Christoph Martin Wieland
Der goldne Spiegel
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++


Der Herausgeber an die Leser

Lücken, geneigte Leser, sind in allen Arten der menschlichen Kenntnisse, besonders in Geschichts-Erzählungen, eine allzu gewöhnliche Sache, als daß es euch befremden sollte, hier in der Erzählung des so genannten Philosophen Danischmend eine Lücke, und zwar, wie wir nicht bergen, eine beträchtliche Lücke zu finden.

Diese Lücke ist nicht etwann von der Art derjenigen, welche von den Gelehrten Hiatus in Manuscriptis genannt zu werden pflegen. Die Handschrift, aus welcher wir die Geschichte von Scheschian gezogen haben, liegt vollständig vor uns, und es kam bloß auf uns an, ob wir sie so vollständig, als der lateinische Übersetzer sie geliefert, mitteilen wollten oder nicht.

Vielleicht betrügen wir die Neugierde vieler Leser gerade da, wo sie am wenigsten geneigt sind, es uns zu vergeben. Und wirklich hätten wir kein Bedenken tragen sollen, die Geschichte der Religion des alten Scheschians, und der Veränderungen welche sich unter einigen Königen mit ihr zugetragen, der Welt ohne Lücken vorzulegen, wenn uns das Beispiel des lateinischen Übersetzers, und die Gründe, womit er sein Verfahren beschönigt hat, hinlänglich geschienen hätten, die Nachfolge desselben zu rechtfertigen.

Er behauptete nämlich: Die weisesten Männer wären von jeher der Meinung gewesen, daß es einer von den wichtigsten Diensten, welche man der wahren Religion leisten könne, sei, wenn man dem Aberglauben und der Tartüfferei (ihren schädlichsten Feinden, weil sie die Maske ihrer Freunde tragen) diese Maske abziehe, und sie in ihrer natürlichen Ungestalt darstelle. Bloß aus diesem Grunde hätten gelehrte und ehrwürdige Schriftsteller aus den ältern Zeiten des Christentums, ein Laktantius, ein Arnobius, ein Augustinus und andere, sich eine ernstliche Angelegenheit daraus gemacht, die Ausschweifungen und Betrügereien der heidnischen Priesterschaft (sogar nicht ohne Gefahr durch Bekanntmachung der ärgerlichsten Greuel schwachen Gemütern anstößig zu werden) an das helleste Licht hervor zu ziehen. Sie hätten diese Gefahr als ein kleines, zufälliges und ungewisses Übel angesehen, welches gegen den großen Nutzen, den sie der Gottseligkeit und der Tugend von jener Entlarvung der religiösen Betrügerei versprochen, in keine Betrachtung komme. Es ist wahr (setzt er hinzu), Leser, welche mehr Witz als Unterscheidungskraft besitzen, könnten Ähnlichkeiten, und boshafte Leute Anspielungen zu finden glauben, wo keine sind; aber, wenn uns diese Besorgnis aufhalten sollte, welche Geschichte würde man schreiben dürfen? Eine jede wohl geschriebene Geschichte kann, in einem gewissen Sinne, als eine Satire betrachtet werden; und ich fordere den weisesten und unschuldigsten unter allen Sterblichen heraus, uns ein aufrichtiges Gemälde der Gesetze, Sitten, Meinungen und Gebräuche, von welchem Lande in der Welt er will, und sollte es Kappadocia, Pontus, oder Mysia sein, zu liefern, welches nicht voller Anspielungen zu sein scheinen sollte.

Diese und andre Gründe des lateinischen Übersetzers hätten uns vielleicht zu einer andern Zeit überzeugen, und bewegen können seinem Beispiele zu folgen. Aber in den Tagen, worin wir leben, kann die Behutsamkeit in Dingen dieser Art kaum zu weit getrieben werden. Der kleinste Anlaß, den wir wissentlich dem Leichtsinn und Mutwillen unsrer Zeiten gegeben hätten, durch die schalkhaften Wendungen, die auch der mittelmäßigste Witz in seiner Gewalt hat, unsrer Erzählung einen unechten Sinn anzudichten, würde in unsern Augen alle guten Eindrücke überwiegen, welche wir uns, ohne übertriebene Erwartungen zu hegen, von dieser Geschichte der Könige in Scheschian versprechen. Nichts ist in unsern Tagen überflüssiger als Feldzüge gegen Aberglauben und Tartüfferei. Es sind Zeiten gewesen (kein Vernünftiger wird es leugnen), wo man sich durch Kämpfe mit diesen Feinden der Religion und der bürgerlichen Gesellschaft Verdienste machen konnte. Aber sie sind nicht mehr. Andre, in ihren Folgen ungleich mehr verderbliche Ausschweifungen, Geringschätzung der Religion und Ruchlosigkeit, gewinnen unvermerkt immer mehr Grund; die ehrwürdige Grundfeste der Ordnung und der Ruhe der menschlichen Gesellschaft wird untergraben, und unter dem Vorwande, einem Übel, welches größten Teils eingebildet ist, zu steuern, arbeitet der zügellose Witz, in den Mantel der Philosophie eingehüllt, der menschlichen Natur ihre beste Stütze, und der Tugend ihre wirksamste Triebfeder zu entziehen. In einem solchen Zeitpunkte können diejenigen, welche es mit der Menschheit wohl meinen, nicht zu vorsichtig sein; und bloß aus dieser Betrachtung haben wir geglaubt, der Welt einen größern Dienst durch die Unterdrückung der besondern Umstände der Religionsgeschichte von Scheschian als durch die Mitteilung derselben zu erweisen.

Damit aber gleichwohl der Zusammenhang des Ganzen nichts dadurch verliere, haben wir für nötig gehalten, dem Leser einen Auszug aus der Erzählung des Philosophen Danischmend mitzuteilen, welcher ihn in den Stand setzen möge, von dem schlechten Zustande der alten scheschianischen Verfassung über diesen Punkt, von den Verdiensten, welche sich der Sultan Ogul um sie erworben, und von dem Zwiespalt, der das Reich zu Azors Zeiten erschütterte, sich wenigstens einen allgemeinen Begriff zu machen.

