Christoph Martin Wieland
Der goldne Spiegel
Christoph Martin Wieland

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2.

Der Sultan hatte in vielen Wochen nicht so gut geschlafen als auf die erste Vorlesung, womit er von der Sultanin Nurmahal in der letzten Nacht unterhalten worden war: und hätte der Page, der ihn zum Morgengebet zu wecken pflegte, seine Zeit nicht so übel genommen, ihn mitten in einem Traume von dem König Dagobert, dessen Ausgang zu sehen er begierig war, zu unterbrechen, so würde Se. Hoheit den ganzen Tag über bei der besten Laune von der Welt gewesen sein.

Die schöne Nurmahal ermangelte also nicht, sich in der folgenden Nacht zur gewöhnlichen Zeit wieder einzufinden, um die zweite Probe mit ihrem Opiat zu machen, welches zum ersten Male so wohl angeschlagen, und dabei den Vorzug hatte, das unschädlichste unter allen zu sein, die man hätte gebrauchen können.

Wir merken hier ein für allemal an, daß diese Dame, welche vermutlich die Geschichte von Scheschian schon in ihrem eigenen Kabinette gelesen hatte, und, wie man uns versichert, eine Frau von Geist, Belesenheit und Einsicht war, sich im Lesen nicht so genau an den Text gebunden hielt, um nicht zuweilen die Erzählung abzukürzen, oder mit ihren eigenen Reflexionen zu bereichern, oder sonst irgend eine Veränderung im Schwung oder Ton derselben vorzunehmen, je nachdem ihr die gegenwärtige Verfassung und Laune des Sultans den Wink dazu gab. Man erwarte also, daß sie bald in ihrer eigenen Person sprechen, bald ihren Autor reden lassen wird, ohne daß wir nötig finden, jedesmal besondere Anzeige zu tun, wer die redende Person sei; ein Umstand, woran dem Leser wenig gelegen ist, und den wir seiner eigenen Scharfsinnigkeit ruhig überlassen können.

»Ihre Hoheit«, fing sie an, »erinnern Sich des Zustandes, worin wir die Scheschianer gestern verlassen haben. Er war so verzweifelt, daß sie nur von einer Staatsveränderung einige Erleichterung ihres Elendes erwarten konnten. Die Gelegenheit dazu konnte nicht lange ausbleiben. Ogul, der Kan einer benachbarten tatarischen Völkerschaft, ersah sich des Augenblicks, da einige Fürsten aus wenig erheblichen Ursachen den damaligen König vom Throne gestoßen hatten, und über die Erwählung eines neuen sich unter sich selbst und mit den übrigen so wenig vergleichen konnten, daß endlich beinahe so viel Könige, als Scheschian Provinzen hatte, aufgeworfen wurden. Da keiner von diesen Nebenbuhlern den andern neben sich dulden wollte, so erfuhr dieses unglückliche Reich alle Drangsale und Greuel der Anarchie und Tyrannie zu gleicher Zeit: die eine Hälfte der Nation wurde aufgerieben, und die andere dahin gebracht, einen jeden, der sie, auf welche Art es auch sein möchte, von ihren Unterdrückern befreien wollte, für ihren Schutzgott anzusehen. Viele, welche alles hoffen konnten weil sie nichts mehr zu verlieren hatten, schlugen sich auf die Seite des Eroberers; die minder mächtigen Rajas und Großen des Reichs folgten ihrem Beispiel; und die übrigen wurden um so leichter überwältiget, da ihre Uneinigkeit sie verhinderte, mit Nachdruck gegen den gemeinschaftlichen Feind zu arbeiten. Ogul-Kan wurde also in kurzer Zeit ruhiger Besitzer des scheschianischen Reiches. Das Volk, welches in mehr als Einer Betrachtung bei dieser Staatsveränderung gewann, dachte nicht daran, und konnte nicht daran denken, seinem Befreier Bedingungen vorzuschreiben. Die ehmaligen Großen, welche daran dachten, waren nicht mehr die Leute, die sich eine solche Freiheit mit ihrem Überwinder hätten heraus nehmen dürfen, und mußten sich gefallen lassen, selbst das wenige, was ihnen von ihrer verlornen Größe gelassen wurde, als eine Gnade aus seinen Händen zu empfangen. Die Verfassung des neuen Reichs von Scheschian war also diejenige einer unumschränkten Monarchie; das ist, das Reich hatte gar keine Verfassung, sondern alles hing von der Willkür des Eroberers ab, oder von dem Grade von Weisheit oder Torheit, Güte oder Verkehrtheit, Billigkeit oder Unbilligkeit, wozu ihn Temperament, Umstände, Laune und Zufall von Tag zu Tage bestimmen mochten.

