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V

Franz Erhart kam in der Tat erst gegen Abend nach Haus; nachdem Ifinger sich nach seiner Weise, »Entdeckungsreisen« machend, in allen Teilen der Stadt herumgetrieben hatte. Der Maler kam singend, eine Rose im Knopfloch; er ging auf seinen Gast mit ausgebreiteten Armen zu und bat ihn heiter, aber aufs heimlichste, um »gnädige Freisprechung«. Wo er so lange gewesen, davon sprach er nicht; und Ifinger fragte nicht. Sie verbrachten den Abend wieder auf dem Söller der »Bürgerwehr«, der Wirtschaft auf dem Mönchsberg, – die sommerdunstige Stadt unter ihren Füßen. Erhart aß gewaltig; er trank dazu den feurigsten Wein, den der Wirt im Keller hatte. Sein Humor war erregt, lustige und tolle Geschichten liefen ihm zu Dutzenden über die Zunge; dann verstummte er wieder ganz und summte nur vor sich hin. Spät, als die letzten Gäste, gingen sie heim, und von dem drückenden Tag ermüdet, fast schlaftrunken, taumelte Ifinger bald ins Bett.

Am andern Morgen erschien Lina wieder, um gemalt zu werden; diesmal in dem weißen Kleid mit dem goldenen Gürtel, offenbar auf des Malers Wunsch, denn er sah es an und nickte, ohne etwas zu sagen. Die fast kindliche Demut, mit der sie gestern kam, hatte sie abgelegt. Sie ging neugierig umherschauend an den Wänden hin, als wäre sie zu Hause; drehte jede weggestellte Leinwand herum, betrachtete einige angefangene Bilder mit ihren sonderbar naschhaften, begehrlichen Blicken; dann setzte sie sich, ohne die Aufforderung abzuwarten, und nickte Erhart lächelnd zu, als wolle sie sagen: so, nun male weiter! – Ifingern ward wieder übel zumute. Er fing an hin und her zu gehn, die Hände auf dem Rücken. Da sie ein Liedchen zu trällern begann, begann er zu summen – was mehr wie ein Brummen klang – und blieb plötzlich stehn.

»Wollen Sie wieder aufs Dach hinauf?« fragte das Mädchen, ihr Trällern abbrechend. Sie sah ihn an, nicht spöttisch, nur ruhig lächelnd, und doch klang es ihm wie Spott, wie Hohn.

»Nein«, antwortete er auf einmal entschlossen. »Ich will nicht aufs Dach. Wenn Sie erlauben, will ich meine Wanderung antreten.«

»Was für eine Wanderung?« fragte Erhart, der sich unterdessen zur Arbeit gerüstet hatte und den Pinsel ansetzte.

»Hab' ich Ihnen noch nicht davon gesagt? O doch. Ich will diesen Urlaub, den ich mir erlaubt habe, zum Teil zum Wandern benützen – das ich mir verordnet habe. Es tut mir sehr gut. Etwa eine Woche; allein; denn ich renne dann wie toll – oder doch ziemlich toll. Deshalb –«

»Aber warum denn jetzt?« fragte Erhart, sich den Pinsel ans Kinn drückend.

»Solange Sie das Fräulein malen, paßt es ja am besten. Wenn Sie – damit fertig sind, bin ich wieder da. Sie laden mich dann wieder ein, bei Ihnen zu wohnen, und ich nehme es wieder an.«

»Das versteht sich allerdings von selbst«, erwiderte Erhart; – »aber wohin wollen Sie denn wandern? so mutterseelenallein?«

Die Sache scheint ihm einzuleuchten, dachte Ifinger; er widerspricht wenigstens nicht! – »Ein paar alte Lieblingswege«, gab er dann zur Antwort. »Von Hallein über die Au nach Berchtesgaden hinunter; Königssee, Hintersee, Ramsau und so weiter; von Reichenhall dann hierher zurück. Unterwegs auf ein paar Berge hinauf. Es ist so eine Art Massage für den Organismus!«

»Und ich soll Sie nicht begleiten?«

»Nein. Sie sollen – dieses Fräulein malen; das haben Sie ja versprochen. Es wird Ihnen verflucht schwer werden, in dieser Woche ohne mich zu leben; aber so ungern entbehrt zu werden, darin bin ich gewöhnt. So, nun sagen Sie mir noch: ›reisen Sie mit Gott!‹ und dann fahr ich ab!«

»Fahren?« fragte Lina, die in stiller Befriedigung auf ihrem Sessel rutschte.

