Christoph Martin Wieland
Der goldne Spiegel
Christoph Martin Wieland

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Der goldne Spiegel
oder
Die Könige von Schechian

Zweiter Teil

1.

»Herr Danischmend, ein paar Worte, ehe wir weiter gehen«, sagte der Sultan. »Wenn es ohne der historischen Wahrheit Gewalt anzutun, geschehen könnte, daß du uns auf diesen Azor, der (unter uns!) die Erlaubnis schwach zu sein ein wenig zu sehr mißbraucht, diesen Abend einen guten König gäbest, so würdest du mir keinen kleinen Gefallen erweisen. Ich weiß wohl, die Geschichte soll den Fürsten nicht schmeicheln; und dies aus einem gedoppelten Grunde: erstens, weil es genug ist, daß uns in unserm Leben geschmeichelt wird; und dann, weil die Wahrheit, die man nach unserm Tode von uns sagt, uns nicht mehr schaden, der Welt hingegen nützen kann. Aber ich möchte doch auch nicht, daß es so heraus käme, als ob ich mir alle Abende in meinem Schlafzimmer eine Satire auf die Sultanen von Scheschian machen ließe. Ich erinnere mich irgendwo gelesen zu haben, ein Mensch sollte nichts, was einen Menschen angeht, für fremd ansehen; und ich sehe nicht ab, warum wir Sultanen uns nicht in dem nämlichen Falle befinden sollten. Mit Einem Worte, ich interessiere mich für die Sache, und dies ist, denke ich, genug.«

»Ihre Hoheit befehlen also daß ich den Sultan Isfandiar überhüpfe?« fragte Danischmend –

»Eine weise Frage!« antwortete Schach-Gebal. »Ich muß doch wohl zuvor wissen, wer Sultan Isfandiar war, eh ich sie beantworten kann!«

»Er war Azors unmittelbarer Nachfolger, sein einziger Sohn von der schönen Alabanda, und einer von den scheschianischen Sultanen, deren Regierung einer förmlichen Satire auf böse Fürsten ähnlich sieht.«

»Er war also noch schlimmer als Azor?«

»Um Vergebung, Sire! Azor war in der Tat kein böser Fürst; er war nur schwach. Isfandiar hingegen« – –

»Gut, gut«, fiel ihm der Sultan ins Wort: »wir wollen immerhin Bekanntschaft mit ihm machen, wenn es auch nur wäre, weil er ein Sohn der schönen Alabanda war, die ich, bei allem Bösen was du uns von ihr sagtest, dennoch sehr liebenswürdig finde. Und aus eben diesem Grunde ersuch ich dich, den armen Isfandiar so leicht davon kommen zu lassen als du immer kannst.«

»Wofern« (sagte Danischmend) »unter dem Worte Satire eine Rede oder Schrift verstanden wird, worin man zur Absicht hat jemanden verhaßt oder lächerlich zu machen: so verhüte der Himmel, daß mir jemals der Gedanke einfalle, eine Satire auf Fürsten zu machen, und wenn es auch nur über den König Tonos Konkoleros, oder einen der alten Pharaonen in Ägypten wäre. Aber unglücklicher Weise hat es unter den Großen zu allen Zeiten einige gegeben, deren Leben eine Satire auf sie selbst war; ich will sagen, die sich durch ihre Torheiten verächtlich und durch den Mißbrauch ihrer Gewalt verhaßt gemacht haben, ohne daß der Biograph, der den Auftrag erhielt ihre Geschichte zu erzählen, die mindeste Schuld an der Sache hatte. Ich besorge, der Sultan Isfandiar war in diesem Falle, und daher« – –

»Immerhin!« rief der Sultan: »das Böse, das du von ihm sagen wirst, bleibt unter uns. Erinnere dich nur, daß ich unnötige Vorreden hasse.«

»Sire« (fing Danischmend an), »Isfandiar war, wie gesagt, Azors und Alabandens einziger Sohn, und der jüngste von verschiedenen, welche seine Sultaninnen ihm geboren hatten. Er wurde, ungeachtet der Entfernung seiner Mutter von dem Herzen des Königes, bei Hof erzogen – wie die scheschianischen Prinzen damals erzogen zu werden pflegten.«

»Dies ist gerade, was wir wissen wollen«, sagte Schach-Gebal.

