiefe getan haben, in den Abgrund des Lebens, in das Ursein, in die harte, nackte, nüchterne Wirklichkeit. Er duselt aber noch immer seinen ›Frühling‹ weiter; er und seinesgleichen. Er ist ein Pfuscher!«

Prahm hob seinen kurzen, dicken Arm und rief wieder: »Hört, hört!«

»Was wollen Sie mit Ihrem ›Hört, hört‹?« sagte Ifinger plötzlich, der bis dahin geschwiegen hatte, von allerlei menschlichen Gefühlen hin und her gedrückt. Er sah Prahm und Brenzel an, diese Halbgeschöpfe; er sah im Geist den dritten dazu, den Kircher, – ihren Einbläser, weil er sonst nichts konnte. Wie sie alle drei damals im flackernden Laternenlicht, in der Münchener Luisenstraße, an ihm vorbeigestapft waren in den pfeifenden Wind hinein, so glaubte er sie jetzt wieder zu sehn, die drei »Wahrheitspriester« ...

»Ich fühle mich nicht dazu angestellt,« fuhr er mit anfangs schwerer Zunge fort, »Leo Falks sämtliche Werke zu verteidigen; das ist auch nicht nötig. Wenn aber diese Herren diesen Leo Falk einen Pfuscher nennen, weil er lieber eine schöne Nymphe malt, die allerdings nie gelebt hat, als einen garstigen Misthaufen, der allerdings ›nackte, nüchterne Wirklichkeit‹ und ein ›Abgrund des Lebens‹ ist, so fällt mir doch Michelangelo ein – bitte, lachen Sie später –, wie den die drei Verschworenen verklagten, als er der Baumeister der Peterskirche war; Sie wissen ja wohl, wer ihn verklagte! Drei von den Leuten, die er beim Bau mitarbeiten ließ: ein Maurer, ein Zimmermeister, ein Steinmetz; die hatten sich eingebildet, auch Baumeister zu sein, und verklagten den großen Michelangelo vor dem Papst, er mache beim Bau dummes Zeug, er verstehe die Sache nicht, kurz, er sei ein Pfuscher! – Der Papst läßt ihn kommen, fragt ihn vor diesen drei Kerlen, was er darauf zu erwidern habe; da sah sich der Alte die Kerle von oben bis unten an und sagte: ›Heiliger Vater! für diese Leute hab' ich nur die Antwort, sie sollen an ihre Arbeit gehn; der eine ans Mauern, der andere ans Zimmern und der dritte ans Steinhauen. Was ich als Baumeister im Sinn habe, davon werden die drei nie etwas erfahren. Im übrigen bitt' ich Eure Heiligkeit, mit ihnen Mitleid zu haben, da der Neid für gewöhnliche Menschen eine zu große Versuchung ist!‹«

Brenzel trommelte mit seinen harten Fingern auf den Tisch, aber scheinbar ruhig. »Gewiß eine wunderhübsche Geschichte«, sagte er dann, noch mehr als sonst durch die Nase sprechend; »ich weiß nur noch nicht, was Sie damit meinen?«

»Darüber kann ich Sie aufklären«, erwiderte Ifinger. »Was der alte Michelangelo von den drei Verschworenen sagte, das kann jedes gottbegnadete Talent von – – nun, von den Handwerkern sagen: sie sollen an ihre Arbeit gehn, mich verstehn sie doch nicht! Wenn ich's nicht so mache, wie es ihnen recht wäre, das beweist noch nichts; und wenn ich scheinbar ins Pfuschen komme, wenn ich etwas anfange, das nicht glücken will, wenn ich etwas versuche, das ich wieder lasse, wenn ich einen andern Gang gehe als die Mamsell Mode, so heißt das alles auf deutsch nur: ich entwickle mich, denn nur der Teufel ist fertig. Die Berufenen, die am Wege stehn, die sollen mir ihre Meinung sagen, wie ich etwa gehn könnte; aber die Pflasterer und die Steinklopfer und die Bettelleut' sollen's ruhig abwarten, sie wissen nicht, wohin ich will, sie kennen meinen Weg nicht!«

Brenzel lächelte. »Sie werden hoffentlich nicht verlangen, daß ich diese etwas dunkle Allegorie verstehe –«