»Das ist nur so eine Art zu reden, mein Fräulein«, entgegnete Ifinger ernsthaft; »die Deutschen als ein sinniges Volk lieben solchen Unsinn. Zum Beispiel in folgender Frage und Antwort: ›Können Sie gut laufen?‹ ›Es geht!‹ Oder: ›Du willst schon gehn? Dann fahr' wohl!‹ – Das letztere denkt eben der Meister Erhart ... Guten Morgen, Meister. Ich gehe in mein Zimmer, nehme meinen Ranzen – der ist immer gepackt; auch eine alte Gewohnheit – und gehe dann gleich durch die andre Tür hinaus. Also in einer Woche – – Bleiben Sie doch sitzen, Fräulein. Weinen Sie mir nicht nach. Adieu!«

Er verschwand, kurz und rasch wie immer, und war bald auf der Straße. Wenn ich wiederkomme, dachte er, etwas freier aufatmend, dann ist die Komödie hoffentlich aus – und die Hexe fort! – Der Himmel war heute bewölkt, und es drohte Regen; doch in seiner Wanderjoppe, die viel solche Unbill ertrug, scheute er kein Wetter. Er stieg vom Mönchsberg hinunter zum Bahnhof; wartete auf den nächsten Zug, der nach Süden ging (damals war die Giselabahn erst zum Teil eröffnet), und fuhr nach Hallein, um von da die Wanderung zu beginnen. In dem letzten, dem Aussichtswagen, in den er gestiegen war, fand er jenen jugendlichen, wohlbeleibten Herrn wieder, den er bei seiner Ankunft in Erharts Atelier angetroffen hatte. Der hübsche Herr mit den kostbaren Ringen – die er auch heute trug – warf einige Blicke auf Ifinger; schien ihn zu erkennen, stand auf, trat zu ihm, und mit einer Art von Verbeugung lächelte er ihn an.

»Erlauben Sie – Sie sind ja der Freund des Herrn Erhart«, sagte er mit der Zutraulichkeit eines Mannes, der den goldenen Hauptschlüssel zu allen Türen in der Tasche hat. »Erlauben Sie, daß ich die kurze Bekanntschaft fortsetze. Baron Ansbach, aus Wien.«

»Doktor Ifinger.«

»Sie reisen schon wieder ab?«

»Nur auf einige Tage; ins Gebirg hinein. Heut' nach Berchtesgaden –«

»Da komm' ich her«, fiel ihm der Baron ins Wort; »ich will heut' nach Golling, zu den ›Öfen‹ und zum Wasserfall. Die Gegend gefällt mir so gut, daß ich wohl noch eine Woche bleibe, eh' ich wieder heimfahre; – wozu auch? In Wien versäum ich nichts ... Ich muß Ihnen übrigens sagen, Herr Doktor: wenn Sie Herrn Erhart wiedersehn, so erzählen Sie ihm, bitte, daß ich auf ihn wütend bin!«