Zum Glücke für die Überwundnen war der König Ogul, wie die meisten tatarischen Eroberer, eine ganz gute Art von Fürsten« –

»Wenn es geschehen könnte ohne Sie zu unterbrechen, Madam«, sagte Schach-Gebal, »so möchte ich wohl wissen, was Sie mit Ihrer ganz guten Art von Fürsten sagen wollen?«

»Sire«, erwiderte die schöne Nurmahal, »ich gestehe, daß nichts Unbestimmteres ist als dieser Ausdruck. Das was man gewöhnlich eine ganz gute Art von Fürsten zu nennen pflegt, dürfte wohl öfters eine sehr schlimme Art von Fürsten sein; aber so war es nicht in gegenwärtigem Falle. Ogul-Kan hatte zwar einige beträchtliche Untugenden. Er war so eifersüchtig auf seine willkürliche Gewalt, daß man gar leicht das Unglück haben konnte ihn zu beleidigen; beleidigt war er rachgierig, und in seiner Rache grausam. Außerdem hatte er die schlimme Gewohnheit, alle schöne Frauen als sein Eigentum anzusehen; und, wenn er den Wein weniger geliebt hätte, würde ihm sogar der berühmte Sultan Salomon in diesem Stücke habe weichen müssen. Aber diese Fehler« –

»Es sind sehr wesentliche Fehler«, sagte Schach-Gebal –

»Ohne Zweifel, Sire«, versetzte Nurmahal: »aber wenige Völker und Zeiten sind so glücklich, mit einem Fürsten beseligt zu werden, an welchem selbst seine Fehler liebenswürdig sind; wenn man anders Fehler nennen kann, was allein in dem Übermaß gewisser Vollkommenheiten seine Quelle hat« –

»Kleine Schmeichlerin!« sagte Schach-Gebal, indem er sie sanft auf einen ihrer Arme klopfte, dessen schöne Form ihre weiten zurück geschlagenen Ärmel sehen ließen; ein kleiner Umstand, der die beste Vorlesung am Bette Seiner Hoheit hätte unnütz machen können, wenn Zeit und Gewohnheit unsern Sultan nicht zu einem der vollkommensten Stoiker über diesen Punkt gemacht hätten.

»Diese Fehler also« (fuhr Nurmahal fort) »wurden durch einige sehr wichtige Tugenden vergütet. Ogul-Kan ließ sich die Geschäfte der Regierung sehr angelegen sein; er brachte den Ackerbau in Aufnahme, stellte die zerstörten Städte wieder her, legte neue an, lockte aus benachbarten Staaten die Künste in die seinigen, suchte Talente und Verdienste auf, um sie zu belohnen und Gebrauch von ihnen zu machen, ehrte die Tugend, und konnte es zu gewissen Zeiten wohl leiden, wenn man ihm die Wahrheit sagte.«