 

»Nach dem Beispiele der Ägypter und andrer abgöttischen Völker, verehrten die Scheschianer einen Affen, als den besondern Schutzgott ihrer Nation; und, wie alle asiatischen Länder, wimmelte Scheschian von Bonzen, deren hauptsächlichste Beschäftigung war, das verblendete Volk in der gröbsten Verfinsterung des natürlichen Lichtes, und in einem ihnen allein nützlichen Aberglauben zu unterhalten. Unter den verschiedenen Gattungen derselben, welche Danischmend schildert, begnügen wir uns, nur zweier zu erwähnen, deren Institut uns Europäern unglaublich scheinen müßte, wenn wir nicht aus der Sammlung der so genannten Lettres edifiantes, und aus der Kompilation des P. Dü Halde benachrichtiget wären, daß sich wenigstens von der einen Gattung noch heutiges Tages eine zahlreiche Nachkommenschaft in der Tatarei und in Sina erhalten hat. Die ersten, sagt Danischmend, nannten sich Ya-faou, oder Nachahmer des Affen, und unterschieden sich von den übrigen Bonzen durch eine scheinbare Strenge, ein unreinliches Aussehen, eine große Fertigkeit sich in Begeisterung zu setzen, und eine Unwissenheit, welche nahe an die tierische grenzte. Wenn man den Feinden dieser Ya-faou glauben dürfte, so war kein Laster, welches sie unter dem Mantel von Sackleinwand, womit sie ihre Blöße deckten, nicht ungestraft ausgeübt haben sollten. Man beschuldigte sie der Betrügerei, der Ränkesucht, der Unmäßigkeit, und einer ungezähmten Lüsternheit nach dem Eigentume der Scheschianer; Untugenden, welche sie, wie man sagte, unter einer Maske von Einfalt, Redlichkeit, und Verachtung der irdischen Dinge künstlich zu verbergen wußten. Sie nähren, sagte man, unter dem Scheine der tiefsten Demut den unausstehlichsten Stolz; sie sind rachgierig und grausam bei dem Ansehen einer unüberwindlichen Sanftmut, und allgemeine Feinde der Menschen mit der Miene der Unschuld und Gutherzigkeit. »Diese Beschuldigungen sind zu hart« (fährt Danischmend fort), »als daß es billig wäre ihnen einen unbedingten Glauben beizumessen. Aber dies ist unleugbar, daß die Unnützlichkeit der Ya-faou der geringste Vorwurf war, der ihnen gemacht werden konnte. Sie hatten allem, was man Vernunft, Wissenschaft, Witz, Geschmack und Verfeinerung nennt, einen unversöhnlichen Krieg angekündiget; und ihren unermüdeten Bemühungen war es vornehmlich zuzuschreiben, daß Scheschian in so vielen Jahrhunderten nicht die mindeste Bestrebung zeigte, sich aus dem Wust einer die Menschheit entehrenden Barbarei empor zu arbeiten. In Betrachtung der nachteiligen Folgen einer solchen Tätigkeit, hätte man Ursache gehabt, sich ihnen noch verbunden zu achten, wenn sie sich hätten begnügen wollen, ganz und gar müßig zu sein. Gleichwohl war auch in diesem Falle die Last sie zu füttern keine Kleinigkeit. Denn man rechnete zu Sultan Azors Zeiten über zwölfmal hunderttausend Ya-faou, und sie waren überhaupt Leute von vortrefflichem Appetit. – – Es ist etwas Unbegreifliches, daß diese Nachahmer des Affen zu gleicher Zeit der Gegenstand der lebhaftesten Ehrfurcht und der öffentlichsten Verachtung waren. Man trug sich mit einer unendlichen Menge lächerlicher Erzählungen in Prose und Versen, worin man sich mit ihren Sitten und selbst mit ihrem Stande die größten Freiheiten nahm; man sprach und schrieb und sang auf öffentlicher Straße von ihnen als von dem verworfensten Auskehricht des menschlichen Geschlechtes; man beschuldigte sie ungescheut aller Übeltaten, wozu ihre herumschweifende Lebensart ihnen selbst Gelegenheit und ihren Feinden Vorwand gab. Kurz, derjenige würde lächerlich geworden sein, der in guter Gesellschaft ihren Namen mit dem geringsten Zeichen von Achtung ausgesprochen hätte; und alles dies zu eben der Zeit, da noch eine Menge von Leuten den Staub für heilig ansahen, in welchen ein Ya-faou seine Füße gesetzt hatte; da das gemeine Volk sich mit sklavischer Folgsamkeit in allen seinen Geschäften von ihnen regieren ließ, und viele nichts Angelegneres hatten, als dafür zu sorgen, daß alles, was von ihrem Vermögen nicht schon bei ihren Lebzeiten von diesen würdigen Leuten aufgegessen worden war, ihnen wenigstens nach ihrem Tode nicht entgehen möchte.

