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III

Als Ifinger am andern Morgen erwachte – er schlief in Erharts Wohnzimmer, neben dem Atelier –, war's noch früher Tag; aber eine Stimme nebenan hatte ihn geweckt. Irgend jemand hatte etwas gerufen, das er nicht verstand; jetzt hörte er in seiner Schlaftrunkenheit deutlich: »Es hilft nichts, ich muß sie retten!« – Es war Erharts Stimme. Dann hörte er ein Geräusch, als spränge jemand aus dem Bett, das dabei erkrachte. Danach ward es wieder still. – Was heißt das: ich muß sie retten! dachte Ifinger. Wen muß er denn retten? – Er horchte und suchte eine Weile darüber nachzudenken; endlich fielen ihm die Augen zu, die Gedanken schwanden, und er schlief wieder ein.

Erst drei Stunden später erwachte er von neuem; neugierige Sonnenstrahlen zupften an seiner Bettdecke, einer kletterte bereits in dem kurzen Haarwuchs seines Kopfes herum wie ein Goldkäfer im Gras. Sie schlichen durch ein paar runde Löcher der hölzernen Fensterläden herein, die er am Abend angelehnt, nicht geschlossen hatte. Im Atelier pfiffen und flöteten allerlei Vögel, Lerchen, Goldamseln, Finken, einer nach dem andern. Eine Weile horchte Ifinger entzückt und nur so obenhin verwundert, bis er, völlig erwacht, begriff: es war Erhart allein, der sie alle spielte. Die Täuschung war vollkommen: die Augen wieder schließend, glaubte er sich, anstatt im Bett, am Waldrand im Wiesengras ausgestreckt, er konnte sich sogar einbilden, die Goldamselstimme komme hinter ihm aus dem Wald, die Lerchenstimme darauf von oben aus dem blauen Himmel. Endlich schämte er sich doch, so spät noch im Bett zu liegen. Er sprang auf, wusch und pflegte sich, kleidete sich an und ging in das Atelier.

Erhart war mittlerweile verstummt; als Ifinger hereinkam, stand der Maler – denn er saß fast nie – vor der Staffelei, qualmte heftig an einer »Virginia« und malte. »Guten Morgen!« rief er dem Doktor zu; dann pinselte er weiter. Nur mit dem Kopf deutete er auf einen Tisch, der mitten im Zimmer stand und auf den die Aufwärterin vor wenigen Minuten Ifingers Frühstück gestellt hatte.

»Späten guten Morgen!« antwortete Ifinger. »Ja, ich werde frühstücken. Nur eine Frage, Meister: Wen haben Sie heut' in aller Frühe gerettet?«

»Ich verstehe nicht –«

»Warum riefen Sie plötzlich – ich hab's durch die Tür gehört –: ›Es hilft nichts, ich muß sie retten!‹?«

»Ah so!« sagte Erhart und lächelte flüchtig. »Das war drüben in meinem Schlafzimmer; ich lag noch im Bett. Ich war aufgewacht, Gott mag wissen warum; mir gegenüber, am Nagel, da hing eine Hose ... Die Wand in meinem Schlafzimmer hat nämlich einen ganz infamen Anstrich, ein unmögliches, verbläulichtes Violett; die verblaßte Hose leidet an einem Modegrün, das es gar nicht gibt. Wie sie nun auf diesem Untergrund hing – es war die reine Vernichtung, Doktor. Es sah aus, als hätte sie sich aus Verzweiflung selber aufgehängt ... Mein Malerauge litt höllische Qualen; mir war, als hört' ich die Farben quieken. Aber ich war faul; ich wollte nicht aufstehn, wollte wieder einschlafen. Endlich siegte aber das Gute in mir –«

»Und da riefen Sie das –«

»Ja, da rief ich das, und sprang aus dem Bett, und rettete die Hose. Sie liegt in der Truhe!«

Ifinger lachte; er saß beim Frühstück. »Aber was machen Sie jetzt?« fragte er, den Kopf vorbeugend. »Was schaffen Sie so eifrig?«

»Ich male und ich fluche!« erwiderte Erhart mit grimmigem Gesicht. »Als ich einmal aufgestanden war, da nahm ich die Hose als einen Wink von oben, kroch nicht wieder ins Bett, machte mich fertig und ging an die Arbeit. Die schwarze Dame am Meer – statt der ›gesprungenen‹. Ich lasse mich nicht lumpen! Seit drei Stunden streich' ich wie verrückt! Aber alle zehn Minuten geht die Zigarre aus; vor Wut. Jetzt versteh' ich den alten Lateiner: › facit indignatio versum‹; bei mir heißt's: ›Die Wut führt den Pinsel!‹«