»Diese letzte Eigenschaft versöhnt mich wieder mit euerm Ogul«, sagte der Sultan lächelnd. »Wenn er den Wein weniger geliebt hätte, so möchte er einen Platz unter den großen Männern seiner Zeit verdient haben.«Es bedarf kaum der Anmerkung, daß Schach-Gebal der nüchternste Sultan seines Jahrhunderts, und ein tödlicher Feind der Trunkenheit an andern war. Seine Feinde haben nicht unterlassen, auch von dieser Tugend, welche sie ihm nicht absprechen konnten, wenigstens den Wert zu verringern, indem sie ihr alles raubten, was sie hätte verdienstlich machen können. Aber wir finden nicht nötig, die Wirkung ihrer Bosheit durch Anführung ihrer unartigen Vermutungen fortzupflanzen. Der arme Schach-Gebal besaß nicht so viel Tugenden, daß es billig sein könnte, ihm auch die wenigen, die er besaß, zweifelhaft machen zu wollen.

Anmerk. des sines. Übersetzers

»Ogul-Kan besaß bei allen diesen guten Eigenschaften noch eine, die unter den gehörigen Einschränkungen einem Fürsten viel Ehre macht, wofern er unglücklich genug ist, ihrer vonnöten zu haben. Es begegnete ihm in den Aufwallungen seiner Leidenschaften ziemlich oft, ungerecht und grausam zu sein: aber sobald das Übel geschehen war, kam er wieder zu sich selbst, und dann pflegte er sein Haupt nicht eher sanft zu legen, bis er demjenigen, der dadurch gelitten, alle nur mögliche Erstattung getan hatte.«

»Zum Exempel, wie pflegten es wohl Seine Majestät Ogul-Kan zu halten, wenn Sie einem etwa ohne Ursache den Kopf hatten abschlagen lassen?« – fragte Danischmend. »Besaßen Sie vielleicht das Geheimnis der magischen Mundkügelchen, womit der Prinz Thelamir seinem Bruder und der schönen Dely ihre Köpfe wieder aufsetzte, als er sie ihnen aus einem Irrtum der Eifersucht abgeschlagen hatte?«

»Wie begierig der Doktor nach diesem Anlaß schnappt, seine Belesenheit in den Geistermärchen zu zeigen!« flüsterte der junge Mirza dem Sultan zu.

»Danischmend«, sagte der Sultan, »hat den kleinen Fehler, die Freiheit unverschämt zu sein, die ihm als einem Philosophen zusteht, zuweilen zu mißbrauchen. Man muß es mit diesen Herren so genau nicht nehmen. Aber meinen Freund Ogul soll er ungehudelt lassen, wenn anders ein Philosoph eines guten Rates fähig ist.«

»Mit einem Worte«, fuhr Nurmahal fort, »Ogul war bei allen seinen Fehlern ein so ruhmwürdiger Fürst, daß selbst die damaligen Bonzen in Scheschian in die Wette eiferten, Gutes von ihm zu sagen. ›Nichts mangelte ihm, um der beste unter den Königen zu sein‹, sagten sie, ›als daß er, aller Hoffnung ungeachtet, die wir uns von ihm zu machen Ursache hatten, aus der Welt gegangen ist, ohne jemals dem großen Affen ein Opfer gebracht zu haben.‹«

»Wissen Sie auch, meine schön Sultanin«, sagte Schach-Gebal, »daß es nicht mehr bedarf, als was Sie uns eben zu melden beliebten, um Ihren Ogul auf die unwiderbringlichste Weise mit mir zu veruneinigen? Beim Barte des Propheten! der König, von welchem seine Bonzen in die Wette Gutes reden, muß – ich mag nicht sagen was er sein muß. Gehen Sie, gehen Sie, Nurmahal, nichts mehr von Ihrem Ogul! Er muß eine schwache, einfältige, leichtgläubige, hasenherzige Seele gewesen sein; das ist so klar wie der Tag. Seine Bonzen haben ihn gelobt! Welche Demonstration im Euklides beweist schärfer?«

»Wenn es der Philosophie jemals erlaubt sein könnte«, sagte Danischmend mit affektiertem Stottern, »dem König der Könige, meinem Herrn« –