»Das bedaur' ich – um Ihretwillen«, erwiderte Ifinger. »Warum sind Sie das?«

»Warum? Das will ich Ihnen sagen. Ich hatte ein Anliegen an ihn – eine Bestellung – ein Bild – und die Sache schwebte. Gestern schreib' ich ihm: wann ich ihn am besten treffe, um die Unterhandlung zum Schluß zu bringen. Ich will nur bemerken: er konnte fordern, was er wollte; das spielt keine Rolle bei mir ... Er schreibt mir zurück, drei Zeilen: er bedaure, es gehe durchaus nicht, hinter dem Rücken des Barons Pillnitz zu handeln sei gegen seine Grundsätze. Punktum ... Na ja, ich hatte ihm nämlich angedeutet: Ihr Baron braucht's ja nicht zu wissen! Ob der Herr Erhart einmal, sozusagen in der Zwischenstunde, für mich eine Venus malt, was geht diesen langen, mageren Baron das an! Aber mein Herr Maler schreibt mir in drei Zeilen, so von oben herab: inkommodieren Sie mich nicht, ich habe Grundsätze, das verstehen Sie nicht, leben Sie wohl, guten Morgen!«

Ifinger zuckte höflich die Achseln. »Es mag zuweilen sehr unhöflich sein, daß man Grundsätze hat«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehn; »aber das sind Gewohnheiten, wie das Essen und Trinken, von denen mancher nicht lassen kann. Herr Erhart ist sonst ein angenehmer –«

»Ganz gleich; ich bin wütend!« unterbrach ihn der Dicke. »Ich tät' ihm gern was an! – Das alles um diesen Pillnitz ... Weil er ein Kunstkenner ist, liegen die Herren Maler ja förmlich auf dem Bauch vor ihm; ich hab's in München gesehn. Und er trägt seinen idealen Kopf so hoch – und er ist so langweilig ... Das Beste an ihm ist noch seine Frau, die kleine Spanierin aus Amerika; – kennen Sie die auch?«

»O ja. Ich bin mit ihr befreundet –«

»Ah!«

»Seit drei Jahren sehn wir uns ziemlich oft. Eine vortreffliche Frau. Geistreich und ganz natürlich; vornehm und ohne alle Vorurteile –«

»Na, und obendrein hübsch, pikant!« fiel Baron Ansbach ein. »Sie gefällt ja sehr ... Mein Genre ist sie nicht, muß ich ehrlich sagen; zu wenig – – zu wenig Masse, verstehn Sie. Wenn man die Spitzen wegnimmt und die Volants und so weiter, dann bleibt ja nicht viel übrig; nur eine niedliche kleine Skizze – aber die Ausführung fehlt. Eine Art Unterschlupf für eine schöne Seele; – ich danke!«

»Die Seele ist vielleicht um so schöner«, erwiderte Ifinger; nur so obenhin, um dieses Gespräch abzubrechen.

»Gewiß, gewiß; daran zweifl' ich nicht! – Wie gesagt, Geschmackssache; es ist nicht mein Genre. Ich hab' – sehr viel Sinn für das weibliche Geschlecht; aber es muß was da sein. Sehn Sie, vorgestern war ich in Hallein, ich kam aus dem Bergwerk; da geht in der Hauptstraße ein Frauenzimmer vor mir her, so ein stattliches – ein etwas sonderbares Kostüm, weiß, goldner Gürtel – dazu Haare wie mattes Gold. Sie bleibt einmal stehn, sieht sich um; ein blutjunges Gesicht! Unwahrscheinlich grüne Augen – oder grau – ich weiß nicht. Aber vor allem jung, blutjung; – sehn Sie, das ist das Höchste. Eben aufgeblüht, und dabei alles rund und voll – so die rechte Fülle!«

Ifinger sah diesen dicken Feinschmecker von der Seite an; er verspürte keine Lust, ihm zu sagen, daß er das »blutjunge« Frauenzimmer kenne. »Und Sie ließen sie fortgehn?« fragte er nur.

