Christoph Martin Wieland
Der goldne Spiegel
Christoph Martin Wieland

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5.

»Danischmend hat uns die Verdorbenheit der scheschianischen Nation so groß und so allgemein vorgestellt«, sagte die Sultanin, »daß ich nicht begreife, wo er den Mann hernehmen will, der aus diesem Chaos eine neue Welt zu erschaffen fähig sein sollte. Dies bin ich wenigstens gewiß, daß dieser Mann sich nicht am Hofe zu Scheschian gebildet haben kann.«

»Der beste unter allen sinesischen KönigenChun, der Mitregent und Nachfolger des guten Kaisers Yao. Siehe Dü Haldes Beschreibung des sinesischen Reichs I. T. S. 263 der deutschen Übersetzung. Im übrigen ist nicht zu bergen, daß die Geschichte der sinesischen Kaiser Yao und Chun, allem Ansehen nach, nicht mehr historische Wahrheit hat, als die Geschichte des scheschianischen Königs Tifan. bildete sich unter einem Strohdache«, versetzte Danischmend. »Und wie hätte (sagt ein sinesischer Schriftsteller) der tugendhafte Landmann Chun nicht der beste unter den Königen werden sollen? Sein erster Stand hatte ihn vorher zum Menschen gebildet. Dies ist die Hauptsache. Wie wenige unter denjenigen, die von der Wiege an zu künftigen Herrschern erzogen werden, können sich dieses Vorteils rühmen!

Tifan, der Wiederhersteller seines Vaterlandes, Tifan, der Gesetzgeber, der Held, der Weise, der Vater seines Volkes, der geliebteste und der glücklichste unter allen Königen, – mit dessen Geschichte ich im Begriff bin den Sultan meinen Herrn zu unterhalten, würde wahrscheinlicher Weise alles dies nicht gewesen sein, wenn er an dem Hofe seines Vetters Isfandiar, oder an irgend einem andern asiatischen Hofe seiner Zeit, wäre gebildet worden.

Von der Natur selbst auf ihrem Schoße erzogen, fern von dem ansteckenden Dunstkreise der großen Welt, in einer Art von Wildnis, zu einer kleinen Gesellschaft von unverdorbenen, arbeitsamen und mäßigen Menschen verbannt, ohne einen Schatten von Vermutung, daß er mehr sei als der geringste unter ihnen, brachte er die ersten dreißig Jahre seines Lebens in einem Stande zu, worin sein Herz, ohne es zu wissen, zu jeder königlichen Tugend gebildet wurde.

Dieses sonderbare Glück, ohne welches er schwerlich der Stifter der allgemeinen Glückseligkeit seiner Nation geworden wäre, hatte Tifan der Grausamkeit Isfandiars und einem andern eben so glücklichen als ungewöhnlichen Zufalle zu danken: nämlich, dem Umstande, daß seine erste Jugend dem einzigen tugendhaften Manne, der vielleicht damals im ganzen Scheschian lebte, anvertraut worden war.

Isfandiar hatte bald nach seiner Thronbesteigung alle seine Brüder, nebst den Kindern, welche Temor, der einzige Bruder seines Vaters, hinterlassen hatte, aus dem Wege geräumt. Tifan, der jüngste unter den letztern, war damals etwann sieben Jahre alt, und befand sich unter der Aufsicht eines bejahrten Visirs, den sein Vater vorzüglich geliebt hatte. Dschengis (so nannte man diesen Visir) hatte einen einzigen Sohn von gleichem Alter mit dem Sohne des Prinzen Temor; und das einzige Mittel, wodurch er das Leben des jungen Tifan retten konnte, war, seinen eigenen Sohn den von Isfandiarn abgesendeten Mördern Preis zu geben. Dschengis hatte den Mut, der Tugend ein so großes Opfer zu bringen.