»Er hatte die geschicktesten Lehrmeister in allen den Wissenschaften und Künsten, welche sich (wie man zu sagen pflegt) für einen Prinzen schicken. Er lernte von der Mathematik so viel, daß er ein Dreieck kunstmäßig von einem Viereck unterscheiden konnte. Er wußte, zum Beweise seiner geographischen Kenntnisse, die Namen aller Flüsse, Seen, Berge, Provinzen und Städte von Scheschian herzusagen; und, um eine Probe seiner Stärke in der Philosophie zu geben, verteidigte er in seinem dreizehnten Jahre öffentlich einen sehr tiefsinnigen Beweis, daß ein Ding – ein Ding ist, und so lang und so fern als es ist was es ist, nicht zugleich etwas andres sein kann als es ist. Sein Lehrer in der Staatswissenschaft hatte nichts Angelegeners, als ihm die ausgebreitetste Kenntnis von dem Umfang und den Rechten der höchsten Gewalt, und von den unzählbaren Mitteln und Wegen, wie man sich mit guter Art des Eigentums seiner Untertanen bemächtigen kann, beizubringen. Hingegen nahm sich sein Lehrer in der Moral sehr in Acht, die Zärtlichkeit seines Ohres durch Erwähnung des unangenehmen Wortes Pflichten zu beleidigen. Er bildete sich ein, es vortrefflich gemacht zu haben, wenn er dem Prinzen, in zierlich gedrehten Perioden oder durch rührend ausgemalte Beispiele, Gerechtigkeit und Wohltätigkeit als die höchsten Tugenden eines Fürsten vorschilderte. Aber der Ton, worin er von diesen Tugenden schwatzte, das unbesonnene und übertriebene Lob, womit er einige Fürsten wegen ziemlich zweideutiger Handlungen dieser Art unter die Götter versetzte, mußte natürlicher Weise eine verkehrte Wirkung bei seinem Untergebenen tun. Der junge Isfandiar machte sich von Gerechtigkeit und Wohltätigkeit einen Begriff, der für das Glück seiner künftigen Untertanen gänzlich verloren ging. Er glaubte, die Ausübung dieser Tugenden hange bloß von seiner Willkür ab; und er mutmaßte auch nicht von ferne, daß sie allein durch ihre unzertrennliche Verbindung zu Tugenden werden, und daß die unermüdete Bestrebung, beide in dem ganzen Umfang des Regentenamtes auszuüben, eine so wesentliche Fürstenpflicht sei, daß derjenige, welcher sie funfzig Jahre lang in der höchsten Vollkommenheit ausgeübt hätte, beim Schlusse seines Lebens kein andres Lob verdient hätte, als das Zeugnis seine Schuldigkeit getan zu haben. Kurz, der höfische Mentor hatte keinen Begriff davon, daß man einem jungen Fürsten die Ausübung aller Tugenden, von welchen das Wohl seiner Untergebenen und die möglichste Vollkommenheit seines Staates abhängt, unter der Gestalt von Verbindlichkeiten vorstellen müsse, deren Forderungen eben so dringend als unverletzlich sind; es sei nun, daß man sie von den Gesetzen des höchsten Wesens, als des Königs über die Könige, oder von einem gesellschaftlichen Vertrag ableite, vermöge dessen derjenige, der die meisten Rechte zu haben scheint, gerade der ist, der die meisten Pflichten hat.«

»Ohne Unterbrechung, Herr Doktor«, sagte der Sultan: »ich sollte doch denken, der Sittenlehrer des jungen Prinzen Isfandiar habe nicht so ganz unrecht gehabt, ihm das, was ihr die Pflichten der Fürsten nennt, unter einer gefälligen Gestalt zu zeigen. Das Wort Pflicht ist ein hartes Wort: es hat für die Untertanen selbst einen widrigen Ton; wie sollten wir andere unsere Ohren daran gewöhnen können? Wir werden die Tugend immer liebenswürdiger finden, wenn unsere Neigung zu ihr freiwillig ist, als wenn sie uns mit Gewalt aufgebürdet wird.«