»Aus Dummheit!« antwortete der andere ehrlich. »Sie sah sich um, wie gesagt – dann noch ein paar Schritte, da ging sie in eine Tür. Das ist ja eine merkwürdige Pflanze, denk' ich; ich warte, bis sie wieder herauskommt; eher geh' ich nicht fort! – Aber – ich steh' wie ein Narr; wie lange, das weiß Gott. Als ich endlich wild werde – und ins Haus hinein will – da seh' ich, die Tür ist ein Durchgang; nach 'ner andern Straße. Na, nun ging ich auch durch – aber es war zu spät. Die mit dem Gürtel war fort; spurlos verschwunden!«

»So scheitern oft die schönsten Entwürfe!« bemerkte Ifinger und begann ein anderes Gespräch. Er fühlte sich ungern an Lina Schellenberg erinnert ... Es währte nicht lange, bis sie Hallein erreichten; hier trennten sie sich, und er ging allein dieselben Gassen entlang, die er vor zwei Tagen mit Erhart durchwandert hatte. Am Himmel hing noch das verdunkelnde, regenschwere Gewölk, das ihn mit der Aussicht auf eine Sündflut neckte, ohne sich zu entladen. Ihm war, als ziehe er fast die Entladung vor; die Schwüle bedrückte ihn; mehr noch eine schleichende, nicht scharfe, aber zähe Verstimmung, die sich seit heute, seit gestern langsam, wie so ein Regenwetter, um ihn zusammenzog. Er kannte diese Seelennebel; in den letzten Jahren hatten sie sich sehr an ihn gewöhnt ... Wie um ihnen zu entrinnen, ging er rascher weiter; stieg die Hauptstraße, dann ihre schmalere Fortsetzung hinan, und kam bis an die Ecke, wo der eigentliche Aufstieg begann und zur Linken der Turm der Pfarrkirche in die graue Luft ragte.

»Soll ich sie heut' schon besuchen?« dachte er, da ihm bei diesem Anblick die kleinen alten Geschwister einfielen; »oder warte ich, bis ich einmal wieder von Salzburg hierher komme? – Er nickte stumm: lieber jetzt weitergehn! – Nur einen Blick auf den Kirchplatz und seine Grabkreuze werfend, verwunderte er sich über eine große weibliche Gestalt, die, ganz schwarz gekleidet, bei den Gräbern stand, auf sie hinunter und dann wie in die Ferne sah, und ihn an die trauernde »schwarze Dame« auf Erharts Meerlandschaft erinnerte: denn sie stand ebenso im Profil, und die Haltung des Kopfes, der Hand, der tiefe, ruhige Ernst, alles war wie auf dem Bild. Seine Überraschung wuchs, als er schärfer hinsah. Er erkannte die andre Nichte der Veit, die Christel. Sie war blaß, und wohl auch reifer und älter im Gesicht als vor drei Jahren; aber die großen, etwas starken Formen, die Schlichtheit der ganzen Erscheinung waren unverändert. Den Kopf hatte sie in ein leichtes schwarzes Tuch gehüllt, das sie der gemalten Trauernden noch ähnlicher machte. Warum stand sie so da? vor den dunklen Kreuzen? – Ifinger empfand eine Teilnahme, die ihn näher zog. Er ging durch die kleine, offene Pforte und trat auf sie zu.

»Fräulein Christel!« sagte er mit halber Stimme und zog seinen Hut. Das Mädchen wandte den Kopf; ihr träumerisch starrer Blick schien ihn nicht sogleich zu erkennen. »Ah!« sagte sie dann mit einem schwachen Lächeln, das wie Freude aussah. Sie tat einen Schritt ihm entgegen und reichte ihm treuherzig, und doch mit sich unterordnender Bescheidenheit, die Hand, ohne zu sprechen.

»Sind Sie – – Trauern Sie?« fragte er.

Sie sah ihn an und nickte. »Hat Ihnen die Tante nicht davon gesagt, als Sie neulich hier waren?«

»Nein. Sie würd' es wohl getan haben; aber es kam eine Unterbrechung –«

»Ach ja! Meine Cousine, die Lina!« fiel sie ein, ohne daß ihre ruhigen Züge sich veränderten. »Ich wohne jetzt hier, bei den Tanten; aber ich war verreist; zu seinen Eltern ... Ich hab' ihn verloren, gnädiger Herr. Ich war mit ihm verlobt.«

Er sah ihr überrascht ins Gesicht. Dann entfuhr ihm ein tiefer, seufzender, mitfühlender Ton. Worte fand er nicht. – Nach einer Weile erwiderte sie seinen Blick, lächelte und nickte.