Er gab sein eigenes Kind hin, und zog sich mit dem jungen Tifan, der nun für seinen Sohn gehalten wurde, in eine unbekannte Gegend der mittäglichen Grenze von Scheschian zurück. Es war ein fruchtbares aber unangebautes Tal, von Gebirgen und Wildnissen eingeschlossen, und, wie er glaubte, von der Natur selbst zu seiner Freistätte bestimmt für den Tugendhaften, der sein Glück in sich selbst findet, und für einen jungen Prinzen, den das Glück seine Unbeständigkeit in so zarter Jugend schon erfahren ließ.

Hier legte Dschengis eine Art von Pflanzstätte an, indem er einer Anzahl Sklaven beiderlei Geschlechts, die er von den benachbarten Tschirkassiern zu diesem Ende gekauft hatte, die Freiheit unter der Bedingung schenkte, daß sie ihm helfen sollten diese öden Gegenden anzubauen. Die Natur belohnte seinen Fleiß mit dem glücklichsten Erfolge. In wenigen Jahren verwandelte sich der größte Teil dieser angenehmen Wildnis in Kornfelder, Gärten und Auen, von tausend kleinen Bächen gewässert, welche Dschengis und seine Gehülfen aus den benachbarten Gebirgen in ihre aufblühenden Pflanzungen ableiteten. Die frohen Bewohner lebten im Überflusse des Notwendigen, und in dieser glücklichen Armut an entbehrlichen Dingen, welche für den Weisen oder für den Unwissenden Reichtum ist. Dschengis, wiewohl sie alle seine Sklaven gewesen waren, maßte sich keiner Herrschaft über sie an.

Alle Ungleichheit, welche nicht von der Natur selbst herrührt, war aus den Hütten dieser Glückseligen verbannt. Die Väter der sämtlichen Haushaltungen machten zusammen eine Art von Gericht aus, das sich über Dinge, welche die allgemeine Wohlfahrt betrafen, beratschlagte, und die kleinen Streitigkeiten schlichtete, die unter einem so wenig zahlreichen, so fröhlichen und so armen Völkchen entstehen konnten.

Im Schoße dieser kleinen Kolonie wuchs, als unter seinesgleichen, der Neffe des größten und üppigsten aller morgenländischen Könige in einer Unwissenheit seines Standes auf, welche der weise Dschengis für nötig hielt, was auch das Schicksal über seinen königlichen Pflegesohn beschlossen haben möchte. ›Ist er zum Throne bestimmt‹, dachte er, ›so werden die Völker, die er einst glücklich machen wird, die Asche des ehrlichen Dschengis dafür segnen, daß er ihnen einen König erzogen hat, der, in der Gewohnheit die niedrigste Klasse von Menschen als seinesgleichen anzusehen, – in der Gewohnheit nichts von andern zu erwarten, was sie nicht auch von ihm fodern können, – in der Gewohnheit seinen Unterhalt seinem eigenen Fleiße zu danken zu haben, – aufgewachsen, des sinnlosen Wahnes unfähig ist, daß Millionen Menschen nur darum in der Welt seien, damit er allein müßig gehen und sich allen seinen Gelüsten überlassen könne. Ist es hingegen sein Schicksal sein Leben in der Dunkelheit zuzubringen, so ist die Unwissenheit seiner Abkunft ein Gut für ihn selbst: ihm den wohltätigen Irrtum, sich für den Zustand worin er lebt geboren zu glauben, benehmen wollen, wäre in diesem Falle Grausamkeit.‹