»Um Vergebung, gnädigster Herr«, erwiderte der freimütige und unhöfische Danischmend. »Es gibt ein weniger gefährliches Mittel uns unsere Pflichten angenehm zu machen. Anstatt uns zur Tugend durch Lobeserhebungen anzuspornen, welche die Ausübung unserer Schuldigkeit zu einem Gegenstande der Ruhmsucht und Eitelkeit machen, würde besser getan sein, uns zu überzeugen, daß die Vollziehung unsrer Pflichten mit den unmittelbarsten und wichtigsten Vorteilen und mit dem reinsten Vergnügen verbunden ist. Immerhin mag auch des Ruhmes, als des natürlichen Begleiters guter Taten, erwähnt werden. Aber zu bedauern ist der Fürst, dessen Herz nicht empfindsam genug ist, das Vertrauen und die Liebe seines Volkes allen Lobgedichten, Ehrendenkmälern, Bildsäulen, Schaumünzen und Inschriften vorzuziehen, womit Dankbarkeit oder Schmeichelei seine Taten verewigen können. Wie wenig wahre Befriedigung können ihm diese geben! denn wie oft sind sie nicht an Tyrannen und namenlose Könige verschwendet worden!«

»Danischmend hat nicht ganz unrecht«, sagte der Sultan, der diesen Abend in der Laune war, seinen Philosophen schwatzen zu hören: »der Moralist des Prinzen Isfandiar war, wie es scheint, ein zu guter Höfling, um ein guter Sittenlehrer zu sein.«

»Gleichwohl« (fuhr Danischmend fort) »war sein Lehrer in der Geschichte noch schlimmer, wiewohl unstreitig der gelehrteste Mann in seiner Art, den man im ganzen Reiche hatte finden können. Die Geschichte war das Lieblingsstudium des Prinzen, und wirklich erwarb er sich eine Fertigkeit darin, womit er bei tausend Gelegenheiten sich und seinem Lehrer Ehre machte. Dieser erhielt zur Belohnung die Stelle eines königlichen Geschichtschreibers mit einer großen Pension. Konnte der gute Sultan Azor sich einfallen lassen, daß der Mann, den er so edel belohnte, die Oberstelle auf einer Ruderbank verdient habe? Und doch war nichts gewisser.

Das Amt eines Lehrers der Geschichte bei einem jungen Fürsten erfodert einen Mann, der mit der wärmsten Rechtschaffenheit einen tief sehenden und viel umfassenden Blick, und das reinste sittliche Gefühl mit der scharfsinnigsten Unterscheidungskraft vereiniget. Keine geringern Eigenschaften setzt die vollkommene Gerechtigkeit voraus, welche er in Zeichnung der Charakter und in Beurteilung der Handlungen, sowohl aus dem sittlichen als politischen Gesichtspunkt, auszuüben hat. Er muß (wenn es mir erlaubt ist, mich durch ein Beispiel verständlicher zu machen) in Alexandern einen dieser außerordentlichen Sterblichen erkennen, welche die Natur zu Ausführung ungewöhnlich großer Dinge gebildet hat; welche, wie die Götter Homers, eine Mittelklasse zwischen Menschen und höhern Wesen ausmachen, und daher in ihren Lastern wie in ihren Tugenden mehr als gewöhnliche Menschen sind. Er muß jedem seiner Vorzüge, jeder seiner Tugenden ihr Recht widerfahren lassen, ohne seiner Laster um jener willen zu schonen, oder die Schönheit von jenen um dieser willen zu mißkennen. Er muß fähig sein, in dem großen Entwurfe dieses wohltätigen Eroberers einen ganz andern Geist zu entdecken, als derjenige war, der die Attilas antrieb den Erdboden zu verheeren. Er muß einem Manne, der zum Beherrscher der Welt geboren war,So wie der Vernünftige natürlicher Weise des Toren Meister ist, so hat der vollkommenste Mann ein angebornes Recht über die übrigen zu herrschen: es ist ein Gesetz der Natur, sagte Aristoteles, der Lehrer des größten unter den Königen. aus der erhabenen Leidenschaft, große Taten zu tun, kein Verbrechen machen; einer Leidenschaft, welche an einem kleineren Geist Ehrgeiz gewesen wäre, aber bei jenem der angeborne Enthusiasmus einer Heldenseele war. Aber weh ihm, wenn er nicht empfindet, daß der Sieg bei Arbela nicht mehr war, als was zwanzig andre griechische Feldherren eben so gut hätten bewerkstelligen können als Alexander; und daß hingegen eine fast übermenschliche Größe der Seele dazu erfodert wurde, den Arzneibecher aus der Hand seines Leibarztes zu nehmen und mit ruhig heiterm Lächeln auszutrinken, während er demselben mit der andern Hand den Brief hinreichte, worin ihm entdeckt wurde, daß dieser Arzt durch Versprechungen, welche einen Heiligen verführen könnten, bestochen sei, ihm Gift zu geben! Weh ihm, wenn er nicht empfindet, daß Alexander, da er lieber brennenden Durst leiden, als etliche seiner Soldaten des Wassers, welches sie ihren schmachtenden Kindern in ihren Helmen zutrugen, berauben wollte, ein größerer Mann war, als da er, von Feldherren und Königen umgeben, zum ersten Mal vom Thronhimmel der persischen Sultanen auf das besiegte Asien herab sah; oder wenn er nicht empfindet, daß der überwundene Darius, in dem Augenblicke, da er, gerührt von dem edlen Betragen seines Siegers gegen seine Gemahlin und Kinder, niemand als Alexandern für würdig erklärte den Thron des Cyrus zu besteigen, – größer als Alexander war; – Alexander hingegen in dem Augenblicke, da er, berauscht von der wollüstigen Pracht der persischen Könige, beim Eintritt in das innere Gezelt des Darius ausrief: Dies nenn ich König sein! von der Hoheit eines Halbgottes zum gemeinen Erdensohn herunter sank!