Ifinger verlangte es auch nicht, er hielt sie nicht mehr auf; seine Zunge war gelöst, sein Geist hatte Flügel, er war nicht zu hemmen. »›Hinein in die Natur‹,« rief er aus, »›grad' so, wie sie ist!‹ Das schreit ihr der Kunst zu; ebensogut könnt ihr der Natur sagen: ›Madame, Sie sind auf einem falschen Wege, werden Sie gefälligst zur Kunst!‹ Zwei sind immer zwei, und zwei Verschiedene werden nie dasselbe! – ›Wahrheit und Wirklichkeit‹ ... Eine gemalte Nymphe, die nicht stehn und gehn und sitzen kann, die ist nicht die Leinwand wert, auf die sie gemalt ist, das ist selbstverständlich; eine Nymphe mit unmöglichen Beinen, wer nennt die denn schön? Aber eine Nymphe darum verdammen, weil nicht jeder Zoll Fleisch an ihr nach derselben Kathi oder Mizi gemalt ist – oder weil sie ohne Kleider am späten Abend halb im Wasser sitzt und sich unfehlbar erkältet – das sind Maurer- und Zimmergedanken, darüber lacht die Kunst! – ›Wahrheit und Wirklichkeit‹ ... Alles, was die Großen, die Könner machen, das ist wahr und wirklich; aber riechen kann man's nicht, stinken tut es nicht; es bemüht sich nicht, uns anzuekeln, es will doch immer noch eine gute, schöne Sache sein – ein Stück Paradies!«

»Mein sehr geehrter Herr Doktor,« versuchte Brenzel einzuwerfen, »Sie werden –«

Ifinger fuhr aber unaufhaltsam fort: »Ich werde paradox, wollen Sie sagen (Brenzel wollte etwas andres sagen, es war nun zu spät); damit kommen die Herren so gern, wenn man vor ihren Augen zwei Dinge zusammenbindet, die ihr theoretischer Verstand auseinanderreißt; so hier das Wahre und Schöne! Die Kunst tut aber den ganzen Tag und das ganze Jahr gar nichts andres, als daß sie Wahrheit an Schönheit bindet, und Schönheit an Wahrheit; als daß sie das Wirkliche verklärt und das Verklärte verwirklicht! – Ist Ihnen das zu erfreulich, paßt Ihnen das nicht in das schofle Leben, ziehen Sie das ewig Unangenehme vor – so wollen wir nicht streiten. Ebensogut bestreit' ich dem Eskimo seinen Lebertran; über diesen Nordpol-Markobrunner einigen wir uns doch nicht, der Eskimo und ich!«

»Ah, Sie werden –«

»Witzig!« fiel Ifinger augenblicklich ein (diesmal hatte er es getroffen); »ich bitte um Entschuldigung, beabsichtigt war es nicht. Gestatten Sie mir nur noch folgende Bemerkung: vor jedem kunstverständigen Wahrheitsprediger, der die hohle Phrase hinausjagen, der den echten, goldenen Sonnenstrahl der Kunst in die Tiefe führen will, und noch immer tiefer, vor dem zieh' ich meinen Hut. Die Schönheit soll rasend verliebt in die Wahrheit sein; sie soll sich nicht scheuen, aufs gründlichste und herzhafteste mit ihr anzubinden; und je zärtlicher sie ihr zu Leibe geht – bravo! desto besser! – Was aber die guten Leute betrifft, die nur immer nach Natur schreien, weil sie nichts von der Kunst verstehn – – ich war einmal in Oberwesel am Rhein, in einer Sommernacht. Ich saß vor dem Wirtshaus, bei der Flasche Wein; unten im buschigen Vorland sangen die Nachtigallen; es war eine himmlische Musik in der warmen Schwüle. Aber es war auch ein Sumpf in dem Vorland, für die Herren Frösche; die begannen nun ihre Meinung gleichfalls auszusprechen. Ihre Meinung gefiel mir nicht ... ›Aber zum Teufel,‹ dacht' ich, ›hört ihr denn nicht, daß die andern singen? Habt ihr keine Andacht? Könnt ihr diesen göttlichen Musikanten nicht zuhören, wie ich?‹ – Aber der ganze Sumpf fing nun an zu quaken; sie überquakten einander, sie wollten offenbar Herr werden über das Geflöte und das Gedudel. Es war, als quakten sie in die Nacht hinein: ›wir machen die wahre, reelle, tüchtige, natürliche Musik, das da ist dummes Zeug, das ist leeres, süßliches, windiges Geplapper!‹ – – Ich hab' damals wohl eine Stunde lang dem Wettgesang zugehört; wer endlich siegte, das weiß ich nicht, denn ich ging zu Bett. Sehn Sie, dieser ganze Kampf, von dem wir heut' reden – der Kampf der ›Naturwahren‹ gegen die ›Schönheitswahren‹ –, der ist wie das Quaken der Frösche gegen das Flöten der Nachtigallen. Wer in diesem Kampf siegen wird, – meine Herren, ich weiß es nicht; vielleicht werd' ich auch da so früh zu Bett gehn, daß ich's nicht erlebe. Aber ich hoffe zu Gott, meine Landsleute sind so hell, daß die Frösche nicht siegen!« –