»Nun, Doktor«, unterbrach ihn der Sultan, »laß hören, was du uns im Namen deiner gebietenden Dame zu sagen hast. Ich bin auf eine Impertinenz gefaßt. Nur heraus, aber nicht gestottert, Herr Danischmend, oder ich klingle« –

Der beste Sultan bleibt doch immer Sultan, wie man sieht. Diese Drohung, mit einer gewissen Miene begleitet, welche wenigstens besorgen ließ, daß er fähig sein könnte Ernst daraus zu machen, war nicht sehr geschickt, dem armen Danischmend Mut zu geben. Allein zu seinem Glücke kannte er den Sultan, seinen Herrn. Ohne sich also schrecken zu lassen, sagte er: »Die Philosophie, Sire, ist eine Unverschämte, wie Ihre Hoheit zu sagen geruhet haben; denn sie bedenkt sich keinen Augenblick, den Königen selbst unrecht zu geben, wenn die Könige unrecht haben. Aber in gegenwärtigem Fall ist meine demütige Meinung, Ihre Hoheit und die Philosophie könnten wohl beide recht haben. Das Lob der Bonzen, welches in Ihren Augen der größte Tadel ist den sich Ogul zuziehen konnte, war es unstreitig, wenn es von Herzen ging.Gewissen sinnreichen Köpfen zum besten müssen wir hier eine dreifache Anmerkung machen: nämlich erstens, daß die Worte Bonze, Fakir und Derwisch, so oft sie in dieser Geschichte vorkommen, allezeit in der engsten Bedeutung genommen werden, und weiter nichts bedeuten als Bonzen, Fakirn und Derwischen; zweitens, daß Danischmend hier nicht von allem Verdacht einer schmeichlerischen Gefälligkeit gegen die unbillige Denkungsart seines Herrn frei gesprochen werden könne; und drittens, daß die angebliche Demonstration des Sultans sich augenscheinlich auf einen Trugschluß gründet, und also die Bonzen (welche wir übrigens verteidigen zu wollen weit entfernt sind) keineswegs treffen könne.

Anmerk. des latein. Übersetzers

Gleichwohl konnte, alles wohl erwogen, dem Sultan nicht zugemutet werden, anders zu schließen. Er schloß so: Meine Bonzen reden übel von mir, und ich mache mir eine Ehre aus ihrem Tadel; also ist ihr Lob unrühmlich: denn wär es rühmlich, so wäre mir's Schande, es nicht zu verdienen. Nun ist dies aber ein Gedanke, den ich nicht leiden kann; er ist also falsch; und was von mir gilt, das gilt auch von Ogul-Kan: denn, erweise ich ihm nicht die äußerste Ehre, die nur möglich ist, wenn ich ihn für meinesgleichen gelten lasse? – Diese Art zu schließen läßt sich freilich weder durch die Logik des Aristoteles noch der Herren von Port-Royal rechtfertigen. Aber seit die Welt in ihren Angeln geht, hat die Eigenliebe nie bessere Schlüsse gemacht.

Anmerk. des deutschen Übersetzers

Aber dies ist gerade die Frage; oder vielmehr, es ist keine Frage: denn wie konnte es von Herzen gehen, da sie alles Gute, was sie von ihm sagten, mit einem einzigen Aber wieder zurück nahmen? Was halfen dem guten König Ogul alle seine Tugenden? Ging er nicht aus der Welt, ohne dem großen Affen geopfert zu haben? Ihre Hoheit kennen diese Herren zu gut, um den ganzen Nachdruck eines solchen Vorwurfs nicht zu übersehen.«

»Du gestehst also doch ein«, erwiderte der Sultan, »daß sie ihn bis zum Himmel erhoben haben würden, wenn er sich hätte entschließen können, dem großen Affen zu opfern?«