»Sie sind so gut«, sagte sie leise.

Er bewegte ablehnend die Schulter. »Ich wußte gar nicht –« fing er an zu murmeln. »Verlobt!«

»Ach – nicht lange.«

»Liegt er hier?«

»O nein«, antwortete ihre weiche, angenehme Stimme. »Ich ging nur so über den Weg, sah die Gräber – und dachte – – Er liegt weit von hier; in seiner Heimat, im Bayrischen; im Gebirg. – Die Eltern wollten ihn behalten; natürlich. Was haben sie nun auch weiter von ihm ... Er war das einzige Kind!«

»Hm!« murmelte er gerührt.

»Nicht wahr, die armen Eltern verlieren doch wohl am meisten«, sagte sie ganz leise. »Die haben ihn groß gezogen; haben so viele Jahre gehofft ... Ich kannt' ihn doch erst ein Jahr. Und nur ein paar Monate waren wir verlobt; es ist wie ein Traum; kaum daß wir uns geküßt haben ... Ach, verzeihen Sie, daß ich davon red'. Es kommt mir nur manchmal so vor, als wär' alles nicht wahr ...« Sie warf einen irren Blick in die Luft und fuhr sich mit der äußeren Fläche der Hand, wie hilflos, über die Stirn. »Oder als wär' ich wahnsinnig gewesen, daß ich hier sein konnt' und er dort – ich so weit von ihm – und auf einmal stirbt er ...«

Ein plötzliches Schluchzen begann sie zu erschüttern; dann sprangen die geschlossenen Lippen auf und der Atem, wie eingepreßt, brach in Stößen und mit einem schmerzhaften Laut hervor. »O verzeihen Sie, verzeihen Sie«, wiederholte sie endlich und drückte eine Hand mit der andern. »Wie kommen Sie dazu, daß ich das alles Ihnen – – Ich will lieber gehn!«

Ifinger hielt sie fest, indem er mit einer Hand ihre beiden faßte. »Nein, gehn Sie nicht, liebe Christel«, sagte er eindringlich; das »Fräulein« blieb ihm diesmal auf der Zunge liegen. »Das wär' ja eine schnurrige Welt, in der man einander nicht mehr sagen sollte, was man zu leiden hat ... Warum mußt' er denn sterben? Was war's?«

Sie stockte eine Weile. »Schrecklich war's«, sagte sie dann leise. »Er war Jäger im Hochgebirg; – aber nicht so einer wie die andern, gnädiger Herr – ach, Sie glauben nicht, was für ein Mensch es war – so viel feiner – – nicht daß Sie denken: geschniegelt oder so was – aber seit dem Siebzigerkrieg, den er mitgemacht, war so was Besonderes in ihn hineingekommen. Er hatte andre Gedanken, all die Kindereien und Dummheiten freuten ihn nicht mehr. Es wär' gewiß noch viel aus ihm geworden, gnädiger Herr; das meinten auch die Leute – die gescheiten, mein' ich ... Aber er, den im Krieg nichts getroffen hatte – –«

Sie verstummte wieder; sah nur einmal zu ihm auf und dann vor sich hin.

»Was geschah ihm denn?« fragte Ifinger; er hatte eine Zeitlang geduldig gewartet.