Ich kann nicht umhin« (fährt Danischmend fort) »noch einer Gattung von privilegierten Müßiggängern zu erwähnen, deren Institut, so seltsam es auch beim ersten Anblicke scheint, aus einem gewissen Gesichtspunkt betrachtet, etwas Gemeinnütziges hatte, wodurch es sich über die übrigen Gattungen der Ya-faou erhob. Man nannte sie scherzweise die Fruchtbringenden; allein sie selbst legten sich, wegen der Unabhänglichkeit, von welcher sie Profession machten, den stolzen Namen Kamfalu, Könige der Meinungen, bei. Ungeachtet ein altes Vorurteil ihnen einen Teil der Vorrechte und des Ansehens der Ya-faou beilegte, so scheinen sie doch mehr eine Sekte von Freigeistern als wirkliche Bonzen gewesen zu sein, und in ihren Grundsätzen sowohl als in ihrer Lebensart vieles mit den Cynikern der alten Griechen, mit den Anhängern des Lao-Kiun in Sina, und mit unsern Kalendern gemein gehabt zu haben. Sie lebten zwar auch auf Unkosten des Volkes wie die Ya-faou; aber sie bezahlten gleichsam dafür mit einer Menge kleiner Talente, wodurch sie sich angenehm und beinahe unentbehrlich zu machen wußten. Sie belustigten die Großen mit ihrem Witze, und sich selbst mit der Leichtgläubigkeit des Volkes. Die Freiheit, die ihnen ihr Orden gab über alles zu spotten, und ein unerschöpflicher Vorrat von mutwilligen Erzählungen und Anekdoten verschaffte ihnen Zutritt in der schönen Welt; und so groß ist die Macht eines eingewurzelten Vorurteils, daß der Morgenbesuch eines Kamfalu bei einer schönen Frau als eine Sache die nichts zu bedeuten habe angesehen wurde. Aber die Kamfalu kannten den Wert ihrer Vorrechte zu gut, um sich allein auf die vornehme Welt einzuschränken: und wenn sie sich bei der Dame beliebt machten, indem sie ihrem Schoßhunde liebkoseten und über ihre Nebenbuhlerin lästerten; so schmeichelten sie sich der jungen Bäurin durch ein sympathetisches Mittel, sich der Treue ihres Mannes zu versichern, ein, oder indem sie ihr aus der Hand weissagten, daß sie fünf- oder sechsmal Witwe zu werden Hoffnung habe. Sie waren im Besitz von einer Menge bewährter Hausmittel gegen alle Zufälle, welche Menschen und Vieh zustoßen können; sie schlichteten die kleinen Streitigkeiten zwischen Eheleuten, Verwandten und Nachbarn; und es gab wenig Heiraten unter dem Volke, die nicht ein Kamfalu gestiftet hätte. Eine von den Regeln ihres Ordens, die keine Ausnahme zuließ, war, kein Mitglied in denselben aufzunehmen, welches sich nicht durch eine fechtermäßige Gestalt und eine blühende Gesundheit zu dieser Ehre legitimieren konnte. Aber was ihnen am meisten Ansehen und Vorteile verschaffte, war der Ruf, ein besonderes Geheimnis wider die Unfruchtbarkeit zu besitzen. Man versichert, daß in den Zeiten, da die aufs höchste gestiegenen Ausschweifungen ihre schädlichen Folgen zum Nachteil der Bevölkerung am stärksten geäußert, die edelsten Geschlechter von Scheschian die Erhaltung ihres Stammes lediglich dem geheimen Mittel der Kamfalu zu danken gehabt hätten. Ein Verdienst, wodurch sie, nach dem Urteile der Staatskundigen, sich ein so starkes Recht an die öffentliche Dankbarkeit erwarben, daß selbst der große Sultan Tifan, da er alle Arten von herum schweifenden Bonzen gänzlich aufhob, die einzigen Fruchtbringenden, als Leute die dem Staate wichtige Dienste geleistet hätten, bei ihrem alten Vorrecht erhielt, auf Kosten ihrer freiwilligen Wohltäter müßig zu gehen.«

»Ich finde«, sagte Schach-Gebal, »diese Achtung des Sultans Tifan für die Verdienste der Fruchtbringenden um so lobenswürdiger, da ich versichert bin, daß die Erben, womit der Adel von Scheschian durch ihre Vermittelung versehen wurde, stärkere Sennen und frischeres Blut in die Familien brachten, und also tüchtig wurden, die Stammväter einer markigern Nachkommenschaft zu werden. Indessen sollte nichts wundern, wenn die Ya-faou nicht aus dem nämlichen Grunde einiges Recht an die Nachsicht des Königs Tifan gehabt hätten.«

»Sire«, versetzte Danischmend, »das herbe und abschreckende Aussehen, welches diese letztern sich gaben, scheint ihnen größten Teils die Gelegenheit, sich um die höhern Klassen des Staats verdient zu machen, abgeschnitten zu haben. Vermutlich fehlte es ihnen an gutem Willen nicht; aber da sie aus der feinen Welt gänzlich ausgeschlossen waren, sahen sie sich genötiget, ihn bei den geringern Klassen gelten zu machen, wo ihr Beistand, wenigstens in Rücksicht auf den Staat, gänzlich in Verlust ging, folglich nichts Verdienstliches haben konnte.«

Nachdem Danischmend von den verschiedenen Gattungen und Arten der scheschianischen Bonzen, von ihren Grundsätzen, von ihrem Götzendienste, von ihrer vorgegebenen Zauberkunst, von dem Orakel der großen Pagode, und besonders von den Mitteln, wodurch sie sich eine beinahe unumschränkte Gewalt über die Köpfe und über die Beutel der Scheschianer zu erwerben gewußt, umständliche Nachricht gegeben; läßt er sich in eine weitläufige, und für jeden andern als den Sultan Gebal tödlich langweilige Erzählung gewisser Streitigkeiten ein, welche um sehr unerheblicher Dinge willen unter diesen Bonzen entstanden sein, und durch die unvorsichtige Teilnehmung des Hofes an denselben Gelegenheit gegeben haben sollen, daß die Nation sich in verschiedene Parteien zerspaltet, aus deren heftigem Zusammenstoß endlich einer der wütendsten Bürgerkriege, wovon man jemals ein Beispiel gesehen, entstanden sei. Der gänzliche Untergang des Staates würde unvermeidlich gewesen sein, wenn nicht glücklicher Weise für dieses betörte Volk Ogul-Kan dazwischen gekommen, und durch seine Eroberung die tobenden Bonzen genötiget hätte ihrer Privathändel zu vergessen, um auf ihre gemeinschaftliche Erhaltung bedacht zu sein.

»Gut« (ruft hier Schach-Gebal aus), »hier erwartete ich meinen guten Bruder Ogul-Kan. Ich bin sehr begierig zu hören, was er zu den Streitigkeiten der scheschianischen Bonzenschaft gesagt haben mag. Denn bei aller Achtung, die ich für seine übrigen Verdienste hege, wird er mir nicht übel nehmen, wenn ich mir ihn als einen sehr mittelmäßigen Metaphysiker vorstelle.«