»Mit Ihrer Hoheit Erlaubnis«, sagte Danischmend, »das gesteh ich nicht ein. In diesem Falle würden sie leicht einen andern Vorwand gefunden haben, ihr heuchlerisches Lob zu entkräften. Ihre Hoheit wissen, daß es nur ein einziges Mittel gibt, den aufrichtigen Beifall der Bonzen zu erlangen, und Ogul (mit aller Ehrerbietung, die ich ihm schuldig bin, sei es gesagt) scheint mir derjenige nicht zu sein, den jemals der Ehrgeiz geplagt hätte, eine so teure Ware zu kaufen

»Wie, wenn ich meinen Iman kommen ließe, die Frage zu entscheiden?« sagte der Sultan.

»Sein Ausspruch läßt sich erraten, ohne daß man darum mehr von der Kabbala zu verstehen nötig hat als andre«, versetzte Danischmend. »Er würde wider die Bonzen sprechen. Wie sollten Bonzen bei einem Iman recht haben können?«

»Ich denke, Danischmend hat sich ganz erträglich aus der Sache gezogen«, sagte Schach-Gebal.

»Ihre Hoheit beweisen durch Ihre Abneigung vor den Bonzen, daß Sie ein guter Musulmann sind«, sprach die schöne Nurmahal. »Aber der Geschichte getreu zu bleiben, muß ich sagen, daß die Bonzen, wenn sie Gutes von Ogul-Kan sprachen, hinlängliche Ursache dazu hatten. Es ist wahr, dieser Prinz betrog eine vielleicht ausschweifende Hoffnung, die sie auf etwas gegründet hatten, was vernünftiger Weise keine Grundlage zu einer solchen Hoffnung sein konnte, ›weil es bloß die Frucht weiser Grundsätze der Regierung war‹. Aber die Achtung, die er, diesen Grundsätzen zu Folge, ihrem Orden bewies; der Schutz, den sie von ihm genossen; und die behutsame Art, womit er in allen Sachen zu verfahren pflegte, die den unvernünftigen, aber nun einmal eingeführten Dienst des großen Affen betrafen; – berechtigten ihn allerdings, wo nicht zur Erkenntlichkeit, doch wenigstens zu einigem Grade von Billigkeit auf Seite der Bonzen. Und gesetzt auch, man wollte ihnen diese Tugend nicht gern ohne Beweis zugestehen; so ist doch zu vermuten, daß sie Klugheit genug hatten, aus Furcht zu tun, was gewöhnliche Menschen aus einem edlern Beweggrunde getan hätten.«

Unter dieser Rede der schönen Nurmahal entfuhr dem Sultan ein Ton, der ein Mittelding zwischen Seufzen und Gähnen war. Der Mirza gab der Dame das abgeredete Zeichen, und sie war im Begriff abzubrechen, als Schach-Gebal, der gerade bei guter Laune war, durch einen Wink zu erkennen gab, daß er ihrer Erzählung noch nicht überdrüssig sei.

»Ogul-Kan«, fuhr sie fort, »hatte etliche Nachfolger, welche über die Schaubühne gingen und wieder verschwanden, ohne irgend etwas so Gutes oder so Böses getan zu haben, daß es der Aufmerksamkeit der Nachwelt zu verdienen schien. Man nannte sie deswegen in den Jahrbüchern von Scheschian die namenlosen Könige; denn die Nation bekam so wenig Gelegenheit ihre Namen zu hören, daß die wenigsten sagen konnten, wie der regierende Sultan heiße. Wenn dieser Umstand der Nachwelt einen nur sehr mittelmäßigen Begriff von den Verdiensten dieser Prinzen gibt: so muß man doch gestehen, daß ihre Zeitgenossen sich vielleicht nicht desto schlimmer dabei befanden. Das Stillschweigen der Geschichte scheint wenigstens so viel zu beweisen, daß Scheschian unter ihrer unberühmten Regierung nicht unglücklich war; und nicht unglücklich sein, ist wenigstens ein sehr leidlicher Zustand« –