Ifinger trat vor die Staffelei und staunte: eine gestern noch jungfräuliche Leinwand hatte sich zur Hälfte mit Farben und werdendem Leben bedeckt, das Fehlende war mit kühnen Strichen geistreich angedeutet. Die schöne antike Villa wuchs schon sehnsuchterweckend in das melancholische Meer hinaus. »Nun, wenn das die ›Wut‹ macht,« sagte Ifinger, aus Hochachtung an der Brille rückend, – »dann kann man ja nichts Besseres tun, als Sie wild zu machen. Aber wie Sie Ihre arme Virginia zerstoßen haben; sie hat ja keine menschliche Form mehr. Ob es sehr gesund ist, so ein scharfes Kraut dreißigmal wieder anzuzünden, das ist auch noch die Frage –«

»Die ist hin!« rief Erhart und schleuderte den Rest der Zigarre in die fernste Ecke.

»Ja, Gott sei Dank, die ist hin. Aber mich deucht, Sie auch. Sie haben einen so roten Kopf wie Prahm – nehmen Sie's nicht übel – und ihre Augen stehen ungefähr drei Zentimeter aus dem Kopf heraus. Ich glaube, oben aus Ihrem Schädel seh' ich eine kleine Dampfwolke aufsteigen –«

»Ich bin nur noch ein Nerv, Doktor!« rief der Maler aus; mit der ganzen gesunden Kraft seiner Stimme, aber ein leises Zittern oder Ausgleiten war darin vernehmbar. »Das Paffen und der Ingrimm ... Ich hab's angepackt, als müßt' ich an einem Vormittag fertig werden ... Aber sehn Sie, nun mag ich nicht mehr – nun ekelt es mich an!«

»Das ist die reine Vernunft, die Stimme der Natur; man teilt Ihnen durch diesen Ekel mit, daß Sie aufhören sollen. Seien Sie nicht der Dümmere, geben Sie nach! – Sie haben für heute genug gewütet: gehen wir spazieren. Oder Sie allein, wenn Sie lieber wollen –«

»Nein, nein, nein, dann mit Ihnen!« unterbrach ihn Erhart, fast zornig. »Ich werde doch nicht ohne Sie – – Also gut. Gut. In die Sonne!«

»Sie sprachen von den Barmsteinen –«

»Fahren wir nach Hallein und steigen wir auf die Barmsteine! Kommen Sie, kommen Sie!«

»Sie könnten mich noch zu Ende frühstücken lassen, Meister; denn das soll gesund sein. Unterdessen bringen Sie ihr Handwerkzeug in Ordnung. In fünf Minuten stehe ich zur Verfügung!«

» Va bene! – –«

Nach kaum fünf Minuten brachen sie auf; ein schon etwas heißer, aber reiner Morgen empfing sie, auf den Bergen lag noch die weiche Klarheit, die an solchen Tagen um Mittag dunstig und nüchtern wird. Sie stiegen zur Bahn hinab; ein Zug, der schon abgehen wollte, nahm sie eben noch mit. Talaufwärts, gegen das Gebirg zu, fuhren sie bis Hallein, das nicht unmalerisch an der rauschenden Salzach liegt; über dem Städtchen steigen sogleich die waldigen Vorberge auf, aus denen die geheimen Kräfte der Felsbildung und Verwitterung die Barmsteinwände herausgemeißelt haben. Schon der Ort steigt an. Die beiden verließen den Zug und wanderten durch die Hauptstraße aufwärts, der Berggasse zu. Hier und da unterhielt sie eine der frommen Malereien, die die Häuser schmückten, oder ein schönes schmiedeeisernes Hauszeichen, das in den blauen Himmel hineinglänzte und für alten Wohlstand und Kunstsinn sprach. Als sie an der Pfarrkirche vorbeikamen, gingen sie ein paar Schritte seitwärts, um von dem Friedhof aus, der sie noch umgab, den stattlichen Bau mit dem hohen Turm besser anzuschauen. Erhart nahm Ifingers Arm und zog ihn an der Kirche entlang; einige alte Grabdenkmäler fielen ihm ins Auge.

»Steht da auf der Altane, über der Stiege, nicht die kleine Frau Veit?« fragte Ifinger plötzlich.