Tifan ließ sich also, wenn er hinter seinen Herden herging, wenig davon träumen, daß ihn die Geburt bestimmt habe, statt des Schäferstabes einen Zepter zu führen; und das fürstliche Blut, das in seinen Adern floß, sagte ihm so wenig von irgend einem angebornen Vorzuge vor den Leuten mit denen er lebte, daß er vielmehr einen jeden mit einem Gefühl von Ehrerbietung ansah, welcher besser arbeiten konnte, und also nützlicher war als er. Oft wenn Dschengis den jungen Prinzen, in seinem Kittel von grober Leinwand, mit beschwitzter Stirne von der Feldarbeit zurück kommen sah, lachte er bei sich selbst über die Unverschämtheit jener Schmeichler, welche die Großen der Welt bereden wollen, als ob sogar in ihrem Blute ich weiß nicht was für eine geheimnisvolle Zauberkraft walle, die ihrer ganzen Person und allen ihren Trieben und Handlungen eine gewisse Hoheit mitteile, welche sie von gemeinen Menschen unterscheide und diese letztern zu einer unfreiwilligen Ehrfurcht zwinge. ›Wer dächte, daß dieser junge Bauer ein Königssohn wäre?‹ sagte er zu sich selbst. ›Er ist wohl gebildet; seine Augen sind voller Feuer; seine Züge bezeichnen eine gefühlvolle und wirksame Seele: aber bei dem allen erkennt, außer mir selbst, niemand der ihn sieht etwas anders in ihm, als einen zum Karst und Pfluge gebornen Bauernsohn, und er selbst ist vollkommen überzeugt, daß Hysum, unser Nachbar, ein ungleich besserer Mann ist als er.‹«

»Diese Betrachtung schmeichelt den Fürstensöhnen nicht«, sagte Schach-Gebal, »und ich gestehe, daß ich sie nie gemacht habe; aber nun, da sie gemacht ist, deucht mir, sie hat recht. Die Poeten und Romanschreiber die uns solche Dinge weismachen wollen, verdienten etliche Dutzend Streiche auf die Fußsohlen dafür, denn ich wette, sie glauben selbst kein Wort davon.«

»Der junge Tifan verlor bei der Lebensart, worin ihn sein Pflegevater erzog, die feine Lilienfarbe und das schwächliche Ansehen, welches, wenn er am Hofe zu Scheschian erzogen worden wäre, ihn vermutlich von gemeinen Erdensöhnen unterschieden hätte. Aber er gewann dafür einen starken und dauerhaften Körper, eine männliche Sonnenfarbe, frisches Blut, und Lippen, in welche er nicht nötig hatte zu beißen, um sie röter als reife Kirschen zu machen.