»Sire« (versetzt Danischmend), »der bloße Menschenverstand, von welchem er sich in dieser Sache leiten ließ, führte ihn sicherer, als die subtilste Dialektik vielleicht hätte tun können. Die tatarische Horde, deren Anführer er war, hatte von ihren Voreltern eine sehr einfältige Religion geerbt. Sie kannten weder Tempel noch Priester. Sie verehrten einen unsichtbaren Herrn des Himmels, von welchem sie glaubten, daß er die guten Menschen liebe und die bösen – nicht hasse, sondern besser mache. Sie hielten es für unrecht ein Bild von ihm machen zu wollen. Denn (sagten sie in ihrer Einfalt) wenn man auch den großen Berg Kantal selbst zu seinem Bilde aushauen wollte, so würde dies dennoch nur eine sehr kindische Vorstellung von der Größe eines Monarchen geben, der die Sonne in der einen Hand und den Mond in der andern hält. Diesem Begriffe zu Folge begnügten sie sich, in jedem Hause eine schwarze Tafel an der Wand hängen zu haben, worauf mit goldnen Buchstaben geschrieben stand: ›Ehre sei dem Herrn des Himmels!‹ Vor dieser Tafel pflegten sie täglich etwas Räuchwerk anzuzünden; sie baten dabei den Herrn des Himmels, daß er sie an Leib und Seele gesund erhalten möchte; und hierin bestand ihr ganzer Gottesdienst.Siehe den Auszug aus des Marko Polo Reisen in der Allgem. Hist. der Reisen, T. VII. S. 472. Auch die Religion der Mantschuischen Tatarn kommt in der Hauptsache mit dieser überein. S. Dü Halde Beschr. des sines. Reichs, T. IV. S. 37. Es war also nicht wohl anders möglich, als daß sie die Religion von Scheschian zugleich mit Verachtung und mit Abscheu ansehen mußten; und Ogul-Kan konnte mit allem seinem Ansehen nicht verhindern, daß nicht in der ersten Hitze eine große Anzahl von Pagoden zerstört worden wäre. Dieser Prinz scheint zwar selbst kein Freund des Aberglaubens gewesen zu sein; aber er war ein zu vernünftiger Mann, um zu fodern, daß seine neuen Untertanen auf einmal eben so vernünftig sein sollten wie er. Er wußte, daß die Gewalt eines Monarchen sich nicht über Gewissen und Einbildung erstreckt; er wußte auch, wie gefährlich es ist, eine noch unbefestigte Regierung mit Unternehmungen gegen die eingeführte Religion anzufangen. Er bezeigte sich also sehr billig, ja sogar günstig gegen die Priesterschaft von Scheschian; erklärte sich öffentlich, daß er sie bei ihren Gerechtsamen und Vorteilen schützen und nichts gegen ihre Religion unternehmen wolle; und hielt was er versprochen hatte.

Kaum fingen die Bonzen wieder an, der Ruhe zu genießen, welche sie der Regierung dieses weisen und guten Königs zu danken hatten: so erinnerten sie sich auch ihrer ehmaligen Streitigkeiten wieder; und auf einmal wurde wieder von allen Seiten zum Treffen geblasen. Aber hier hörte die Gefälligkeit des Sultans Ogul auf. Er ließ ein Edikt ausgehen, worin einem jeden erlaubt wurde, seine Meinung über die Gegenstände des Streites mit Bescheidenheit bekannt zu machen; aber er verbot zugleich alle Bitterkeit, und alle Anzüglichkeit im Disputieren; und um seinem Verbot den gehörigen Nachdruck zu geben, setzte er die Strafe von zweihundert Streichen auf die Fußsohlen darauf, wenn sich jemand, wer es auch wäre, gelüsten ließe, einen andern seiner Meinungen wegen zu schimpfen oder zu verdammen. ›Meinungen über Dinge, welche ihren Besitzer zu keinem schlimmern Manne machen, sind weder Staatssachen noch Verbrechen‹, sagte er: ›ich werde mich niemals damit abgeben, sie zu untersuchen, und noch weniger mich bereden lassen, sie zu bestrafen. Gedanken und TräumeWenn man von einem rohen tatarischen Heerführer, wie Ogul-Kan war, Belesenheit vermuten könnte, so sollte man glauben, daß hier eine Anspielung auf den Tyrannen Dionysius von Syrakus wäre, der den Marsyas, einen seiner Staatsbedienten, hinrichten ließ, weil diesem Marsyas geträumt hatte, er habe dem Tyrannen die Kehle abgeschnitten. Plutarch im Leben Dions, Tom. V. p. 167. edit. Londin. de 1724. Plutarch gibt zum Grunde dieses strengen Verfahrens an: Dionysius habe geglaubt, Marsyas würde schwerlich so gefährlich geträumt haben, wenn er nicht wachend mit dergleichen Gedanken umgegangen wäre; und Montesquieu findet diesen Grund (wenn der unbündige Schluß, auf den er sich stützt, auch richtig wäre) nicht hinlänglich, das Verfahren des Dionysius zu entschuldigen. Esprit des Loix, Tom. I. L. XII. ch. XI. Der Gedanke, sagt er, müßte, um strafbar zu werden, mit irgend einer Handlung verbunden gewesen sein. Aber dies war eben die Sache. Woher konnte Dionys wissen was Marsyas träumte? Marsyas hatte seinen Traum erzählt; und dies schien entweder einen bösen Willen gegen den Fürsten, oder doch einen Grad von Unvorsichtigkeit voraus zu setzen, den ein so argwöhnischer und furchtsamer Fürst, wie Dionysius war, strafwürdig finden mußte. Es war ihm daran gelegen, den Syrakusern zu zeigen, daß man sich auch sogar im Traume nicht ungestraft an seiner Person vergreifen könne. sollen in meinem Reiche frei sein; und man soll keinem Menschen verwehren, seinen Traum zu erzählen, oder seine Meinung zu sagen, wenn er jemand findet der ihm zuhören will. Das einzige Mittel, Grillen und Meinungen unschädlich zu machen, ist, wenn man ihnen Luft läßt. Laßt die Bonzen in Scheschian, so lange sie wollen, untersuchen, ob ihr großer Affe ein Genius oder ein Orang-Outang gewesen, ob er zu Wasser oder zu Lande in Scheschian angekommen, oder ob er aus dem Schweif eines Kometen herab gefallen sei: so lange die Untersuchung eine Privatsache bleibt, und der Streit mit Bescheidenheit geführt wird, kann die Ruhe des gemeinen Wesens nichts davon zu besorgen haben.‹Es gibt, mit Erlaubnis des Sultans, Fälle, wo man sich nicht entbrechen kann, spekulative Meinungen als eine Staatssache zu behandeln. Aber desto größer muß auch alsdann die Vorsichtigkeit sein, um einen Funken, durch allzu große Geschäftigkeit ihn zu ersticken, nicht erst zu einer Flamme aufzustieren. Aber Ogul-Kan dürfte sich nur verleiten lassen, aus solchen Streitfragen eine Staatsangelegenheit zu machen, wenn in wenig Jahren das ganze Reich in Feuer stehen sollte.