Weit entfernt von dieser Feinheit und Wärme des sittlichen Gefühls, urteilte der gelehrte Mann, der den jungen Isfandiar durch die Geschichte zu einem Könige bilden sollte, von den Großen und ihren Handlungen nach keiner bessern Regel, als nach dem Schein den sie von sich warfen, und (in allen Fällen, wo er keine besondere Ursache hatte zu loben, was er nach seinen Grundsätzen hätte tadeln müssen) nach den Vorurteilen der übel zusammen hängenden, schwärmerischen, in einigen Stücken überspannten, in andern allzu schlaffen Sittenlehre, an welche er in den Schulen der Bonzen auf eine mechanische Weise angewöhnt worden war. Jeder Eroberer hieß ihm ein Held, jeder freigebige Fürst großmütig, jeder schwache Fürst gut. Vornehmlich machte er sich zur Pflicht, dem Prinzen von den Fürsten seines Stammes immer die vorteilhaftesten Begriffe zu geben, wiewohl es größten Teils auf Unkosten der Wahrheit geschehen mußte. Er malte alles ins Schöne; er vergrößerte ihre guten oder erträglichen Eigenschaften, stellte ihre Laster in den tiefsten Schatten, und entschuldigte durch sophistische Spitzfindigkeiten was sich nicht verbergen ließ. Kurz, er behandelte ihre Geschichte nicht anders, als ob die Begriffe vom Guten und Bösen, sobald sie auf einen Großen angewendet werden, willkürlich würden, oder als ob der königliche Mantel durch eine talismanische Kraft jedes Laster, das er bedeckt, in eine schöne Eigenschaft verwandeln könnte. – ›Man muß gestehen‹ (pflegte er von einem offenbaren Tyrannen, oder von einem in Üppigkeit versunkenen Wollüstling zu sagen), ›daß dieser große Sultan in einigen Handlungen seines Lebens die Strenge, welche durch die Umstände seiner Zeiten notwendig gemacht wurde, etwas weiter getrieben hat als zu wünschen war‹ – oder: ›Es ist nicht zu leugnen, daß seine Neigung zu den Ergetzungen nicht immer in den Schranken der weisesten Mäßigung blieb; aber diese Schwachheiten‹ (setzte er hinzu) ›wurden durch so viele große Eigenschaften vergütet, daß es eben so unbillig als unehrerbietig wäre, sich dabei aufzuhalten.‹

