Christoph Martin Wieland
Der goldne Spiegel
Christoph Martin Wieland

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11.

Danischmend setzte also die Geschichte der Regierung Azors folgender Maßen fort.

»Die kläglichste unter allen den Schwachheiten, welche den Ruhm des guten Königs Azor verdunkeln, war seinem Alter aufbehalten: eine Schwachheit, welche desto verführerischer ist, weil sie einer Tugend ähnlich sieht; desto schädlicher, weil sie Böses aus guter Absicht tut, und desto schwerer zu vermeiden, da selbst der Weiseste aller morgenländischen Könige nicht weise genug war, sich ihrer zu erwehren.«

»Dies nennt man, denke ich, ein Rätsel«, sagte Schach-Gebal. »Ich bilde mir eben nicht ein, in der Kunst Rätsel aufzulösen dem Sultan, dessen du eben erwähntest, gleich zu kommen: aber diesmal wollt ich doch raten, daß die Schwachheit des großen Azors, die du uns noch aufbehalten hast, entweder Bigotterie ist, oder doch etwas das ihr sehr ähnlich sieht. Hab ich es getroffen, Doktor?«

»Zum Erstaunen«, erwiderte Danischmend, indem er in seinen Ton und in seine Gesichtsmuskeln alle die Bewunderung brachte, die er der Scharfsinnigkeit seines gebietenden Herren schuldig war. »Es waren nun zwanzig Jahre«, fuhr er fort, »seitdem die schöne Alabanda eine unbegrenzte Gewalt über das Herz, über den Hof und über die Schatzkammer des Sultans von Scheschian usurpierte. Gewohnheit und Sättigung hatten ihre Bezauberung endlich aufgelöst; und Alabanda sah die Zeit kommen, wo sie sich in der traurigen Notwendigkeit befand, zuzugeben, entweder daß Azor aufgehört habe empfindlich, oder daß sie selbst aufgehört habe reizend zu sein.«

»Als ob nicht beides zugleich hätte Platz haben können«, sagte die schöne Nurmahal.

»Wenigstens«, versetzte der Doktor, »war es natürlicher an ihr, das erste zu glauben.«

»Und an Azorn das andre«, sagte der Sultan mit einem spitzfündigen Lächeln.

»Wie dem auch sein mochte«, fuhr Danischmend fort, »die gute Dame beging den Fehler, einen Zufall, den man nach Verfluß von zwanzig Jahren einen von den natürlichsten in der Welt nennen kann, für eine unerträgliche Beleidigung anzusehen. So unbillig dies scheinen mag, so unbesonnen war es, den guten Sultan, welcher wirklich ganz unschuldig an der Sache war, so oft er lange Weile hatte (und dies war sehr oft), mit Vorwürfen von Untreue und Undankbarkeit, und mit allen tragikomischen Wirkungen der Eifersucht und bösen Laune zu verfolgen. Denn was konnte sie anders von einem solchen Betragen erwarten, als – gerade das, was wirklich erfolgte? nämlich, daß er die alte Abgöttin seiner Seele, die er seit geraumer Zeit kaum noch liebenswürdig fand, in kurzem unerträglich finden mußte. Von diesem Augenblick an hatte die Regierung der schönen Alabanda ihr Ziel erreicht. Azor suchte nun im Wechsel eine Glückseligkeit, an welche sein Herz gewöhnt war: er zerstreute sich dadurch eine Zeit lang; aber die Befriedigung fand er nicht, die ein reizbares Herz von den Sinnen, oder von den launischen Einfällen einer herum flatternden Phantasie vergebens erwartet. Er wurde also dieser Wanderungen des Herzens um so viel eher überdrüssig, da ihn Lili und Alabanda angewöhnt hatten, von weiblichen Köpfen, aber von den feinsten und witzigsten weiblichen Köpfen, regiert zu werden.

Die Freiheit, worin die gefälligen Schönen seines Hofes ihn wider seinen und ihren Willen ließen, machte ihm sein Dasein zur beschwerlichsten Last. Mehr als einmal versuchte er's, die schöne Alabanda wieder so reizend und zauberisch zu finden, als sie es gewesen war: aber der unglückliche Erfolg seiner Bemühungen überzeugte ihn zuletzt, daß sie wirklich aufgehört haben müsse es zu sein; und wozu konnt es ihm helfen, das Unmögliche bewerkstelligen zu wollen?