So dachte der weise Ogul« (fährt Danischmend fort), »und verdient Ehrensäulen dafür, daß er so dachte. Aber diese Politik war nicht nach dem Geschmack der Bonzen. Sie ließen es darauf ankommen, ob er den Übertretern des Gesetzes sein Versprechen halten würde. Ogul hielt sein Versprechen pünktlich. Ein Ya-faou, der die Meinungen eines gewissen Tulpan, welche vor der Eroberung viele Bewegungen verursacht hatten, öffentlich mit großer Heftigkeit bestritt, und die Anhänger derselben für unwürdig erklärte von Sonne und Mond beschienen zu werden, empfing auf dem größten Marktplatze der Stadt Scheschian die ganze Summe der zweihundert Prügel auf die Fußsohlen, ohne daß Einer daran fehlte; und da sein Geschrei und seine Aufhetzungen einen Aufruhr unter dem Pöbel verursachten, ließ Ogul-Kan die Schuldigen, an der Zahl zweitausend, von seiner tatarischen Leibwache umringen, und den funfzigsten Mann von ihnen, ohne Ansehen der Person, an die kahl gemachten Äste eines hohen Eichbaums aufhängen, der im äußersten Vorhofe der großen Pagode stand. Diese Justizpflege war ein wenig tatarisch: aber sie brachte ein großes Gut hervor; denn sie machte die Bonzen verträglich. Das Volk schrie über Tyrannei; Sultan Ogul kehrte sich nicht daran; und in kurzem erkannte die Nation mit Dankbarkeit, daß er sie durch eine wohl angebrachte Strenge von einem großen Übel befreiet hatte.

Von der Zeit an, da die Bonzen in ihren Streitschriften nicht mehr schimpfen, und durch geheime oder öffentliche Beschuldigungen ihren Gegnern keinen Schaden mehr zufügen durften, verloren sie auch die Leidenschaft zum Grübeln und Streiten, wovon sie seit geraumer Zeit besessen gewesen waren. Sie fingen an gewahr zu werden, daß sie sich dadurch bei Vernünftigen nur lächerlich machten, und glaubten weiser zu handeln, wenn sie ihren Witz anwendeten, die Religion von Scheschian mit dem gesunden Menschenverstande ihrer neuen Gebieter auszusöhnen. Diesem löblichen Vorsatze zu Folge geschah es, daß sie, indem sie sich bemühten ihre Grundsätze in das vorteilhafteste Licht zu stellen, unvermerkt auf einen ziemlich einförmigen Lehrbegriff gerieten, der den Tatarn immer einleuchtender wurde: und da die Kamfalu zu gleicher Zeit mit gutem Erfolg an der Bekehrung der tatarischen Schönen arbeiteten; so fand sich nach wenigen Jahren, daß die Eroberer (den König und einige seiner Vertrauten ausgenommen) die Religion des Landes angenommen hatten, ohne daß man recht sagen konnte, wie es zugegangen war. Aber es fand sich auch zugleich, daß die Wallfahrten nach der großen Pagode merklich abnahmen. Es entstand aus der Vermischung des scheschianischen Aberglaubens mit dem groben tatarischen Menschenverstand eine Art von Mittelding, welches zwar keine neue Religion vorstellte, aber doch unvermerkt in dem Nationalgeiste, in den Vorurteilen, Gewohnheiten und Sitten von Scheschian eine Veränderung hervorbrachte, welche mit einigem Grund ein Schritt zur Verbesserung genannt werden konnte. Was vermutlich das meiste dazu betrug, war die Freiheit, sich auf die Wissenschaften und schönen Künste zu legen, welche Ogul-Kan allen seinen Untertanen erteilte. Denn vormals war dies, wie bei den Ägyptern, ein ausschließliches Vorrecht der Priesterschaft gewesen. In einem Zeitlaufe von vierzig bis funfzig Jahren wurden die graubärtigen Bonzen gewahr, daß sie sich in einer neuen Welt befanden, welche nicht mehr so leicht zu behandeln war als die alte. Die Märchen, womit sie sonst die Fragen der Neugierigen gestillet hatten, wurden nicht mehr so befriedigend gefunden als ehmals. Die Untersuchungen über den Grund dessen was die Menschen wahr nennen, über die Natur, den Zweck und die wesentlichen Rechte der politischen Gesellschaft, und über andre Dinge von dieser Wichtigkeit, welche immer häufiger angestellt wurden, hatten die Folge, daß vieles, was man für wahr gehalten hatte, falsch befunden wurde. Und wenn man Gegenständen, die vor einer aufgeklärten Vernunft keine Gnade finden konnten, noch immer einen Rest von Ehrerbietung bewies, so war sie derjenigen gleich, womit man ein altes Gemälde aus den Kinderjahren der Kunst anzusehen pflegt: man schätzt es, nicht weil es gut, sondern weil es alt ist.

Es war von den Bonzen nicht zu erwarten, daß sie eine so wichtige Veränderung mit Gleichgültigkeit ansehen sollten. Auch taten sie ihr Möglichstes, dem sichtbaren Schaden zu wehren, den die Ausbreitung der Vernunft und der Menschlichkeit ihnen selbst und ihren Pagoden zufügte. Aber da sie merkten, daß die letzten Anstrengungen ihrer Kunst nur den Triumph ihrer Gegnerin zu zieren dienten: so schmiegten sie sich endlich unter ihr Schicksal, und betrugen sich ungefähr so, wie eine handelnde Nation, welche sich genötiget sieht, gewisse Zweige von Gewerbe, wiewohl mit augenscheinlichem Verluste, bloß deswegen fortzuführen, um nicht die Handlung selbst zu verlieren, und der Hoffnung entsagen zu müssen, durch irgend eine günstige Wendung der Umstände sich vielleicht dereinst ihres Schadens wieder zu erholen.