Der junge Prinz hätte nicht so schlau sein müssen als er war, wenn er sich nicht einige kleine Grundsätze hieraus gezogen hätte, welche das wenige Gute, das der Unterricht seines Sittenlehrers in seinem Gemüte übrig gelassen hatte, vollends vernichteten; zum Beispiel: Daß die Laster eines Fürsten ein Gegenstand seien, von welchem man mit Ehrerbietung reden müsse; daß ein Fürst um so weniger vonnöten habe seinen schlimmen Neigungen Gewalt anzutun, weil es immer in seiner Macht stehe, das Böse, das er tut, wieder zu vergüten; daß man es einem Sultan desto höher anrechnen müsse, wenn es ihm gefällt einige gute Eigenschaften zu haben, weil es bloß an ihm lag, ungestraft so schlimm zu sein als er nur gewollt hätte, und dergleichen mehr. Der junge Isfandiar ermangelte nicht, aus diesen und ähnlichen Sätzen, welche aus der verkehrten Weise, wie ihm die Geschichte beigebracht wurde, zu folgen schienen, sich eine geheime Sittenlehre zu seinem eigenen Gebrauch zu bilden, welche desto gefährlicher war, da sein von Natur wenig empfindsames Herz keine Neigungen hatte, welche seinen Launen und Leidenschaften das Gegengewicht hätten halten können.

Ich habe mich, nicht ohne Gefahr dem Sultan meinem Herrn lange Weile zu machen, bei der Erziehung des Prinzen Isfandiar verweilt, weil ich überzeugt bin, daß sie großen Teils an den Torheiten und Lastern schuld ist, welche die Regierung dieses unglücklichen Fürsten auszeichnen.«

»Aber, wenn dies wäre«, sagte Schach-Gebal, »wie viele Königssöhne in der Welt müßten eben so schlimm sein, als dein Isfandiar! Denn ich bin gewiß, daß unter zehen kaum Einer ist, der sich einer bessern Erziehung rühmen kann.«

»Sire« (antwortete Danischmend), »dieses letzte als eine Erfahrungssache vorausgesetzt, ließe sich schließen, die meisten Fürsten würden, durch eine besondere Vorsehung welche für das Beste der Menschheit wacht, mit einer so vortrefflichen Anlage in die Welt geschickt, daß sie alles dessen was die Erziehung an ihnen verderbt ungeachtet, immer noch gut genug blieben, um uns zu zeigen wie vortrefflich sie hätten werden können, wenn der Keim der Vollkommenheit in ihnen entwickelt und zur Reife gebracht worden wäre.«

»Wofern dies nicht etwann Ironie ist«, sagte Schach-Gebal lächelnd, »so bedanke ich mich bei dir im Namen aller, die bei dieser sehr verbindlichen Hypothese etwas zu gewinnen haben.«

»Ich empfinde meine Pflicht zu stark« (erwiderte Danischmend), »um von einer so ernsthaften Sache anders als in vollem Ernste zu reden. Und ich denke, nichts kann dem hohen Begriff, den wir uns von der Güte des unsichtbaren Regierers der Welt zu machen schuldig sind, gemäßer sein, als der Gedanke, daß er (ordentlicher Weise wenigstens) nur die schönsten Seelen zu seinen Unterkönigen in den verschiedenen Teilen des Erdkreises ernenne.«

»Wenn mir erlaubt ist meine Meinung über eine Sache von dieser Wichtigkeit zu sagen«, sprach die schöne Nurmahal, »so denke ich, Danischmend habe niemals etwas Wahrscheinlicheres gesagt. Wäre es nicht so wie er behauptet, so dünkte mich unerklärbar, woher es komme, daß unter zwanzig großen Herren kaum Einer so schlimm ist, als sie alle zwanzig sein sollten, wenn man bedenkt, was die Lebensart, worin sie aufwachsen, die verkehrten Begriffe, welche sie unvermerkt einsaugen, die Mühe, die man sich gibt, durch Schmeichelei, niederträchtige Gefälligkeit und schlaue Verführungskünste ihren Kopf und ihr Herz zu verderben, bei gewöhnlichen Menschen für eine Wirkung tun müßten.«