»Daß die Frau klein ist, das kann ich bestätigen«, gab Erhart zur Antwort; »warum Sie sie Veit nennen, davon weiß ich nichts.«

An einem der Häuser, die den Kirchenplatz umgaben, zog sich im ersten Stock eine schlichte, naturfarbene Holzaltane hin, zu der man von unten auf einer alten, ausgetretenen Treppe hinaufstieg. Wo diese Holztreppe endete, stand auf der Altane ein Tisch, und daneben, am Geländer, ein Kästchen, in dem einige Gewächse blühten. Eine auffallend kleine Frau mit großem, ausdrucksvollem Kopf, den hinten ein Netz umspannte, begoß eben die Blumen aus einer grünlackierten Kanne. Hinter ihr, in der Tür, die in die Wohnung des ersten Stocks führte, erschien ein zweites, ebenso kleines Weibchen, dessen weiße Haare in der Sonne glänzten. Die andere war völlig grau.

»Ja, das ist die Veit«, sagte Ifinger mit halber Stimme. »Jetzt erinnr' ich mich: in Hallein wohnt sie, am Friedhof, ›neben dem Herrn Dechanten‹. Die würd' Ihnen Spaß machen, Erhart; spricht fast noch rascher als ich. Überhaupt ein sogenanntes Original; und die Tante von – – Da fällt mir ein, nach der könnten wir sie fragen. Wollen wir auf ein paar Minuten hinauf?«

Eh' der Maler antworten konnte, erhob jetzt die Alte oben ihre halb männliche Kraftstimme, und die kleine Gestalt geriet in dramatische Bewegung. Die Arme wie Flügel ausbreitend, rief sie: »Mein! Maria und Joseph! Der Herr Doktor von München! Wie kommen Euer Gnaden hierher – geben uns die Ehre!«

Sie lief die Treppe hinunter und Ifingern fast in die Arme, so war sie im Schuß. In ihrer Freude nahm sie seine beiden Hände; ließ dann aber die eine los, als schicke sich das nicht, und hielt nur die rechte noch eine Weile fest. Hierauf folgten ihre tiefen, unendlich achtungsvollen, beredten Verbeugungen, die Ifinger schon kannte und die Erhart herzlich ergötzten. »Das ist gewiß eine Ehre«, sagte sie dann wichtig. »Hab' es nicht erwartet ... O mein: wie wird's die Christel bedauern, wenn sie das erfährt; ist nämlich nicht hier, die Christel!« setzte die gute Alte mit ausdrucksvollem Mitgefühl hinzu. »Wie oft haben wir zwei von Euer Gnaden gesprochen, die Christel und ich; denn meine Schwester – da oben steht sie – die hat ja noch nicht das Glück, Euer Gnaden zu kennen ... Würd' ihr natürlich auch eine große Freude sein; – so was braucht man nicht zu sagen, das versteht sich von selbst. Eine brave Frau, die Stuber – die Schwester – möcht's ihr gönnen – aber natürlich, unverschämt darf man doch nicht sein. Die Herren wollen wohl weiter – nach Berchtesgaden – oder ins Bergwerk – und die Sonn' brennt schon tüchtig!«

Sie stand wie ein Bild der Entsagung da, der Kopf mit dem breiten Kinn sank ihr etwas gegen die linke Schulter, und sie selber nach vorn; zugleich fragte ihr graues Auge mit einem treuherzigen Blick, ob wohl doch noch für die Stuber eine Hoffnung sei. Dann flog dieser Blick über Erhart hin, wie um in aller Eile zu sagen: »Hab' noch nicht die Ehre, den Herrn zu kennen ... Aber nicht fragen, nicht inkommodieren; alles was sich schickt!«

Erhart erfaßte jede ihrer Bewegungen, als wolle er sie malen; in staunender Heiterkeit lächelte er ihr zu. »Wir wollen nach den Barmsteinen«, sagte er gemütlich; »aber es eilt uns nicht. Ich bin des Doktors Freund, aber nur ein Maler; Franz Erhart, aus Salzburg.«

»Ah!« sagte die Alte, sehr beglückt, daß der schöne Mann sich ihr vorstellte. Sie machte ihre feinste Verbeugung und erwiderte: »Anna Veit, zu dienen! – – Nur eine Näherin!« setzte sie mit schwachem Lächeln hinzu, um hinter seiner Bescheidenheit nicht zurückzubleiben. »Die Stuber hat's weiter gebracht, o ja, die war Wirtschafterin und Haushälterin bei Steuerräten und Regierungsräten – und die Bibel weiß sie fast auswendig – und Witschels Morgenandachten – und die Hauspostille. Ich bin nicht so gescheit; aber ich neid's ihr nicht, ich bin auch zufrieden. Herr von Erhart wissen schon, wir können ja nicht gleich sein. Mit meinen dreißig Kreuzern täglich, und immer frisch und gesund – da bin ich noch sehr bevorzugt, Herr von Erhart, vor so vielen andern, und hab' dem Herrgott zu danken!«