»Sie haben ihn erschossen«, sagte sie nun gefaßt und schlicht. »Drei Wilddiebe waren's, die er nicht ziehen lassen wollte; einen hat er niedergelegt – dann die andern ihn. Ich hab' ihn nur noch gesehn, eh' der Sarg zugenagelt wurd' ... Ignaz Achleitner hieß er.«

»Ja, ja«, murmelte Ifinger. »Arme, gute Christel. Das ist nicht der schlechteste Tod für 'nen braven Jäger – aber hart für Sie. Man hat Ihnen viel auf die Schultern gelegt – auf die jungen Schultern –«

»Nicht mehr so jung«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Sechsundzwanzig Jahr.«

»Sie fühlen es um so tiefer, Christel!«

»Ja – ich fühl' es tief«, flüsterte sie. – Etwas lauter setzte sie nach einer Weile hinzu: »Aber mit so 'nem großen Kummer, gnädiger Herr, ist's doch wunderbar. Mir ist's, als wär' ich seitdem zehn Jahr' älter worden ... Nicht weil man sich so abhärmt – nein, das mein' ich nicht; ach du lieber Gott, ich bin so furchtbar gesund ... Aber man sieht die Welt so ganz anders an. Auch so ein dummer Mensch, wie ich, kriegt doch eine Einsicht; wenn man daliegt und in die Nacht hineinsieht und nicht schlafen kann – und daß uns alle das trifft – und wir gar nichts wissen ... Und wenn man sich dann ausgeweint hat und die Glocken läuten – und man denkt: Einer weiß es ... Ich kann's nicht so sagen, gnädiger Herr; aber fühlen tu' ich's. Wie meinem Ignaz war nach dem großen Krieg, so denk' ich manchmal, daß mir nach diesem Schicksal ist; – und an diesen einzigen Trost muß man sich dann auch klammern ...«

Sie gab es auf, zu sagen, was sie meinte, und fing an zu weinen.

Ifinger erwiderte nichts. Er sah sie nur von der Seite an; ergriffen durch ihre merkwürdige Stimme, verwundert über ihre Gedanken. Auch ihre feinere Art zu sprechen ging ihm durch den Kopf; und daß so wenig österreichischer Klang darin war. Es drängte ihn, ihr wenigstens eine Hand auf die Schulter zu legen, während er so schwieg. Die berührte Schulter zuckte ein wenig, aber sie hielt still.

Um die Pfarrkirche herum kam jetzt die kleine Frau Veit gelaufen, hastig wie ein Mädchen; sie suchte offenbar, denn sowie sie die Christel erblickte, stieß sie einen kräftigen Laut aus und winkte mit der Hand. Noch eh' sie heran war, fing sie fast atemlos an zu sprechen: »Ich hab' mich nur auf 'ne halbe Stund' freigemacht – – grüß Sie Gott, Euer Gnaden! Daß Sie wieder da sind! Ihre Dienerin! – – auf 'ne halbe Stund', Christel: ich weiß einen Platz für dich. Die Herrschaft, bei der ich heut' näh', braucht eine Dienerin; zum Aushelfen in der Wirtschaft und zur Aufsicht für die Kinder – ein paar ungezogene Buben, freilich –«

»Das tut nichts«, sagte die Christel ruhig.

»Wollen Sie in Dienst gehn?« fragte Ifinger überrascht.

»O ja«, antwortete sie; ihre noch feuchten samtbraunen Augen sahen ihn in stiller Entschlossenheit an. »Je eher, je besser. Daß ich was zu tun hab'. Jetzt helf' ich hier beim Kochen und beim Waschen aus; bei den Tanten, mein' ich; das ist zu wenig Strapazieren für mich, das bringt mich nicht von mir fort.«

»Ja, so sagt sie immer«, bestätigte die Alte, wehleidig den Kopf nach allen Richtungen schüttelnd. »Und dann, ich erwerb' nichts, sagt sie ... Daß ich's übrigens nicht vergess': die Tant', die Stuber hat nach dir gerufen. Sie stand auf dem Balkon; ich hab' ihr gesagt: ich such' sie –«

»Ich komm' schon!« sagte Christel und ging. Sie grüßte Ifinger stumm und nickte. Mit ihren raschen elastischen Schritten war sie bald hinter der Kirche verschwunden.