»Ich zweifle nicht, meine guten Freunde«, sagte der Sultan, »daß alles dies eine abgeredete Schmeichelei ist, die ihr mir sagen wollt. Indessen ist doch wenigstens die Wendung, die ihr dazu genommen habt, zu loben. Aber ich sehe nicht, Danischmend, was der Taugenichts Isfandiar dabei gewinnen kann.«

»In der Tat«, versetzte Danischmend, »es mangelte ihm, wie ich bereits erwähnte, an dem Kostbarsten, was die Natur einem Sterblichen, sie mag ihn zum Pflug oder zu einer Krone bestimmt haben, geben kann, an einer empfindsamen Seele. Diesen Mangel kann auch die vollkommenste Erziehung nicht ganz ersetzen; aber, da sie doch wenigstens etwas tun kann (denn warum sollte sich die Natur nicht eben sowohl verbessern als verschlimmern lassen?), so sind in einem solchen Falle die Leute, deren Amt dies ist, desto größere Verbrecher, wenn sie darin saumselig sind.«

»Vermutlich fehlten sie mehr aus Ungeschicklichkeit als aus Bosheit«, sagte die Sultanin.

»Ich würde selbst nicht strenger von ihnen geurteilt haben«, erwiderte Danischmend, »wenn es weniger gewiß wäre, daß diese Herren (wiewohl sie ihre wahre Absicht unter der gewöhnlichen Phraseologie von Menschenliebe, Patriotismus und Uneigennützigkeit verbargen) insgesamt kein höheres Augenmerk hatten, als ihr Glück zu machen; ein Zweck, den sie am gewissesten zu erhalten glaubten, wenn sie keine Gelegenheit versäumten, sich durch eine wenig bedenkliche Gefälligkeit in das Herz des künftigen Thronerben einzustehlen.

So fehlerhaft indessen die Erziehung dieses Prinzen war, so würde doch der Schade, den sie ihm zufügte, nicht unheilbar gewesen sein, wenn er nicht das Unglück gehabt hätte, einem gewissen Kamfalu in die Hände zu fallen, der ein Bösewicht aus Grundsätzen, aber der angenehmste Bösewicht war, den man jemals gesehen hatte. Ich werde, um dem Charakter dieses Menschen sein gehöriges Licht zu geben, genötiget sein, eine kleine Digression in die Gelehrtengeschichte der damaligen Zeit zu machen.