Der Maler sah Ifinger von der Seite an; »Sie haben recht,« sagte der stumme Blick, »die Frau hat einen Gießbach in der Kehle wie Sie! – – Dreißig Kreuzer täglich!« rief er dann verwundert, fast erschrocken aus. »Dafür nähen Sie den ganzen Tag?«

»Dreißig Kreuzer und die Kost«, erwiderte die Alte wichtig. »Nur das Frühstück richt' ich mir selbst, zu Hause.«

»Und davon können Sie leben?«

»O mein! Ich leg' mir ja noch was zurück; einen Sparpfennig, Herr von Erhart, denn man muß doch immer darauf gefaßt sein, daß man einmal krank wird; mit Doktor und Apotheker. – Stuber!« rief sie dann, sich zur Altane zurückwendend, wo die kleine Weißhaarige noch immer an der Stiege stand. »Die Herren haben noch keine Eile, sagt der Herr von Erhart; der andre ist der Herr Doktor aus München. Komm herunter, Stuber!«

»Was denken Sie? Wir gehn hinauf!« fiel ihr Erhart ins Wort. Er sprang die knarrenden Stufen empor und verneigte sich sehr artig vor der kleinen Frau, die es mit sehr ernsthaftem Lächeln zurückgab; die beiden andern folgten. Frau Stuber war hagerer und ältlicher als ihre lustige Schwester, ihr Gesicht war von tiefen Furchen durchschnitten, ihr ganzes Wesen gehaltener, bewußter, vom Wert der Gesittung und der feinen Formen erfüllt. Sie trug eine Haube und war schwarz gekleidet. Auf die Höflichkeit der beiden Männer, die sich ihr selber vorstellten, antwortete sie mit wenigen, aber wohlgesetzten Worten; dann warf sie einen Blick auf die Schwester, der alles abzubitten schien, was diese etwa in ihrer jugendlichen Unbesonnenheit und Formlosigkeit gefehlt haben sollte. »Belieben Sie in unsre Wohnung zu treten«, sagte sie darauf mit einem gebildeten, aber doch guten Lächeln; »drinnen ist es kühler. Veit, du stehst im Wege. Die ist die Jüngere«, setzte sie wie zur Erklärung hinzu; »sie ist siebenundsechzig – ich schon einundsiebzig. Ja, ja, ja, das Alter – zwei-, dreimal klopft's an – man ist mäuserlstill und ruft nicht herein – zuletzt klopft's nicht mehr und macht gleich die Tür auf. – Spazieren Sie gefälligst hinein!«

Sie traten in ein kleineres Zimmer, das der Veit gehörte, dann in ein größeres, lang und breit wie ein Saal, aber gleich dem andern überraschend niedrig; als hätte der Baumeister die Verhältnisse ausdrücklich für die beiden kleinen Witfrauen berechnet. In diesem gleichsam flachgedrückten Saal war unendlicher Hausrat aufs sauberste an allen Wänden und in allen Winkeln verteilt; Geschirr, Blumen, Gewächse, Bildchen, vergilbte Erinnerungen, blinkende Kleinigkeiten; es duftete nach Moschus, Immortellen, verwelkten Blättern, moderndem Papier, aber auch nach Levkojen und Rosen. Auf einem runden Tisch lag das Prachtstück, eine mächtige alte Bibel mit unzähligen Holzschnitten. Es währte auch nicht lange, so stand Frau Stuber an diesem Tisch, eine ihrer faltigen Hände wie zufällig in die Nähe der Bibel gelegt und mit einem liebkosenden Lächeln auf das Buch hinabschauend.

»Das ist ja ein Museum«, sagte Ifinger, nachdem er eine Weile in dem angenehm dämmerigen Raum um sich gesehen hatte. »Hier müßte man einmal langsam zu Pferde an den Wänden hinreiten, um die ganze Gegend kennenzulernen ... Nun aber sagen Sie mir endlich, Frau Veit: was ist aus Ihrer Nichte geworden, aus der frommen Lina?«

»Die ›fromme Lina‹!« wiederholte die Alte und lachte. Plötzlich ward sie dann ernst; »da ist wohl nicht viel Gutes zu sagen«, fuhr sie mit einem trauernden Augenaufschlag fort; »macht uns keine Ehre. Von München ist sie lange fort –«

»Das weiß ich –«

»Ist nach Wien gekommen; auch ans Ballett, wie sie schreibt. Aber nun schreibt sie schon lang' nicht mehr ... Wann schrieb sie wohl zuletzt, Stuber?«

»Aber, Veit, du mußt's wissen«, sagte die Ältere zurechtweisend; »an dich war der Brief.«