In dieser Verfassung befand sich Azor, als es der persischen Tänzerin, deren bereits in dieser Geschichte Erwähnung geschehen ist, gelang, ihn die Erfahrung machen zu lassen, daß er den ganzen Zirkel der Torheiten, zu welchen ihn die Schwäche seines Herzens fähig machte, noch nicht durchlaufen habe. Diese Kreatur hatte durch ihre Reizungen und durch die Freigebigkeit ihrer Verehrer Mittel gefunden, die Flecken ihres vormaligen Standes auszulöschen, und nach und nach sich bis zum Rang einer Vertrauten der Sultanin Alabanda empor zu schwingen. In dieser Stellung fand Gulnaze (so hieß die verwandelte Tänzerin) häufige Gelegenheiten, die Reizungen ihres Witzes und ihrer äußerst angenehmen Unterhaltung vor den Augen des Sultans auszulegen; Reizungen des Geistes, welche mächtig genug waren, in ihrer Gesellschaft vergessen zu machen, daß ihre ersten Liebhaber bereits ehrwürdige Graubärte vorstellten. Nicht als ob sie nicht noch immer liebenswürdig gewesen wäre; aber, nachdem sie sich einmal unter der Maske der Freundschaft in Azors Herz hinein gestohlen, würde sie es auch mit der Hälfte ihrer noch übrigen Annehmlichkeiten in den Augen eines so reizbaren Potentaten gewesen sein. Kurz, Azor, der ohne sie die lange Weile, die ihm Alabanda und alle andre Schönen seines Hofes verursachten, unausstehlich gefunden haben würde, machte auf einmal die Entdeckung, daß er nicht ohne Gulnaze leben könne. Unvermerkt hatte sie sich aller Zugänge seines Herzens bemächtiget; und eben so unmerklich wurde sie aus einer Vertrauten die unumschränkteste Beherrscherin seiner Neigungen. Keine ihrer Vorgängerinnen hatte so viel Gewalt über ihn gehabt; aber keine hatte ihn auch so wenig fühlen lassen, daß er Fesseln trug. Alabanda hatte ihn durch die Zauberkraft ihrer Reizungen beherrscht: Gulnaze regierte ihn durch die vollkommene Kenntnis der schwachen Seite seines Kopfes und seines Herzens. Was Wunder, daß ihre Herrschaft vollständig und dauerhaft war!«

»Wohl angemerkt, Danischmend!« flüsterte Nurmahal lächelnd.

»Finden Sie das?« sagte der Sultan, indem er sie auf die Schulter klopfte.