Ifinger war zu Ende. Er sah an Brenzel vorbei in die Luft. Er nahm seine Brille ab, um an ihr zu putzen.

»Bravo!« sagte Erhart halblaut. Schwalbe nickte aus seiner Ecke herüber.

Auf Ifingers linke Schulter legte sich eine Hand; er wandte sich herum. Jetzt sah er in das Gesicht des Grafen, der aufgestanden und herangetreten war und sich niederbeugte; und sah wieder dieses alte, scheinbar spöttische Lächeln. »War ihm das nicht recht?« dachte er. »Hab' ich ihm zu ›schneidig‹ gesprochen? Lächelt er vornehm über meinen Eifer?«

Diesmal irrte er aber ganz. Waldsee drückte auf Hermanns Schulter, daß sie fast hinunterging; zugleich sagte er leise, wie verschämt: »Ich mußt' Ihnen nur sagen, wie Sie mir gefallen. – – Ifinger!« flüsterte er dann, an dessen Ohr geneigt: »ich würd' Ihnen lieber du sagen; weil Sie mir so sehr – – Wär' es Ihnen recht?«

»Ungeheuer recht,« antwortete Ifinger in dem trockenen Ton, in den seine »gottverbotene Keuschheit«, wie Erhart sie getauft hatte, nach jeder schönen Erregung verfiel. Er raffte sich aber doch so weit auf, nach seinem Glas greifen und an das halbgefüllte anzuklingen, das Waldsee in der linken Hand hielt. Das Gesicht des Grafen sah wieder aus »wie seine Briefe«. Hermann stieg nun auf einmal die Freude und das Herz ins Gesicht. »Also du!« sagte er leise.

Unterdessen war Brenzel schweigend aufgestanden; er hatte einen Blick mit Prahm getauscht, der ihm kopfschüttelnd abwinkte; »zahlen!« rief er jetzt. Er suchte es mit der vornehmsten Ruhe in den Saal zu rufen; sein staubblasses Gesicht war aber übertrieben bleich. Der Zahlkellner schritt langsam und majestätisch heran. Auch der Baron stand auf; er lächelte zu Brenzel hinüber: »Ja, mein Lieber, mit dem Doktor Ifinger werden Sie nicht fertig. Das hab' ich an mir selber erlebt. Wenn in dem die Schleuse aufgezogen ist, muß der Fluß herunter!«

Brenzel zuckte die Achseln; er murmelte etwas von »Phrasen« und »klarem Wasser« und empfahl sich dem Baron, denn er müsse nun gehn. »Ich gehe auch,« sagte Pillnitz, »ich ziehe mich ins Bett zurück ...« Er hatte einen unklaren, angesäuerten Ausdruck im Gesicht; gegen Ifingers ästhetische Gesinnung konnte er nicht streiten, sie war ja (bis jetzt) die seine; ihn verstimmte aber offenbar, daß der Abend, der so schön als Verherrlichung seiner Sache und seiner Person begonnen hatte, mit einem so ganz andern Effekt zu Ende ging. Er nahm kurzen Abschied. Allerdings versäumte er nicht, höflich und verbindlich wie immer, dem »gefährlichen Redner« Doktor Ifinger einige schöne Worte über seine »Froschrede« zu sagen, als Brenzel gegangen war; aber ein gefrorenes Lächeln war die Musik dazu. Es war übrigens, als hätte er das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch gegeben; die Herren nahmen ihre Röcke und Hüte, niemand blieb zurück.