»Nur kann er nicht lange dauern«, sagte Danischmend: »denn dieser leidliche Zustand scheint mir bei einem ganzen Volke eben das zu sein, was bei einem einzelnen Menschen der Mittelstand zwischen Krankheit und Gesundheit ist; eines von beiden muß darauf erfolgen; entweder man wird wieder gesund, oder man schmachtet sich zu Tode.«

»Vielleicht würde dies der Fall der Scheschianer gewesen sein«, fuhr Nurmahal fort, »wenn der letzte von diesen namenlosen Königen nicht das Glück gehabt hätte, eine Geliebte zu besitzen, durch welche seine Regierung eine der merkwürdigsten und glänzendsten in der Geschichte dieses Reiches geworden ist.«

»Vortrefflich!« rief Schach-Gebal mit einer Grimasse: »ich liebe die Könige, welche die Erwähnung, so die Geschichte von ihnen tut, ihren Mätressen zu danken haben!«

»Ich muß nicht vergessen, Sire«, sagte die schöne Nurmahal, »daß die Scheschianer in diesem Stück eine Gewohnheit haben, worin sie, so viel ich weiß, von allen übrigen Völkern des Erdbodens abgehen; eine Gewohnheit, welche die Zahl der namenlosen Könige bei allen Nationen beträchtlich vermehren würde, wenn sie allenthalben eingeführt wäre. Nichts, was unter der Regierung eines Königes geschah, wurde dem Könige zugeschrieben, wofern er es nicht selbst getan hatte. Vortreffliche Gesetze und Anstalten konnten gemacht, Schlachten gewonnen, Provinzen erobert, oder (was wenigstens eben so gut ist) erhalten und verbessert werden, ohne daß der Ruhm des Königes den kleinsten Zuwachs dadurch erhielt. Alles was geschah, Gutes oder Böses, wurde demjenigen zugeschrieben der es getan hatte; und der König, der nichts getan hatte, war und blieb ein namenloser König, gesetzt auch, daß zu seiner Zeit die größten Dinge in seinem Reiche geschehen wären.«

»Nichts kann billiger sein«, sagte der Sultan. »Jedem das Seine! Einem Fürsten das Gute zuschreiben, das seine Minister tun (ich nehme den Fall aus, wo sie bloß die Werkzeuge, oder so zu sagen die Gliedmaßen sind, durch welche er, als die Seele des ganzen Staatskörpers, wirket) wäre eben so viel, als ihm ein Verdienst aus der Fruchtbarkeit seiner Länder zu machen, weil er die Sonne scheinen und Regen fallen läßt.«

Nurmahal, Danischmend und der junge Mirza erteilten dieser Anmerkung ihren Beifall in vollem Maße, und mit aller der Bewunderung, welche sie um so mehr verdiente, da sie wirklich uneigennütziger war, als Schach-Gebal selbst sich vielleicht schmeicheln mochte.