Indessen war eine von den heilsamen Folgen dieser Revolution in dem Nationalgeiste von Scheschian, daß die Bonzen selbst sich angelegen sein ließen, an persönlichen Verdiensten wieder zu gewinnen, was sie auf einer andern Seite verloren hatten.« Danischmend führt hiervon viel Besonderes an, unterläßt aber gleichwohl nicht, die Anmerkung zu machen: sie hätten bei allem dem nicht recht verbergen können, daß es ihnen lieber gewesen wäre, der Notwendigkeit so viele Verdienste zu haben überhoben zu sein. »Sie belauerten«, sagt er, »mit der scharfsichtigsten Aufmerksamkeit jede Gelegenheit und jedes Mittel, ihren großen Zweck mit wenigern Unkosten zu befördern; und glücklicher Weise für sie spielte der leichtsinnige Mutwille, womit einige die Freiheit der damaligen Zeiten zu mißbrauchen anfingen, ihnen Waffen in die Hände, welche sie, unter dem scheinbarsten Vorwande, gegen ihre unversöhnlichen Feinde, Witz und Vernunft, gebrauchen konnten.«Die Geschichte der außerordentlichen Bemühungen, welche Jamblichus, Plotinus, Porphyrius und ihre Anhänger in einer Art von Verzweiflung fruchtlos angewandt, dem unterliegenden Heidentum gegen die siegreiche Obermacht der christlichen Religion zu Hülfe zu kommen, ist das vollständigste Beispiel, das uns die Historie an die Hand gibt, um den Charakter und das Betragen der Bonzen von Scheschian, in einem gewisser Maßen ähnlichen Falle, zu erläutern. Was ließen diese von dem seltsamsten Eifer glühen Schwärmer unversucht, um wenigstens die letzten Augenblicke des sterbenden Aberglaubens zu verlängern? Orakel, Wunder, wiederkommende Seelen, alles, was außerordentlich war, wurde aufgeboten, Pythagoras und Apollonius wurden zu göttlichen Männern und Theurgen erhoben, um sie mit einigem Schein dem großen Stifter der wahren Religion entgegen zu setzen. Das ganze Heidentum wurde umgeschmolzen, die ungereimtesten Fabeln zu allegorischen Hüllen der erhabensten Wahrheiten gemacht, und das Werk des Betrugs und des Aberglaubens in eine Theosophie verwandelt, deren Entdeckungen und Versprechungen einen blendenden Glanz von sich warfen, und unbehutsame Gemüter durch den Schein eines göttlichen Ursprungs täuschten. Man belegte die christlichen Weisen, welche allen diesen Blendwerken Vernunft entgegen setzten, mit dem verhaßten Namen der Freigeister und Atheisten; kurz, man wagte in der Verzweiflung alles. Aber vergebens traten Aberglauben, Schwärmerei und Philosophie in ein unnatürliches Bündnis: die Wahrheit siegte; und eben dieser Sieg bewies, daß sie Wahrheit war.

Anmerk. des latein. Übersetzers

Danischmend beginnt seine Erzählung von diesem Aufstand der Bonzen gegen die Usurpation einer tyrannischen Philosophie mit einer allgemeinen Betrachtung, welche nicht so viel benützt wird als sie es zu verdienen scheint. »Dasjenige«, sagt er, »was in allen sittlichen Dingen die Grenzen des Schönen und des Häßlichen, des Guten und des Bösen, des Rechts und des Unrechts bestimmt, ist eine allzu feine Linie, als daß sie nicht alle Augenblicke von der Unwissenheit und dem Leichtsinn übersehen, oder von den Leidenschaften übersprungen werden sollte. Daher eine Quelle von Übeln, welche man nicht verstopfen darf, auch wenn man es könnte, – der häufige Mißbrauch von Dingen, wovon der rechte Gebrauch der menschlichen Gesellschaft nützlich ist, und welchem abzuhelfen man bisher noch keine andre Mittel erfunden hat, als solche, die dem Dienste gleichen, den der gutherzige Bär in der Fabel seinem Freunde, dem Eremiten, erweist, da er, um eine Fliege von der Nase seines schlafenden Freundes zu verjagen, einen Stein ergreift, und auf Einen Wurf die Fliege und den Eremiten tötet.

Die Scheschianer geben uns hiervon ein merkwürdiges Beispiel. Sie waren unvermerkt klüger geworden als ihre Vorfahren. Ihre Begriffe von der wahren Beschaffenheit der Dinge, von ihrem Verhältnis gegen die Menschen, und von dem sehr wesentlichen Unterschiede zwischen den Gegenständen und den Vorstellungen, die man sich davon macht, klärten sich je länger je mehr auf. Die Vorteile dieser glücklichen Veränderung verbreiteten sich über das ganze Reich, wiewohl sie nur von scharfsichtigen Beobachtern bemerkt wurden. Aber die Nachteile, die damit verbunden waren, wahrzunehmen, dazu reichte das Gesicht des blödesten Kopfes hin. So lange die Nation dumm war, konnte sie nicht mißbrauchen – was sie nicht hatte. Damals war die Quelle alles Übels, daß sie ihre Vernunft gar nicht zu gebrauchen wußte. Jtzt, da die Scheschianer, wie junge Vögel, die Schwingen ihres Geistes zu versuchen anfingen, begegnete es oft, daß sie zu hoch fliegen wollten und fielen; oder daß sie sich unvorsichtig in Örter wagten, wo sie sich in verborgene Schlingen verwickelten. Kurz, diejenigen, die entweder wirklich mehr Witz hatten als andre, oder doch dafür angesehen sein wollten mehr zu haben, fühlten nicht so bald die Freiheit, in welche Ogul-Kan ihre Vernunft gesetzt hatte, als sie schon anfingen sie häufig zu mißbrauchen. Es war wohl bei den wenigsten so böse gemeint als es ihnen ausgelegt wurde. Wie leicht war es, in der hüpfenden Freude, die einem Menschen natürlich ist, der nach einer langen Gefangenschaft wieder freie Luft atmet und sich seiner Füße wieder nach eigenem Gefallen bedienen darf, wie leicht war es da, die vorerwähnte Linie zu überhüpfen, und vor lauter Freude – nicht mehr dumm zu sein, ein wenig närrisch zu werden! Man hatte den Aberglauben als ein großes Übel kennen gelernt; man bildete sich ein, sich nicht weit genug davon verlaufen zu können, und verlief sich also in den entgegen gesetzten Abweg. Indessen war dies allerdings kein geringes Übel, und verdiente die Aufmerksamkeit der Vorsteher des Staats um so mehr, da es von den höhern Klassen unvermerkt auch zu den niedrigern überging.«