Die kleine Veit nickte gutmütig und wie mit Recht belehrt; – »nu, so ein Jahr wird's wohl her sein«, bemerkte sie dann ruhig. »›Mir geht's ganz famos!‹ war ihr letztes; aber das ist das Kreuz bei dem Mädel: man weiß nie, ob's wahr ist. Wie kommen wir Schellenbergs nur zu diesem Früchtel, Euer Gnaden; von uns hat sie's nicht! Immer in kurioser Gesellschaft; jetzt bei den Kurzröckigen, früher bei den Malern –«

»Jessas Maria!« rief sie plötzlich aus, da sie in Erharts lächelndes Gesicht sah, und schlug sich mit der Hand auf den Mund, daß es schallte. »Bitt' tausendmal um Vergebung! – ›Nur ein Maler‹, sagten Sie ja – und ich denk' nicht dran, Bitte tausendmal –!«

»Machst halt immer solche Sachen, Veit«, sagte die andre, nicht hart aber belehrend.

»Lassen Sie nur, das tut nichts«, entgegnete der Maler. »Wir sind eine ›kuriose Gesellschaft‹, Frau Veit, das ist gar nicht zu leugnen; mehr lustig als tugendhaft. Aber wie steht's denn heut' mit Ihren dreißig Kreuzern? Sie arbeiten ja nicht?«

Die Veit sah ihn verwundert an. Mit einer drolligen, fast mädchenhaften Anmut auf ihre schwarzseidene Jacke deutend, sagte sie dann: »'s ja doch ein Feiertag, Euer Gnaden! Wissen Sie das nicht?«

»Richtig – das wußten wir nicht. Wir leben wie die Heiden. Aber wie kommen Sie zu dem katholischen Feiertag? Sind Sie nicht Ketzerin? Sie sagten doch von Witschels Morgenandachten –!«

Frau Stuber ließ ihre Prachtbibel im Stich, als sie von so erbaulichen Dingen hörte, und trat eifrig näher. Sie lächelte mit einer gewissen Hoheit und sagte: »O nein, wir sind gut katholisch – und der Herr Dechant hält viel auf uns, muß ich zur Steuer der Wahrheit, wie man sagt, bemerken – aber Herr von Erhart müssen nicht denken, daß wir darum engherzig sind und von dem Guten, das die Protestantischen haben, keine Kenntnis nehmen. Wenn man seine Bildung hat – und seinen besseren Umgang – Regierungsräte – sogar ein Hofrat – dann lebt man doch nicht so hin wie die Bauern und das liebe Vieh. Und der Herr Hofrat war protestantisch –«

»Und ich«, fiel die Veit ein, »hab' sieben Jahr in Ungarn unter lauter Calvinischen gelebt – waren brave Leute – und ist auch gegangen! Das war, als ich noch meinen Mann und fünf Kinder hatte; – leben nun alle nicht mehr. Liegen alle dort. Da bin ich wieder nach Österreich heim – alleinig, wie ich fort bin ... Man muß halt alles nehmen, wie's kommt; ändern kann man nichts!«

»Und sind nicht calvinisch geworden –«

»Die Veit hat ja erst neulich die Wallfahrt mitgemacht«, unterbrach die Stuber den Maler, nicht ohne Wichtigkeit. »Nach Altötting in Bayern!«

»Was wollten Sie in Altötting?« fragte Erhart verwundert.

»Nur so zur Erholung, gnädiger Herr!« antwortete Frau Veit, mit ihrem aufrichtig weltlichen, kindlichen Gesicht. »Nur so zur Zerstreuung! Wenn man immer genäht und genäht hat – und doch meist allein ... Wir waren unser sechs im Wagen, eng war's; und die ganze Nacht gefahren und den halben Tag; aber lustig war's! Immer gered't und gesungen; kreuzfidel sind wir gewesen – bis nach Altötting. Dort alles angeschaut und in alle Kirchen – natürlich – und dann wieder ebenso nach Hallein zurück!«

»Wieder Tag und Nacht –«

»Natürlich!«

Erhart starrte sie an; dann legte er ihr beide Hände auf die Schultern, und langsam und leise schüttelte er die kleine Gestalt vor Bewunderung. »Doktor!« sagte er endlich laut. »Haben Sie das gehört? Diese Wallfahrt im Klapperkasten – als Erholung einer Näherin! Eine göttliche Konstitution!«

Ifinger nickte; – auf einmal veränderte sich sein lächelndes Gesicht. In der niedrigen Tür, durch die sie gekommen waren, stand eine lange Gestalt, ein junges Mädchen in weißem Kleid, einen leichten Überwurf auf die Schultern gelegt. Das Sonnenlicht, das ihr von rückwärts folgte, glänzte auf ihren vergoldeten rötlichen Haaren, als schiene es hindurch. Das Gesicht lag im Dämmer; dennoch leuchtete die eigentümlich helle, blütenweiße Haut. Ein sonderbares Lächeln, das um die Lippen spielte, verriet dem Hermann Ifinger zuerst, daß er sich nicht täuschte. »Aber das ist ja die Lina!« rief er aus und deutete nach der Tür.