»Das ist ein tapferes Mädel – alle Achtung!« sagte die kleine Frau, mitleidig und bewundernd zugleich. »Das ist ein andres Blut als ihre Cousine, die Lina ... Ist freilich auch nicht von hier. Ihr Vater, mein Bruder selig, ging ins Preußische, nach Schlesien, und nahm sich 'ne Schlesierin zur Frau; und ist dort geblieben. Ist auch evangelisch, die Christel ... Und daß wir schon wieder die Freud' haben, Euer Gnaden zu sehn! Sind vorgestern leider so eilig fort, weil die Lina so großtat und uns was ganz Apart's – – O du Schwadronärin!«

»Was hat sie denn gewollt?« fragte Ifinger.

»Uns ein Präsent machen, uns regalieren, wie die kleinen Kinder; von dem, was sie ›geerbt‹ hat, sagt sie. Ich sag': das ist Sündengeld! mit Respekt zu sagen; und glauben tu' ich ihr nichts! – Wir hätten's fein nehmen sollen und dem Balg die Hand küssen; dann hätt' sie groß dagestanden vor den Leuten, als unsre ›Wohltäterin‹, als ein ›guter Engel‹, wie's auf dem Theater heißt. Bei der ist alles Komedi ... Wir haben ihr aber heimgegeigt, Euer Gnaden! Geh mit deinem Geld, hat ihr die Stuber gesagt, feuerrot vor Zorn; sind wir Bettelleut'? Hast denn je gesehn, daß wir wie die alten Spittelweiber an der Bergstraß' sitzen und Strümpf' stricken und um einen Kreuzer bitten? Hat nicht dein alter Graf selber gesagt, du mußt aus 'nem guten Haus sein? – Wirf dein Geld aus dem Fenster, wir heben nicht 'nen Sechser auf! – Und so hat sie noch mehr gesagt – und ich hab' dabei gestanden, hab' nicht können zu Wort kommen. Und zuletzt hat die Lina ihre Röck' zusammengenommen und laut gelacht wie der Teufel – und wie ein Husch ist sie fort!«

»Glückliche Reise wünsch' ich ihr!« murmelte Ifinger. Er hatte nur mit halbem Ohr gehört, was Frau Veit erzählte; ein Gedanke, der ihn nicht mehr losließ, zog ihm im Kopf herum. »Hat die Christel schon gedient?« fragte er.

»O ja freilich, freilich. Als ihr Vater gestorben ist – die Mutter war schon tot – da ist sie zu uns gekommen, und hat in Salzburg gedient –«

»Auch bei Kindern?«

»Freilich. Und wie! – In dem Salzburger Haus waren drei rechte ›Unkräuter‹, Euer Gnaden, wie der Herr Dechant sagt; nach einem Jahr nicht mehr zum Erkennen: so hat die Christel die Kinder gezogen; das kann sie. Gar nicht, daß sie Lärm macht; o mein: die geht so still ihren Weg – immer grade fort. Was man sagt: eine Perle! Kann alles, was sie will, Euer Gnaden –«

Ifinger unterbrach ihren feurigen Redefluß, indem er ihr eine Hand auf den erhobenen Arm legte. »Ich glaub's Ihnen«, sagte er. »Danach sieht sie auch aus! – Täten Sie mir einen Gefallen, Frau Veit?«

Die Alte hob ihre kleine Gestalt, als wolle sie in die Luft fliegen. Soviel wie Sie wollen!« rief sie aus. »So ein Mann wie Sie ... Bitte nur zu befehlen!«

»Ich möcht' Ihre Nichte, die Christel, gern noch einmal sprechen. Liebe Frau Veit, wollen Sie ihr sagen –«

»Gewiß!« rief sie, focht mit dem rechten Arm durch die Luft und stürmte davon, ihrem Hause zu.