Hier fiel der Sultan Danischmenden in die Rede. »Du berührst«, sagte er, »einen Punkt, über den ich schon lange gewünscht habe etwas Gewisses bei mir selbst festsetzen zu können. Es ist, wie du wohl bemerkt hast, nicht ratsam die Quelle von solchen Übeln zu verstopfen, die aus dem Mißbrauch einer Sache entstehen, wovon der Gebrauch gut ist. Und gleichwohl ist das Übel, von dem du sprichst, von einer so gefährlichen Art, daß man schlechterdings genötigt ist seinem Fortgange zu steuern. Ich möchte wohl hören, was du mir in diesem Falle zu tun raten wolltest.«

»Sire« (antwortete Danischmend), »die Frage, worüber ich meine Meinung sagen soll, hätte vorlängst besser als zwanzig andre verdient von unsrer Akademie zu einer Preisfrage gemacht zu werden. Ich unterstehe mich nicht zu sagen, daß ich die Auflösung davon gefunden habe; und mir deucht, diejenigen, welche sie so leicht finden, möchten sich wohl nie die Mühe genommen haben, ihre Tiefe zu erforschen. Doch vielleicht ist sie eine von den Fragen, deren Auflösung gar nicht einmal möglich ist, oder, welche sich wenigstens nicht anders als durch einen kühnen Schnitt auflösen lassen.

Der Fall dünkt mich dieser zu sein: Wir befinden uns zwischen zwei Übeln, wovon wir schlechterdings genötigt sind eines zu wählen; es fragt sich also, welches wir wählen sollen?

Hier, deucht mich, kann zuversichtlich als ein unstreitiger Grundsatz angenommen werden: daß in einem solchen Falle, wenn das eine Übel einen unendlichen und unheilbaren Schaden tut, das andere hingegen unter gewissen Bedingungen ins unendliche vermindert werden kann, notwendig das letztere gewählt werden müsse.

Dies vorausgesetzt kommen hier zwei Übel in Betrachtung: der Schade, der aus dem Mißbrauch der Vernunft und des Witzes, wenn ihnen völlige Freiheit gelassen wird, entspringen kann und wird; und derjenige, der daher entstehen muß, wenn diese Freiheit durch irgend eine Art von Zwangsmitteln eingeschränkt wird. Nun sage ich: Den Gebrauch der Vernunft und des Witzes in einem Staat einschränken, ist eben so viel, als Unwissenheit und Dummheit mit allen ihren Wirkungen und Folgen in dem besagten Staate verewigen, falls sich die Nation noch in einem barbarischen Zustande befindet; oder, wenn sie sich bereits zu einem gewissen Grade der Erleuchtung empor gehoben hat, sie in Gefahr setzen, von Stufe zu Stufe wieder in diese Barbarei zurück zu sinken, die den Menschen zu den übrigen Tieren herab würdiget, ja gewisser Maßen unter sie erniedriget. Denn, wie soll diese Grenzlinie, in welche man Vernunft und Witz einschränken will, gezogen werden? Wer soll sie bestimmen? Was für Regeln sollen dazu festgesetzt werden? Wer soll Richter sein, ob diese Regeln in jedem vorkommenden Falle beobachtet oder überschritten werden? Wodurch will man verhindern, daß der Richter nicht seine eigene Denkungsart, seine Vorurteile, seinen persönlichen Geschmack, vielleicht auch seine Leidenschaften und besondern Absichten, zur Richtschnur oder zum Beweggrunde seiner Urteile mache? Wird die Vernunft und der Witz der Nation nicht dadurch von dem Grade der Erkenntnis oder Unwissenheit, der Redlichkeit oder Unlauterkeit des Richters, oder von der ungereimten Voraussetzung, daß ihn seine Weisheit und Rechtschaffenheit nie verlassen werde, abhängig gemacht? Wenn wir denken dürfen, warum sollten wir nicht über alles denken dürfen? Und ist denken nicht etwas andres als nachsprechen? Kann man denken ohne zu untersuchen? oder untersuchen ohne zu zweifeln? Und wenn sich dieses Recht zu zweifeln bis man untersucht hat, und zu untersuchen eh man irgend ein Urteil faßt, nicht auf alle Gegenstände erstreckt; wenn man annehmen wollte, daß es solche gebe, welche man nicht untersuchen dürfe, weil schädliche Folgen daher entspringen könnten: würde die Nation nicht immer in Gefahr schweben, daß es ihren Obern einmal einfallen könnte, die Untersuchung alles dessen für schädlich zu erklären, was sie bloß ihres eignen Vorteils wegen nicht untersucht haben wollten? Die Jahrbücher des menschlichen Geschlechts belehren uns, daß unsre Obern zuweilen Tyrannen gewesen sind, oder wenigstens schwach genug, sich von irrigen Meinungen und von Leidenschaften, eigenen oder fremden, beherrschen zu lassen. Auf welchem seichten Grunde würde demnach die öffentliche Glückseligkeit stehen, wenn es von der Willkür etlicher weniger Sterblichen abhinge, die großen Triebfedern des allgemeinen Besten der Menschheit, Vernunft und Tugend, nach ihren besondern Begriffen und Absichten einzuschränken?

Was ich von der Vernunft gesagt habe, gilt in seiner Art auch von dem Witze, dessen wichtigster Gebrauch ist, alles was in den Meinungen, Leidenschaften und Handlungen der Menschen mit der gesunden Vernunft und dem allgemeinen Gefühl des Wahren und Schönen einen Mißlaut macht, das ist, alles was ungereimt ist, als belachenswürdig darzustellen. Jede Einschränkung dieses Gebrauchs ist ein Freiheitsbrief für die Torheit, und ein stillschweigendes Geständnis, daß es ehrwürdige Narrheiten gebe. Unvermerkt würden sich noch andre Torheiten hinter diese verstecken; denn ihre Familie ist zahlreich, und manche sehen einander so ähnlich, daß es sehr leicht ist eine für die andere anzusehen. Was anders würde also aus der Einschränkung der Vernunft und des Witzes erfolgen, als daß, unter dem bleiernen Zepter der Dummheit, Aberglaube und Schwärmerei, Tyrannei über Seelen und Leiber, Verfinsterung der Vernunft, Verderbnis des Herzens, Ungeschliffenheit der Sitten, und zuletzt allgemeine Barbarei und Wildheit die Oberhand gewinnen würden?