»Der Eifer, den Gulnaze vor mehr als zwanzig Jahren, da ihr Einfluß nur noch mittelbar war, für die Sache des blauen Affen gezeigt hatte, verdoppelte sich itzt, da das königliche Ansehen in ihren Händen lag. Die Blauen faßten neuen Mut, und glaubten zu den ausschweifendsten Hoffnungen berechtigt zu sein. Was die Neigung der Favoritin zu der neuen Sekte am stärksten unterhielt, war der schlaue Einfall, den ein Ya-faou von den Freunden des Oberbonzen Kalaf gehabt hatte, eine Art von religiösen Festen zu erfinden, wobei die Sinne zum Behuf einer fanatischen Andacht auf die angenehmste Weise unterhalten wurden. Die Einführung derselben war der letzte tödliche Streich, welchen Kalaf den Feuerfarbnen beibrachte, deren Andachtsübungen mehr Finstres und Schreckendes als Angenehmes oder Herzrührendes hatten. Die Anzahl der Blauen vermehrte sich nun täglich; Azor selbst fand immer mehr Geschmack an den Andachten seiner Geliebten; und es währte nicht lange, so fielen alle andre Arten von Ergetzungen. Man lud einander auf eine Partie in der blauen Pagode ein, wie vormals zu einer Lustreise aufs Land oder zu einem Maskenball. Unvermerkt wurde ein gewisser Schnitt von Devotion ein unterscheidendes Merkmal der Hofleute, und jedermann, wer an Erziehung und Lebensart Anspruch machte, bestrebte sich, sie zu kopieren so gut er konnte. Wäre dies die schlimmste Wirkung des Einflusses der schönen und devoten Gulnaze gewesen, so hätte man Ursache gehabt von Glück zu sagen; die Erheiterung des scheschianischen Aberglaubens möchte den Übergang zu einer gründlichen Verbesserung vielmehr befördert als gehindert haben. Aber die Lebhaftigkeit ihrer Leidenschaften erlaubte ihr nicht der Zeit zu überlassen, was sie durch Zwangsmittel in einem Augenblicke zu bewerkstelligen hoffte. Nicht zufrieden, die Feuerfarbnen so weit herunter gebracht zu haben, daß sie sich glücklich genug schätzten, wenn sie nur geduldet wurden, tat sie dem Tsao-Faou ein feierliches Gelübde, nicht eher zu ruhen, bis sie Scheschian von allen Anhängern seines Nebenbuhlers gereinigt haben würde. Ein königlicher Befehl diente zum Vorwand, alle, welche sich weigerten dem blauen Affen zu opfern, als Ungehorsame, und bei dem geringsten Widerstand als Aufrührer, mit einer Härte zu bestrafen, welche endlich den Blauen selbst anstößig wurde. Grausamkeiten, wovor der Menschlichkeit grauet, und wovon zu wünschen wäre daß sie ohne Beispiele sein möchten, wurden, ohne Azors Wissen, in seinem Namen ausgeübt, und sind das einzige was die letzten Jahre seiner Regierung der Vergessenheit entzogen hat; bis er endlich, beladen mit dem allgemeinen Hasse seines Volkes, zu spät für seinen Ruhm vom Schauplatz abtrat. Ein denkwürdiges Beispiel, daß ein Fürst mit allen Eigenschaften eines liebenswürdigen Privatmannes, mit wenig Lastern und vielen Tugenden, durch den bloßen Mangel fürstlicher Eigenschaften so viel Böses stiften kann als der greulichste Tyrann. Azor war weder ehrgeizig noch begierig nach dem Eigentum seiner Untertanen, weder launisch, noch hartherzig, noch grausam. Weit entfernt zu verlangen, daß seine unüberlegtesten Einfälle für Gesetze und Göttersprüche gelten sollten, oder, wie viele seines Standes, sich einzubilden, daß Scheschian bloß um seinetwillen aus dem Chaos hervorgegangen sei, und seine Untertanen für eben so viele Sklaven anzusehen, deren Glück oder Unglück, Sein oder Nichtsein, nur in so fern als es sich auf seinen Vorteil beziehe, in Betrachtung komme, – war er der leutseligste, der mitleidigste und wohltätigste Fürst seiner Zeit. Unwissenheit in den Pflichten seines Standes, Unwissenheit in der Kunst zu regieren, wollüstige Trägheit, und allzu großes Vertrauen zu seinen Günstlingen, die er als seine Wohltäter ansah, weil sie ihm die Last der Regierung abnahmen, Fehler der Erziehung, Schwachheiten des Herzens und des Temperaments, nicht Laster waren es, die ihm die Liebe seiner Völker und die Hochachtung der Nachwelt entzogen haben. Seine größten Fehler waren, daß er mit eignen Augen bloß durch fremde sah; daß seine Ohren nur angenehme Dinge hören wollten; daß er nur sprach was man ihm auf die Zunge legte; und, wenn er auch, entweder durch die natürliche Schärfe seines Geistes, oder durch die Bemühungen irgend eines ehrlichen Narren, der seinen Kopf wagte ihm die Augen zu öffnen, zuweilen eine gute Entschließung faßte, – zu viel Mißtrauen gegen seine eigenen Einsichten und zu viel Gefälligkeit für seine Günstlinge hatte, um seiner Entschließung treu zu bleiben. Indessen muß man gestehen, daß auch das Schicksal nicht ohne alle Schuld an den Fehlern seiner Regierung war. Die Gebrechen und Untugenden Azors würden wenig geschadet haben, wenn es lauter weise und tugendhafte Personen um ihn her versammelt hätte. Er würde solche Leute, wenn sie übrigens eben so witzig und unterhaltend gewesen wären als seine Günstlinge, eben so wert gehalten haben, sich ihnen eben so gänzlich überlassen haben, und Scheschian würde glücklich gewesen sein. Aber freilich zeigt uns die Geschichte des ganzen Erdkreises kein einziges Beispiel, daß ein schwacher und untätiger Fürst, durch einen Schlag mit einer Zauberrute, bei seinem Erwachen auf einmal von lauter Walsinghams und Süllys umgeben gewesen wäre, und wir sind wohl nicht berechtigt, ein solches Wunder vom Schicksal zu erwarten.«


Ende des ersten Teils


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