»Wo wollen Sie hin?« rief er ihr nach. »Frau Veit! Frau Veit!« – Sie blieb stehn. – »Sie wissen ja noch nicht, was Sie ihr sagen sollen –«

»Ja, da haben Sie recht!« sagte sie zerknirscht. Gleichsam in sich zusammengezogen, wie ein Hund, der bei etwas Verbotenem ertappt wird, kam sie wieder zurück. – »Bitte um Vergebung!«

»Die Christel ist bei Frau Stuber; ich will jetzt nicht stören. Wenn Sie ihr nur sagen wollen, ich käme in einer Stunde wieder, falls es ihr dann recht ist –«

»Wenn man den Wolf nennt, kommt er schon gerennt!« unterbrach ihn die Alte, deren Kautschukgesicht mit ungeheurem Ernst triumphierte. Mit dem ausgestreckten Arm deutete sie nach rechts. Christel kam zurück, den Kopf etwas gesenkt. Sie hob ihn aber wie erfreut, als sie Ifinger noch auf demselben Platz wie vorhin erblickte.

»Der Herr Doktor noch hier!« sagte sie, mit einem bescheidenen Lächeln.

»Ja, ich bin noch hier. Möchte Sie etwas fragen, Christel ... Ich hab' eine junge Frau und zwei kleine Kinder; die Frau ist – so übertrieben brav, daß sie sich zugrunde richtet; will alles allein machen – hat's bis jetzt gewollt – aber es geht nicht mehr. Sie sieht's selber ein. Eh' ich abgereist bin, sind wir einig geworden: es soll eine tüchtige Person ins Haus, die ihr möglichst viel abnimmt – und vor allem die Kinder. Ich hab' ihr halb im Scherz, halb im Ernst gesagt: ich bringe dir eine mit! – Jetzt könnt' es auf einmal Ernst werden – hier auf dem Kirchenplatz – wenn Sie wollten, Christel. Sie suchen einen Dienst. Ich suche so eine wie Sie. Kämen Sie zu uns? nach München?«

Das Mädchen sah ihn unverwandt an, während er sprach; mitten auf ihre blassen Wangen kam ein schwaches Rot. Sie verzog nur die Lippen ein wenig, als sie begriff, was er wollte; sonst blieben ihre Züge still. Als er aber ausgeredet hatte, antwortete sie ohne Zögern: »Auch nach Amerika, wenn Sie wollen. O ja. –

Wenn Sie zu mir das Vertrauen haben, daß ich nützen kann!«

»Ja, das hab' ich; sehr. – Und würden Sie sogleich zu uns kommen, Christel?«

»Morgen, wenn Sie wollen«, erwiderte sie einfach, wieder ohne Besinnen. »Oder heut' abend. Ich bin ganz bereit.«

Er sah sie an und wunderte sich: ihn rührte diese sachliche Ruhe fast noch mehr, als vorhin ihr trauriger Bericht. Ihre Augen sahen so gefaßt in ein neues Leben hinein ... Er nickte ihr zu, als wären sie nun einig. Etwas verlegen rieb er dann eine Hand mit der andern; endlich sagte er stockend: »Sie haben noch nicht gefragt, wieviel –«

»O sagen Sie mir das nicht«, fiel sie ihm bittend ins Wort. »Mir ist recht, was Sie mir geben; Sie werden das schon wissen. Ich will – arbeiten, Herr Doktor!«

»Hm! – Also abgemacht!« sagte er kurz und reichte ihr die Hand. »Ich telegraphier' also meiner Frau, daß Sie morgen kommen; denn ich komme später; – und ich schreib' Ihnen auf, wo wir wohnen ... Aber sehn Sie, die Wolke entschließt sich endlich; große Tropfen fallen. Gehn wir zu Ihnen ins Haus, Frau Veit, wenn es Ihnen recht ist; daß wir da alles in Ordnung bringen, eh' ich weitergehe. Ihre andre Nichte hätten Sie uns ersparen können, da ist nichts zu danken; für diese da dank' ich Ihnen. Nehmen Sie meinen Schirm; es gießt schon!«


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