Und dies würde nicht etwa bloß eine zufällige Folge, es würde die notwendige und unvermeidliche Wirkung davon sein, wenn man den freien Lauf der Vernunft und des Witzes hemmen, und es in die Gewalt einzelner Personen geben wollte, den Zügel, womit man sie gefesselt hätte, nach ihrem Gutbefinden anzuziehen oder nachzulassen.

Nun lassen Sie uns auf der andern Seite sehen, ob der Schaden, welchen man von dieser Freiheit zu besorgen hat, so beträchtlich ist, daß er gegen den Schaden ihrer Unterdrückung in Betrachtung kommen kann; und ob er nicht vielmehr unter gewissen Bedingungen sich nach und nach ins unendliche vermindern muß?

Es ist wahr, die Freiheit der Vernunft, des Witzes, der Einbildungskraft, und dessen was man Laune nennt, kann und wird zuweilen gemißbraucht werden, um Weisheit und Tugend selbst in ein falsches Licht zu stellen, und vielleicht die ehrwürdigsten Gegenstände, um unwesentlicher Gebrechen willen, lächerlich zu machen. Man hat überdies einige Beispiele, daß etwas ungereimt Scheinendes bei anwachsender Einsicht wahr befunden worden, und also aufgehört hat ungereimt zu sein.Ein sehr nachdrückliches Beispiel hiervon ist der Satz, daß es Antipoden, oder Gegenfüßler gebe, welcher dem Bischof zu Salzburg Virgilius (wofern es nicht ein andrer Virgilius war, wie aus einigen Umständen sich vermuten läßt) so schlimme Händel machte. Diese Lehre war so unerhört und dem damaligen gemeinen Menschenverstande so anstößig, daß selbst die weisesten Männer sich nicht darein finden konnten. »Man legte es ihm so aus« (sagt Aventinus in seinen Baierischen Jahrbücher), »als ob er eine andre Welt, andre (das ist vermutlich nicht von Adam und Eva entsprungne) Menschen, eine andre Sonne und einen andern Mond behaupte. Bonifacius widerlegt diese Sätze als gottlos und der christlichen Philosophie entgegen laufend, bestraft Virgilen deswegen öffentlich und absonderlich, verlangt von ihm, daß er diese albernen Kindereien (Naenias) widerrufe, und die einfältige und lautere Weisheit des Christentums nicht länger mit dergleichen unsinnigen Träumen beflecke.« Der damalige Papst Zacharias, vor welchen diese Sache, ihrer vermeintlichen Wichtigkeit wegen, gebracht wurde, sah sie nicht mit gelindern Augen an als Bonifacius. Er nennt die Lehre von andern Menschen unter der Erde eine verkehrte Lehre, welche Virgilius gegen Gott und seine Seele ausgesprochen habe; und mutet in sehr ernstlichen Evocatoriis dem Herzog Utilo zu (der, wie es scheint, den guten Virgil in seinen Schutz genommen hatte), den gefährlichen Mann nach Rom zu senden, damit er aufs schärfste examiniert, und, wenn er seines Irrtums überwiesen worden wäre, nach den kanonischen Gesetzen gestraft werden könne. Baron. ad annum 748.

Uns dünkt nicht, daß man hinlängliche Ursache habe, den ehrwürdigen Bischöfen, welche diese Antipodensache mit so vieler Strenge behandelt haben, deswegen so häßliche Vorwürfe zu machen, als viele getan haben. Man hat nicht einmal vonnöten, zu ihrer Entschuldigung die Wendung zu gebrauchen, deren sich der berühmte Augsburgische Patrizier, Marx Welser, in seiner Baierischen Geschichte bedient, nämlich zu sagen: daß diejenigen, welche den Virgilius behaupten gehört, die Erde sei rund und auch auf der andern Halbkugel bewohnt usw. seine Meinung unrecht verstanden, und sie also dem Heil. Bonifacius fälschlich hinterbracht hätten. Es ist genug, daß in den damaligen Zeiten das allgemeine Vorurteil, selbst der Gelehrten, in dem Begriffe von Antipoden etwas höchst Ungereimtes fand. Lange zuvor hatte Kosmas der Indienfahrer, ein ägyptischer Mönch, in seiner christlichen Topographie (welche uns Montfaucon im zweiten Teile seiner Sammlung griechischer Kirchenskribenten geliefert hat) versichert, daß die Erde platt sei, und das himmlische Gewölbe an ihren äußersten Enden aufstehe. Dies war zu einer Zeit, wo das Studium der Natur als eitel und profan gänzlich vernachlässiget wurde, die allgemeine Meinung; und ein Satz, wie der, den Virgilius behauptet haben soll, mußte notwendig frommen Ohren anstößig sein.

Anmerk. des latein. Übersetzers

Es ist also möglich, daß die Freiheit, welche dem Mutwillen des Witzes gelassen würde, den Fortgang der Wahrheit selbst aufhalten könnte. Aber alle diese Übel, so groß man sie auch immer sich einbilden mag, sind zufällig und selten; der Nachteil, den sie der menschlichen Gesellschaft bringen können, wird durch tausend entgegen wirkende Ursachen teils verhütet, teils unmerklich gemacht, und, was das wichtigste ist, er muß, vermöge der Natur der Sache, immer abnehmen. Der Krieg zwischen Vernunft und Witz, und ihren ewigen Feinden Unverstand und Dummheit, ist ein Übel wie alle andre Kriege. Er bringt zwar zufälliger Weise allerlei schädliche Ausbrüche hervor, und es sind immer viele, die auf diese oder jene Weise darunter leiden: aber er ist ein notwendiges Übel, welches durch seine Folgen das größte Gut befördert. Jede neue Eroberung, die von jenen über diese gemacht wird, schwächt den Feind, befestigt die rechtmäßige Oberherrschaft, und beschleuniget den Anbruch jener glückseligen Zeiten, deren Unmöglichkeit noch niemand bewiesen hat, und welche (wenn es auch unwahrscheinlich wäre, daß sie jemals kommen würden) dennoch das große Ziel aller Freunde der Menschheit sein müssen; der Zeiten, wo Polizei, Religion und Sitten, Vernunft, Witz und Geschmack einträchtig zusammen wirken werden, die menschliche Gattung glücklich zu machen


 << zurück weiter >>