Indessen war der weise Dschengis weit davon entfernt, die angeborne Bestimmung seines Pflegesohns aus den Augen zu verlieren. Tifan hatte ihm zu viel gekostet, als daß er sich hätte begnügen sollen, ihn bloß zu einem guten Landmanne zu bilden; denn alles was der betörte Isfandiar tat, um die Nation so schnell als möglich zu Grunde zu richten, machte es mehr als wahrscheinlich, daß Tifan vielleicht eher als er dazu tüchtig wäre, sich aufgefordert finden könnte, sein Recht an die Krone geltend zu machen. Dschengis setzte sich also nichts Geringeres vor – und der bloße Vorsatz klingt schon widersinnig, so sehr hat er das allgemeine Vorurteil wider sich –, als den jungen Tifan (ohne ihm, bis es Zeit wäre, das Geringste von seinem Vorhaben merken zu lassen) mitten unter lauter Hirten und Ackerleuten zu einem guten Fürsten zu bilden. Überzeugt, daß Güte des Herzens ohne Weisheit eben so wenig Tugend, als Wissenschaft ohne Tugend Weisheit ist, bemühte er sich, zu eben der Zeit, da er sein Gefühl für das Schöne und Gute und jede sympathische und menschenfreundliche Neigung zu nähren und in Fertigkeit zu verwandeln suchte, seinen Verstand von den eingeschränkten Begriffen, die sich von den Gegenständen, die ihn umgaben, in seiner Seele abdruckten, stufenweise zu den erhabnen Ideen der bürgerlichen Gesellschaft, des menschlichen Geschlechts, der Natur, des Ganzen, und seines geheimnisvollen aber anbetenswürdigen Urhebers zu erheben. Alle sittliche Vollkommenheit eines Menschen, zu welchem besondern Beruf er immer geboren sein mag, hängt davon ab, daß diese Ideen in seinem Verstande, und die Gesinnungen, welche sich aus ihnen bilden, in seinem Herzen die Herrschaft führen. Aber für keinen Menschen ist dies unentbehrlicher als für denjenigen, der dazu berufen ist, sittliche Ordnung in irgend einem besondern Teile der allgemeinen menschlichen Gesellschaft zu unterhalten. Wehe seinen Untergebenen und ihm selbst, wenn seine Seele von dem Bilde einer allgemeinen Harmonie und Glückseligkeit nicht in Entzücken gesetzt wird! wenn ihm die Rechte der Menschheit nicht heiliger und unverletzlicher sind als seine eigenen! wenn die Gesetze der Natur, mit tiefen unauslöschlichen Zügen in seine Seele gegraben, ihn nicht in allen seinen Handlungen leiten! Mit Einem Worte, wehe dem Volke, dessen Beherrscher nicht lieber der Beste unter den Menschen als der Mächtigste unter den Königen sein möchte! – Diese Begriffe sind keine Grillen einsiedlerischer Weltbeschauer. Unglücklich genug für das menschliche Geschlecht, wenn sie von den Großen und Mächtigen dafür gehalten werden! Aber die Natur der Dinge hängt nicht, wie das Glück oder Unglück der Menschheit, von den Begriffen der Großen ab. Sie können nicht verhindern, daß die Strafen der Natur nicht unfehlbar auf die Verachtung eines jeden Gesetzes der Natur folgen;»Die vollkommensten Gesetze«, sagte Sokrates, »sind diejenigen, welche man nicht ungestraft übertreten kann, weil sie uns durch die natürlichen und unvermeidlichen Folgen ihrer Übertretung bestrafen«; und er beweiset dem Sophisten Antiphon, daß die Gesetze der Natur, oder, welches eben so viel sei, die allgemeinen Gesetze Gottes, diese unterscheidende Eigenschaft haben. Siehe Xenophons Charakter und merkwürdige Reden des Sokrates B. IV. Die Gesetze der Natur und des gesellschaftlichen Lebens sind die Regel der Könige, von welcher sie niemals ungestraft abweichen können. Die ganze allgemeine Staatsgeschichte ist ein Kommentarius über diese große Wahrheit; und ohne weit in die alten Zeiten zurück zu gehen, wird uns zum Exempel das Leben eines Philipps II. und Ludwigs XIV., der tragische Tod Karls I. von England, und der Fall seines Sohnes Jakobs II. Beispiele genug darstellen, sie zu erläutern und zu bestärken. und wenn die bisherige Gestalt des Erdbodens noch Jahrtausende dauern sollte, so wird die Geschichte aller künftigen Alter sich mit der Geschichte aller vergangenen vereinigen, die Könige zu belehren: daß jeder Zeitpunkt, worin jene großen Grundbegriffe mit Dunkel bedeckt gewesen, jene wohltätigen Grundgesetze nicht für das was sie sind, für das unverletzliche Gesetz des Königs der Könige, anerkannt worden sind, ein Zeitpunkt des öffentlichen Elends, der sittlichen Verderbnis, der Unterdrückung und der allgemeinen Verwirrung, eine unglückliche Zeit für die Völker und eine gefährliche für die Könige gewesen ist.«

Danischmend war, wie wir sehen, in einer vortrefflichen Stimmung, den Königen Moral zu predigen; aber zum Unglück ermangelten seine Predigten niemals, den Sultan seinen Herrn einzuschläfern. Der gute Doktor wollte eben einen neuen Anlauf nehmen, als er gewahr wurde, daß seine Zuhörer, jeder in einer eigenen Stellung, in tiefem Schlummer lagen. »Daß doch meine Moral immer und allezeit eine so narkotische Kraft hat!« sprach er zu sich selbst: »ich begreife nichts davon. Einer von den Zauberern, meinen Feinden, muß die Hand im Spiele haben: es ist nicht anders möglich.«


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