»Der gute König von Scheschian«, fuhr Nurmahal in ihrer Erzählung fort, »der zu dieser in dem Munde eines großen Monarchen so preiswürdigen Anmerkung Gelegenheit gegeben hat, was auch sein Name gewesen sein mag, verdient wenigstens das Lob eines guten Geschmacks in der Wahl seiner Günstlinge; denn die schöne Lili, seine Favoritin, war aus allem, was eine Person unsers Geschlechtes liebenswürdig machen kann, zusammen gesetzt. Und sollten ihr auch die Dichter, Maler, Bildhauer und Schaumünzenmacher ihrer Zeit geschmeichelt haben, so ist doch nicht zu leugnen, daß die Nation Ursache hatte, ihr Andenken zu segnen. Niemals ist eine größere Gönnerin der Künste gewesen, als die schöne Lili. Sie führte den Seidenbau in Scheschian ein, und zog eine Menge persischer, sinesischer und indischer Künstler herbei, welche durch ihren Vorschub alle Arten von Manufakturen zu Stande brachten. Die Scheschianer lernten unter ihrer Regierung – dies ist der eigene Ausdruck der Geschichtschreiber – Bequemlichkeiten und Wollüste kennen, von welchen die meisten noch keinen Begriff gehabt hatten. Man glaubte ihr den Genuß eines neuen und unendliche Mal angenehmern Daseins zu danken zu haben. Sie brachte die Schätze in einen belebenden Umlauf, die in den Schatzkammern der vorigen Könige, wie die Leichen der Pharaonen in ihren Pyramiden, auf eine unnützlich prahlerhafte Weise begraben lagen. Ihr Beispiel reizte die Großen und Begüterten zur Nachahmung. Die Hauptstadt bildete sich nach dem Hofe, und die Städte der Provinzen nach der Hauptstadt. Erfindsamkeit und Fleiß bestrebten sich in die Wette, den ganzen Staat in eine so lebhafte als heilsame Tätigkeit zu setzen; denn Erfindsamkeit und Fleiß war der gerade Weg zu Überfluß und Gemächlichkeit, und wer wünscht nicht so angenehm zu leben als möglich? Die wohltätige Lili machte die Einwohner von Scheschian auch mit den Reizungen der Musik und der Schauspiele bekannt; und so nachteilig in der Folge alle diese Geschenke ihrem Wohlstande wurden, so unleugbar ist es, daß sie anfangs eine sehr gute Wirkung taten. So wie sich das Gefühl der Scheschianer verfeinerte, so verschönerten sich auch zusehens ihre Sitten. Man wurde geselliger, sanfter, geschmeidiger, man vertrug sich besser, man lernte sich mit einander freuen, und fühlte sich selbst desto glücklicher, je größer die Menge der Glücklichen war, die man um sich sah, und so weiter; – denn es würde sehr unnötig sein, Ihrer Hoheit alle die guten Wirkungen des Geschmacks und der Künste vorzuzählen, von welchen Sie Selbst ein so großer Kenner und Beförderer sind. Freilich gab es hier und da milzsüchtige, zur Freude untüchtig gewordene Leute, die ein klägliches Geschrei über diese Neuerungen erhoben. ›Welche Greuel!‹ riefen sie, indem sie ihre übel gekämmten Köpfe mit Unglück-weissagender Miene schüttelten. ›Was werden die Früchte davon sein? Diese Liebe zu Gemächlichkeiten und Ergetzungen, dieser verfeinerte Geschmack, dieser herrschende Hang zur Sinnlichkeit, wird die Nation zu Grunde richten. Üppige Feiertage werden den Gewinn der arbeitsamen Tage, üppiger Aufwand den Überfluß der sparsamen Mäßigkeit verzehren; die Wollust wird den Müßiggang, der Müßiggang die ganze verderbliche Brut der Laster herbei ziehen. Die Reichen werden unersättlich werden, und bei aller Verfeinerung ihrer Empfindungen sich kein Bedenken machen, von dem Eigentume der Armen, so viel sie nur können, in ihren Strudel hinein zu ziehen. Die Armen werden eben so wenig gewissenhaft sein, alles, wie ungerecht und schändlich es immer sein mag, zu tun und zu leiden, wenn es nur ein Mittel abgeben kann, sich in den beneideten Zustand der Reichen zu schwingen. Ungeheuer von Lastern, unnatürliche Ausschweifungen, Verräterei, Giftmischerei und Vatermord werden durch ihre Gewöhnlichkeit endlich das Abscheuliche verlieren, das sie für die unverdorbene Menschheit haben; und nicht eher, als bis die Nation unwiederbringlich verloren ist, wird man gewahr werden, daß die schöne Lili die zauberische und geliebte Urheberin unsers Verderbens war.‹