Es lebte damals ein Schriftsteller, namens Kador, der sich von dem großen Haufen der moralischen Schreiber seiner Zeit durch eine Art von Antipathie gegen alles Aufgedunsene und Gezierte in Empfindungen, Begriffen und Sitten, und überhaupt durch eine merkliche Entfernung von der Kunstsprache sowohl als von den Maximen jenes großen Haufens unterschieden hatte. Es ist natürlich, daß die besagten Schreiber mit diesem Unterschied um so weniger zufrieden waren, weil das Publikum zwischen ihren Schriften und den seinigen noch einen andern Unterschied machte, der ihrer Eitelkeit nicht gleichgültig sein konnte. Man las nämlich seine Werke mit einem Vergnügen, welches immer die Begierde zurück ließ sie wieder zu lesen; da hingegen die ihrigen ordentlicher Weise nur zum Einpacken der seinigen gebraucht wurden. Sie hätten mehr oder weniger als gewöhnliche Menschen sein müssen, wenn sie dieses nicht sehr übel hätten finden sollen. Sie suchten den Grund davon nicht in der schlechten Beschaffenheit der übel zubereiteten und unverdaulichen Nahrung, welche sie dem Geist ihrer Zeitgenossen vorsetzten, sondern (wie natürlich war) in der Verdorbenheit des menschlichen Herzens, welchem Kador, ihrem Vorgeben nach, auf die unerlaubteste Weise schmeichelte. Denn der scherzende Ton, worin er zuweilen sehr ernsthafte Wahrheiten sagte, und die launige Freimütigkeit, womit er der Heuchelei die Maske abnahm und der Verblendung die Augen öffnete, waren in den ihrigen untrügliche Zeichen seines bösen Willens gegen die Tugend. In der Tat dachte Kador von den Tugenden der Sterblichen nicht ganz so günstig, als diejenigen, welche selbst für Muster angesehen werden wollen, zu wünschen Ursache haben. Er leitete die meisten praktischen Urteile und Handlungen der Menschen aus den mechanischen Wirkungen physischer Ursachen, oder aus den geheimen Täuschungen der Einbildung und des Herzens her; und je erhabener die Beweggründe waren, aus welchen jemand zu handeln vorgab, desto größer war das Mißtrauen, welches er entweder in die Redlichkeit dieses Jemands oder in die Gesundheit seines Gehirnes setzte. Wiewohl er überhaupt eine sehr gute Meinung von der menschlichen Natur hegte, so behauptete er doch, sie sei binnen etlichen tausend Jahren, durch die unaufhörliche Bemühung an ihr zu künsteln, zu bessern und zu putzen, so übel zugerichtet worden, daß es leichter sei an einem verstümmelten Götterbilde die Majestät des Gottes, den es vorgestellt, als in den menschlichen Karikaturen, die sich vor unsern Augen herum bewegen, die ursprünglich schöne Form der Menschheit zu erkennen. Indessen gab es doch, seiner Meinung nach, immer eine Anzahl schöner Seelen, welche (durch glückliche Zufälle, oder, wie er geneigter war zu glauben, durch die geheimen Veranstaltungen einer wohltätigen Gottheit), wo nicht ganz unverstümmelt, doch wenigstens nur mit leichten Beschädigungen, noch ganz leidlich davon gekommen wären. Er erklärte sich für den wärmsten Liebhaber dieser schönen Seelen: von ihnen allein dacht er gut; ihnen allein traute er jede edle Gesinnung, und die Fähigkeit, der Tugend große Opfer zu bringen, zu. Die übrigen mochten noch so künstlich angestrichen, noch so gothisch herausgeputzt, in noch so weite und lang schleppende Mäntel eingehüllt sein, kurz, sich noch so viele Mühe geben, durch entlehnte Zieraten und äußerliche Formen von Weisheit und Tugend Hochachtung zu erwecken: an ihm verloren sie ihre Mühe. ›Es sind Pagoden‹, pflegte er lächelnd zu sagen, ›welche sehr wohl tun, sich, wie die sinesischen, in weite Mäntel zu hüllen; durchsichtiges Gewand würde ihre Ungestalt zu sichtbar machen.‹ Kador mochte wohl so unrecht nicht haben, als die Pagoden, seine Gegner, die Welt gern überredet hätten. Gewiß ist, daß der bessere Teil der Welt sich nicht überreden lassen wollte, und daß er gerade so viele gesunde Köpfe und schöne Seelen, als man ihrer damals in Scheschian zählte, auf seiner Seite hatte. Selbst diejenigen, welche nicht in allen Stücken seiner Meinung waren, billigten sowohl seine Absichten als die Mittel wodurch er sie ausführte, und erkannten in ihm den aufrichtigen Liebhaber des Wahren, und den wohl meinenden Freund der Menschheit. Aber zufälliger Weise hatte er das Mißvergnügen, daß einige seiner Grundsätze von einer Art von Leuten gemißbraucht wurden, denen es gleich stark an feinerem Gefühle des Herzens und an Richtigkeit der Beurteilung mangelte. Das Wahre grenzt immer so nah an den Irrtum, daß man keinen großen Sprung vonnöten hat, aus dem sanft sich empor windenden Pfade des einen in die reizenden Irrgärten des andern sich zu verirren. Diese Leute gaben sich das Ansehen, dem besagten Schriftsteller in allem beizustimmen, einen einzigen Punkt ausgenommen. ›Er hat recht‹, sagten sie, ›so lang er in seinem wahren Charakter bleibt, so lang er das Eitle der menschlichen Begriffe und Leidenschaften schildert, und das Lächerliche ihrer Forderungen an Weisheit und Tugend aufdeckt. Aber er schwärmt selbst, sobald er von schönen Seelen, von der Zauberei der Empfindung, von Sympathie mit der Natur, und von der Göttlichkeit der Tugend fabelt. Es gibt keine schöne Seelen, und nur ein Tor glaubt an die Tugend. Was die Menschen Tugend nennen, besteht, wie die Münze in gewissen Ländern, in einer Anzahl abgeredeter Zeichen, welche man unter einem gewissen Stempel für einen gewissen Preis in Handel und Wandel gelten zu lassen übereingekommen ist. Der innere Wert kommt dabei gar nicht in Betrachtung. Dem Korn nach ist eben so wenig Unterschied zwischen dem Schelm, der gehangen wird, dem Nachrichter, der ihn hängt, und dem Richter, der ihn hängen läßt, als zwischen dem geschmeidigen Europäer, dem aufgeblasenen Perser, dem andächtigen Armenier, dem höflichen Sinesen, und dem rohen Kamtschadalen. Das Gepräge macht den ganzen Unterschied.‹