Auf der Straße empfing sie weiße Luft, dichter, flatternder Schneefall. Erhart rief einen Wagen an, ihn und Hermann nach Klosterneuburg zu fahren. Geschwind stieg er ein. Hermanns Augen suchten noch seinen neuen »Bruder«; schon halb von den Schneeflocken geblendet, erkannte er ihn beim Laternenlicht, stürzte auf ihn zu und schloß ihn rasch und kurz, aber kräftig in die Arme. Dann lief er, ohne etwas zu sagen, davon und sprang in den Wagen.

Die Räder rasselten auf dem weichen Neuschnee nicht so lärmend wie sonst. Erhart, in seine Ecke gelehnt, müde, wie es schien, streckte doch noch die Hand aus, um die des andern zu drücken. »Das hast du gut gemacht, Alter«, sagte er mit seiner herzlichen Stimme. »Dein perpetuum mobile da oben kann einen höllisch wild machen, wenn man auch reden will und nicht dazu kommt; aber diesmal war's gut! Diese Brenzel und Prahm und Kircher und Konsorten – das sind elende Kerle, denen die Kunst, das Schöne kein Erlöser ist – darum sehn sie auch in der Welt nichts als Schächer, wollen weiter nichts ... Möcht' übrigens ein bissel schlafen; schlief schon einige Nächte nicht. Bis Klosterneuburg gute Nacht!«

»Gute Nacht!« sagte Hermann lächelnd. Ihm war es recht, daß er nicht reden sollte, daß es so still um ihn ward; die Gedanken, die vorhin sein Gehirn wie eine Feueresse ausgeworfen hatte, flogen noch um ihn her, er war warm, erregt, wünschte weiterzudenken. Ja die Erregung fing an, wie schon manchesmal, eine Form zu suchen; ein Netz, um das Durcheinanderfahrende zu fangen und zu halten. Wie draußen die Schneeflocken, flatterten im Wagen bald die Verse herum; sie hängten sich an Erharts letzte Worte von »Schächern« und »Erlöser«, sie machten ein Bild, ein Gedicht daraus. In seinen Mantel gehüllt, in seinen Winkel gedrückt – Erhart schien zu schlafen – horchte Hermann so sacht und weltverloren auf das innere Erklingen, nahm jeden Vers gleichsam in die Hand, bis er ihn gewärmt, geformt; staunte und wunderte sich selbst, wie sie aus der inneren Nacht hervorkamen, sich ihm in die Hand setzend, bis sie flügge wurden. Als der Wagen am Klosterneuburg-Weidlinger Bahnhof vorbei und auf die Häuser an der Berglehne zufuhr, waren alle fertig und flogen in seinem Gedächtnis auf, wie die jungen Schwalben:

Zwischen Berg und Tal schritten
Kircher, Brenzel und auch Prahm,
Als von eines Hügels Mitten
Sie ein Bild gefangennahm
Hoch am Kreuz die beiden Schächer
Und der Heiland, schmerzverklärt,
Der des Erdenleidens Becher
Aus erhabner Liebe leert.

Und das Holzbild zu beschauen,
Da man just des Weges kam,
Blieben stehn im Abendgrauen
Kircher, Brenzel und auch Prahm.
Prahm begann: Der Schuft zur Rechten,
Der behagt mir; fett und fahl,
Recht ein Bild des gründlich Schlechten,
Fuchsig, widrig – kurz, real!

Mir gefällt der linke mächtig –
Kircher sprach's –: ein Schafsgesicht,
So erbärmlich niederträchtig,
Sah ich noch mein Lebtag' nicht.
Todesangst, die urgemeine,
Macht ihn plötzlich fromm und zahm ...
O wie wahr! sprach die Gemeine,
Kircher, Brenzel und auch Prahm.

Nur der Heil'ge in der Mitte –
Brenzel sprach's, verzog den Mund –
Dieser schön verklärte Dritte
Stört mich; traumhaft, nicht gesund,
Schönheit, Hoheit, Himmelsstrahlen –
Wer das Zeug nur ausgeheckt!
Weg den Edlen, Idealen,
Und die Gruppe ist perfekt!

Und sie nickten, ernst und heiter,
Weil das Wort, das rechte, kam,
Gingen ihres Weges weiter,
Kircher, Brenzel und auch Prahm.
Sangen wie vergnügte Zecher:
Hoch die Wahrheit, nackt und bloß!
Wahr und wirklich sind die Schächer,
Den Erlöser sind wir los!


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