Einige alte Leute, die im Laufe von sechzig oder siebzig Jahren weislich genug gelebt hatten, um im Alter noch nicht allem Anteil an den Freuden des Lebens entsagen zu müssen, sahen die Sache aus einem andern Gesichtspunkt an. – ›Unsere milzsüchtigen und nervenlosen Brüder haben nicht ganz unrecht‹, sagten sie: ›Ergetzungen und Wollüste können, als die Würze des Lebens, durch übermäßigen Gebrauch nicht anders als schädlich sein. Die Natur hat sie zur Belohnung der Arbeit, nicht zur Beschäftigung des Müßiggangs bestimmt. Gleichwohl ist unleugbar, daß nicht die schöne Lili, sondern die Natur selbst, die Zaubrerin ist, die uns diesen göttlichen Nektar darreicht, den sie mit eigenen Händen für uns zubereitet hat, und wovon etliche Tropfen genug sind, uns aller Mühseligkeiten des Lebens vergessen zu machen. Oder ist es nicht die Natur, die den Menschen von einem Grade der Entwicklung zum andern fortführt, und, indem sie durch die Bedürfnisse seine Einbildungskraft und durch die Einbildungskraft seine Leidenschaften spielen macht, diese vermehrte Geselligkeit, dieses verfeinerte Gefühl, diese Erhöhung seiner empfindenden und tätigen Kräfte hervorbringt, wodurch der Kreis seiner Vergnügungen erweitert, und seine Fähigkeit, des Daseins froh zu werden, mit seinen Begierden zugleich vermehrt wird? Laßt uns also der Natur folgen; einer Führerin, die uns unmöglich irre führen kann! Nicht sie, – unsre Ungeduld, unsre Gierigkeit im Genießen, unsre Unachtsamkeit auf ihre Warnungen, ist es, was uns auf Abwege verleitet. Jede höhere Stufe, welche der Mensch betritt, erfodert eine andere Lebensordnung; und eben darum, weil der große Haufe der Sterblichen als unmündig anzusehen ist, und sich nicht selbst zu regieren weiß, muß er dieses Amt einer gesetzgebenden Macht überlassen, welche immer das Ganze übersehen, und ihren Untergebenen, mit jeder merklichen Veränderung ihrer Umstände, auch die darnach abgemessenen Verhaltungsregeln vorschreiben soll. Es lebe die schöne Lili! Sie hat sich ein Recht an unsre Dankbarkeit erworben, denn sie hat uns Gutes getan. Aber wenn sie sich nun auch gefallen lassen wollte, uns eine so vollkommene Polizei zu geben, als wir bedürfen, wenn uns ihre Geschenke nicht verderblich werden sollen: dann verdiente sie, wenigstens so gut als der große Affe, daß wir ihr Pagoden erbaueten!‹

Die schöne Lili hüpfte auf dem blumichten Wege fort, auf den eine wollüstige Einbildungskraft sie geleitet hatte, ohne sich um die Drohungen der einen, noch um die Warnungen der andern zu bekümmern. Sie genoß des Vergnügens, der Gegenstand der Liebe und Anbetung einer ganzen Nation zu sein. Umflattert von Freuden und Liebesgöttern, goß sie überall, so weit ihre Blicke reichten, süßes Vergessen aller Sorgen, Entzücken und Wonne aus. Hierin schien sie ihre eigene vollkommenste Befriedigung zu finden. Aber ihre Wohltätigkeit erstreckte sich nur auf den gegenwärtigen Augenblick. Ihre Sinnesart teilte sich unvermerkt der ganzen Nation mit, welches um so leichter geschehen mußte, da keine andre dem Menschen natürlicher ist. Man genoß des Lebens, und niemand dachte an die Zukunft

»Ich liebe diese Lili«, rief der Sultan in einem Anstoß von Lebhaftigkeit, den man seit langer Zeit nicht an ihm bemerkt hatte. »Ich muß bekannter mit ihr werden. Gute Nacht, Mirza und Danischmend! Nurmahal soll da bleiben, und mir das Bildnis der schönen Lili machen.«


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