Die Leute, welche so dachten, fanden bald Anhänger genug, um eine zahlreiche Sekte auszumachen. Sie nannten sich die Philosophen, und wer nicht von ihrer Brüderschaft war, hatte die Freiheit von den Titeln Betrüger oder Schwärmer welchen er wollte auszuwählen. Denn nach ihren Grundsätzen mußte er notwendig eines von beiden sein. Der ehrliche Kador erfuhr die Kränkung, von der kurzsichtigen Menge mit diesen anmaßlichen Philosophen in Eine Linie gestellt zu werden, weil sie zuweilen seine Sprache redeten, und in gewissen Stücken eben das zu tun schienen, was Er getan hatte. Man konnte oder wollte nicht gewahr werden, daß nichts verschiedener sein konnte, als der Geist, welcher ihn, und der welcher diese Philosophen beseelte, und als der Endzweck, den Er und Sie sich vorgesetzt hatten. Wenn Er des Schwärmers spottete, und den Afterweisen, den Betrüger, oder den Selbstbetrogenen ihrer Ansprüche an Weisheit und Tugend entsetzte: so geschah es auf eine Weise, welche in Personen von gesundem Urteile keinen Zweifel veranlassen konnte, daß er es nicht redlich mit Wahrheit und Tugend meine. Wenn Sie hingegen eben dies zu tun schienen, fiel es in die Augen, daß ihre Absicht sei, die Tugend selbst lächerlich zu machen, und den ewigen Unterschied zwischen wahr und falsch, Recht und Unrecht aufzuheben. Der Schmerz, sich mit einer Klasse von Menschen, die er verachtete, vermengt zu sehen, und die Gefahr, durch den Mutwillen der einen und den Unverstand der andern wider seinen Willen Böses zu tun, brachte ihn, ohne daß er sich einen Augenblick bedachte, zu der einzigen Entschließung, welche in solchen Umständen eines ehrlichen Mannes würdig war. Er erklärte sich öffentlich, und mit Verachtung des Tadels und der Vorwürfe, welche er von beiden Gattungen zu erwarten hatte, für die Sache der Tugend. Aber da er, seiner Überzeugung treu, fortfuhr, keine Tugend gelten zu lassen, welche nicht, zum untrüglichen Zeichen ihres innern Wertes, mit dem Stempel der schönen Natur bezeichnet war: so erfolgte was er vorher gesehen hatte. Die besagten Philosophen und der Pöbel der Moralisten waren in gleichem Grade unzufrieden mit ihm. Beide fanden in seinen Schriften so viel Vorwand als sie nur wünschen konnten, seine Grundsätze und seine Absichten in ein falsches Licht zu stellen; und am Ende zeigte sich, daß er mit allen seinen Bemühungen nichts gewonnen hatte, als die kleine Zahl der Vernünftigen in der Überzeugung zu stärken: Daß Blödigkeit des Geistes und Verkehrtheit des Herzens gleich unheilbare Übel sind; daß es zwar nicht unmöglich ist, durch mechanische Mittel den großen Haufen der Menschen zu einer ganz leidlichen Art von – Tieren zu machen; aber, daß Weisheit und Güte ewig ein freiwilliges Geschenk bleiben werden, welches der Himmel nur den schönen Seelen macht

»Was du uns hier erzähltest, Danischmend, möchte sich an einem andern Orte ganz gut haben hören lassen«, sagte der Sultan: »aber du scheinst darüber vergessen zu haben, daß die Rede nicht von deinem Freunde Kador, sondern von dem Prinzen Isfandiar, und von einem gewissen schelmischen Kamfalu war, den du uns als einen Verführer dieses jungen Menschen bekannt machen wolltest.«


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