»Die Laura, wenn ich bitten darf!« gab das Mädchen zur Antwort. Die große, blühende Person stand still, ohne sich zu rühren, und sah von einem zum andern; sie starrte ebenso her, wie die andern hin. Endlich brach sie in lautes Lachen aus, das an ihre »Pfauenstimme« erinnerte, denn es klang scharf und schrill. »Dees wann i g'wußt hätt'!« sagte sie auf gut bayrisch. »Ich will die Tanten besuchen und find' hier so feine Herrn – und so gute Bekannte. Das ist ja ganz dramatisch, wie auf dem Theater. Und wie sie dastehn, die Tanten; grausam überrascht ... Tante Peppi, Tante Anna, guten Morgen. Laßt euch doch umarmen!«

Sie streckte eine Hand aus, um zu zeigen, daß sie jetzt bis an die Decke reiche – sie berührte sie auch wirklich – dann ging sie auf die Witfrauen zu und nahm sie in die Arme; zuerst die ältere, dann die jüngere. Nachdem sie Tante Peppi Stuber flüchtig auf beide Wangen geküßt hatte, küßte sie sie, aus Scherz und Übermut, von oben herab auf den Kopf; doch während sie das tat, blickte sie über sie hinweg auf Erhart, nicht lächelnd, sondern ernsthaft, mit einem sonderbar lauernden, katzenhaften, gleichsam beschleichenden Blick. Als sie dann die kleine Veit ebenso küßte, sahen die grünlichen Augen wieder ebenso unverwandt dem Maler ins Gesicht. Sie schien etwas mit sich abzumachen, einen Entschluß zu fassen ... Das alles währte nicht lange. Mit ihren geschmeidigen Bewegungen trat sie zwischen den kleinen Frauen hervor und auf die Männer zu.

Nun erst, im vollen Licht der Fenster, sah man, wie das Kind von damals in diesen drei Jahren sich entwickelt hatte. Sie sah nicht sechzehnjährig, sondern völlig gereift aus; die lange, dünne Gestalt war nicht mehr viel in die Höhe geschossen, aber zu reizender Fülle und überraschender Harmonie gediehen. Als wüßte das eitle Ding, wo auf das schöne Ebenmaß ihrer Gestalt so recht der Finger zu legen sei, hatte sie um ihr weißes Kleid einen auffallenden vergoldeten Gürtel geschnallt, der etwas marktschreierisch hervorhob, wie vollkommen der feingerundete Oberkörper zu den schlanken Untergliedern stimmte. Das Gesicht war freilich nicht edler geworden, das Näschen hatte noch immer etwas von der Katze, und der fast drollig vorgewölbte Mund erinnerte mehr an Naschen als an Küssen; die Farben aber wirkten erstaunlich, man konnte sie blendend nennen. Um den Kopf floß ein Gelock, wie man sich das der »Lorelei« denkt, noch goldiger als früher und in wahrhaft tollem Gekräusel über die niedrige Stirn gebreitet.

Das Mädchen weidete sich eine Weile an der Wirkung, die sie sichtbar auf die Männer ausübte; endlich spitzte sie mutwillig die Lippen, als küsse sie in die Luft. »Grüß Sie Gott, Herr von Erhart«, sagte sie langsam; ihre Stimme bekam etwas Weiches, etwas Streichelndes. »Und Sie auch, Herr Doktor! – Was sagen Sie jetzt zu der Lina? Ist sie nicht gar zu schiech, gar zu garstig worden? Da haben Sie jeder eine Hand; – mehr gibt's nicht; bilden Sie sich das nicht ein!« – Sie lachte etwas närrisch, mit den Augen aus den Winkeln schielend, zu Ifinger nach links, zu Erhart nach rechts. »Nur für die Kunst; alles für die Kunst! – Schauen Sie her, so sieht eine dreijährige Ballettratte aus – die bald Solo tanzen wird; ja, ja, ich geb' Ihnen mein Wort. In der großen Oper –«

Sie hob, wie unwillkürlich, einen Fuß, als wolle sie hier von ihrer Kunst sogleich eine Probe geben. Sowie aber Frau Stuber das sah – deren immer blasses Gesicht völlig farblos geworden war – stieß sie einen kräftigen Laut aus und schob sich hurtig zwischen das Mädchen und die Männer; klein, aber wie ein Napoleon. »Bitte, bitte!« sagte sie, mit einem unwilligen Blick auf den Fuß, der sich schon wieder zurückgezogen hatte. »Was fällt dir ein; hier ist kein Theater und kein Ballett. Und überhaupt, so mit den Herrn zu äugeln und zu reden ... Und wenn die Tante Anna auch vom Nähen lebt, und ich von der feinen Wäsche – man hat doch seine Stellung, und ein Gered' darf's nicht geben! – Was sagst du auch von einer Laura? Lina ist dein ehrlicher Name; dein Vater, Gott hab' ihn selig, war ein feiner Mann, und ein Ehrenmann; Lina Schellenberg!«

Frau Veit nickte und seufzte.

Das Mädchen war errötet, was ihr nicht übel stand; sie schien einzusehn, daß sie zu weit gegangen sei, und kehrte offenbar auf den »Pfad der Tugend« zurück. In noch halb kindlicher Lebhaftigkeit bewegte sie die Lippen und die Zunge mit einem leisen, pfeifenden Geräusch, wie wenn ein Vogel träumt. Auf einmal fand sie ihr Lächeln wieder; »man keene Bange nich!« sagte sie plötzlich berlinisch; »ich werd' eure ›Stellung‹ schonen, werd' euch keine Schande machen. Daß ich mich Laura nenne, das ist nur ein Spaß; und daß ich hier tanzen werd', brauchst du nicht zu fürchten, überhaupt – Ehrbarkeit geht mir über alles; das versteht sich von selbst. Alles andre ist nur Spaß!«

»Wo wohnst denn hier?« fragte die Stuber, ohne darauf zu antworten.

»Nicht bei euch; sei ruhig!« antwortete das Mädchen. »Gar nicht in Hallein, sondern in Salzburg, im ›Mohren‹. Wir haben Ferien; da bin ich heraus aus dem Wien, wo man jetzt zwischen all den heißen Backsteinen auch zum Backstein wird. Bin in Salzburg und da herum!«

»Wer zahlt denn das?« fragte die Alte wieder.

»Ich hab' ja ein Geld. Mein alter Gönner, der mich in München und dann in Wien zum Ballett gebracht hat, der hat ›das Zeitliche gesegnet‹, wie die Frau Tant' sich gern ausdrückt, und hat mir in seiner Gutheit ein kleines Kapital hinterlassen; – davon wollt' ich ja mit den Tanten reden, darum bin ich ja hier. Daß ich nur erst noch sag': das mit dem Ballett, das muß man sich nicht falsch vorstellen; da kann eines ebenso ehrbar sein wie im Bürgerstand; wie beim Nähen und Waschen. Wie man sich da zeigt und wie man sich da anstellt, das tut man ja nur für die Kunst! – In unserm Korps, da ist eine, eine Magere, Kleine, die ist noch so unschuldig, daß sie – – man kann's gar nicht sagen. Die Marietta, die nennt sie zwar eine stupida canaglia, aber das ist unrecht; die Helene ist ein Engel von Unschuld – und der streb' ich nach! So hat denn auch der Fürst Bamstig gesagt: die Lau – – die Lina ist brav, ist ein weißes Lamm, da ist nichts zu sagen; und der alte Graf Nonpozzo hat gesagt: die Lina muß aus einem guten Haus sein, sie hat so etwas Distinguiertes und so was Wohlgesetztes; man sieht's doch immer gleich, wenn die Familie gut ist!«

»Das hat dieser Herr Graf gesagt?« fragte die Stuber, der vor Vergnügen ein paar kleine Rosen auf den Wangen aufblühten.

»Natürlich«, erwiderte Lina, und nun setzte sie sich; »sonst könnt' ich's ja nicht erzählen. Es kommen ja Grafen und Fürsten genug hinter die Kulissen; aber in allen Ehren, versteht sich; nur für die Kunst. Der Graf Nonpozzo hat mich gefragt, wo meine Eltern sind; ich hab' leider keine mehr, hab' ich gesagt; aber zwei Tanten hab' ich, die eine ist immer fidel, die andre ist hochgebildet, hat ganze Bücher im Kopf; der Herr Katechet und der Herr Dechant, die sprechen wohl stundenlang mit ihr wie mit ihresgleichen!«

»Hör' auf, hör' auf, das hast nicht gesagt!« erwiderte die kleine Alte, die sich auch, wie die andern, gesetzt hatte; nun fast feuerrot.

»Wozu sollt' ich's denn sonst erzählen; ich wüßt' nicht, warum. Ich will ja nichts von euch. Im Gegenteil, ich bring' was; das heißt, wenn ihr zwei – – Aber vor diesen Herren kann ich das nicht sagen. Wir warten, bis sie fort sind; dann sag' ich's!«

Das Mädchen warf den jungen Männern einen Blick und ein Lächeln zu; beides schien aber nicht zu sagen: bleibt da! Sie schien aus irgendeinem Grunde zu wünschen, daß sie gehen möchten ... Ifinger stand auf. »Wir müssen ohnehin fort,« entgegnete er, »wollen noch auf die Berge; wir stören also nicht länger. Das ›Mädchen aus der Fremde‹, nach dem wir hier fragen wollten, hat ja selber mündlich geantwortet. Ich wünsche eine angenehme Laufbahn als zukünftige Taglioni. Kommen Sie, Meister Erhart!«

Der Maler erhob sich; aber zögernd und mit Widerstreben. Er blieb einige Augenblicke stumm vor dem Mädchen stehen und sah mit seinen durchdringenden Augen an ihr auf und nieder. Dann sagte er, die Worte suchend: »Sieht man Sie noch, Fräulein Lina? Oder – tanzen Sie uns so davon?«

Sie antwortete nicht. Sie lächelte nur; sie schien nachzudenken. Endlich legte sie ihre warme Hand auf die seine, nahm sie aber gleich wieder zurück. » Au revoir!« sagte sie kurz, ohne irgendwie anzudeuten, ob sie damit wirklich »Auf Wiedersehen« meine. Dann wandte sie sich wieder den Tanten zu und zeigte ihnen ihr kindlichstes, unschuldigstes Gesicht.

Erhart zuckte die Achseln. Ifinger empfahl sich schon; die so still gewordene Frau Veit ließ jetzt ihre bedauernde, kräftige Stimme hören und feuerte eine ganze Breitseite von Verbeugungen ab. Sie lief auch bis zur Altane nach und winkte mit ihrem ungebrauchten Feiertagstaschentuch, das sie wie eine Fahne entfaltete und flattern ließ. »Kommen Sie nur auch wieder. Kommen Sie nur auch wieder!« rief sie hinterdrein.

»Ja, ich komme wieder!« rief Ifinger zurück. Erhart sagte nichts. Er grüßte nur mit dem Hut. Er ging auch schweigend über den Friedhof und auf der Straße bergan, die dann den Hügel als Fahrweg erstieg, da die Häuser aufhörten. Sein Gesicht war etwas gerötet, und in seine Augen war etwas Flackerndes, Glühendes gekommen. Obwohl die Sonne schien, nahm er den Hut vom Kopf, und fuhr sich mit dem Tuch über Stirn und Schläfen.

»Ein rührendes kleines Weib, diese Anna Veit!« murmelte Ifinger nach einer Weile, langsam weitersteigend. »Neben der schämt man sich. Wieviel braucht unsereiner, wieviel von allerlei Art, um leidlich glücklich zu sein; und dieses alte Kind so wenig!«

Erhart erwiderte nichts. Da der andre aber verstummte, wandte er jäh den Kopf und fragte, die verträumten Augen aufreißend: »Wie meinen Sie?«

»O nichts«, sagte Ifinger trocken, mit seinem verschlossenen Lächeln. »Oder doch nicht viel. Ich wollte eigentlich sagen: Schade um die Lina. Diese stachlige Knospe ist ja wunderbar aufgeblüht, sie wär' eigentlich eine Art von Schönheit; aber wenn sie spricht, so ist's für mich aus. Eine Pfauenstimme!«

Erhart lächelte eigen. Die Brauen aufspannend sagte er: »Dann hören Sie wohl die andre Stimme nicht laut genug, Doktor?«

»Welche andre Stimme?«

»Sie gelehrtes Haus! Das Fell dieser Lina ist ja die reine Musik. – Und – und ihre Lippen sind zwar nicht die schönsten, aber nach innen zu, da, wo sie sich küssen, kriegen sie ein Rot – ein Rot – – Santo Diavolo!«

»Heiliger Teufel!« – Es war ein scherzhafter Lieblingsfluch Erharts, den er einmal auf der Insel Palmaria von italienischen Soldaten gehört hatte.

Ifinger überlief's; er wußte nicht, warum. Er ging schweigend weiter. »Das ist der Unterschied«, dachte er, »zwischen unsereinem und dem Malersmann: wir hören vor allem die schlechte Solosängerin, die Stimme, und ärgern uns an ihr, er hört vor allem das ganze Farbenorchester ... Eine schöne Haut, das ist sie gewiß, aber für eine gute Haut halte ich sie nicht. Hoffentlich kommt sie uns nicht zu nah'. Hoffentlich sehn wir sie nicht wieder!«


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