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Nach dem Abendessen sassen der Maler, seine Frau und die alte Frau Neumann um den Tisch im Wohnzimmer; die Damen mit ihren Handarbeiten auf dem Ecksofa unter dem Gemälde aus dem »Kalten Bein«; Neumann an der Aussenseite des Tisches mit einem Buch.

Lange war kein Wort geredet.

Da klingelte die Haustürglocke.

Frau Sonja zuckte zusammen:

»Wer das nur sein kann ...«

»Es ist wohl der Zollkontrolleur ...« meinte die alte Dame und sah nach ihrer Uhr. »Die Uhr ist neun.«

»Ja, und es ist Donnerstag,« sagte der Maler.

Nach einer Weile ging die Tür auf und Knagsted erschien, klein, vierschrötig und zottig:

»Fröhlichen Donnerstag!« grüsste er.

»Danke, gleichfalls!« nickte Neumann.

»Präzise wie ein Turmwächter!« lächelte die alte Dame.

»Guten Abend ...« sagte Frau Sonja.

Der Zöllner nahm Platz am Tisch:

»Was lesen Sie denn da, Maler?«

»Victor Hugo: Les misérables ...«

»Auf französisch?«

»Nein, nur auf flachländisch, mein Herr!«

»Wenn ich Dichter wäre,« sagte Knagsted, »dann ging ich hin und erhängte mich ... Das steht ja nämlich alles in diesem wunderbaren Buche ...! Ich begreife nicht, dass jemand noch den Mut hat, die Feder aufs Papier zu setzen, nachdem dies Buch geschrieben ist!«

»Mein Gott,« zitierte der Maler lachend, »›ich beuge mich vor van Dyck; aber ein jeder hat doch seine Vorzüge!‹«

Frau Sonja legte die Arbeit zusammen und erhob sich:

»Ja, entschuldigen Sie, Herr Knagsted, dass ich mich zurückziehe, aber ich bin ein wenig müde ... kommst du mit, Mutter?«

Sonjas Bett war seit Hothers Tod in das Schlafzimmer der alten Frau Neumann gestellt.

»Ja,« sagte die alte Dame bereitwillig, »gern, liebe Sonja; mir tut es auch gut, zur Ruhe zu kommen ... Gute Nacht, ihr Buben!« lächelte sie und stellte sich unbekümmert »Ihr wollt wohl noch euren Whisky haben?«

»Ja, ... willst du, bitte, Olga sagen, dass sie ihn ins Atelier bringt?«

»Das will ich tun ...« Sie reichte den Herren die Hand. »Nochmals Gute Nacht!«

Frau Sonja aber senkte den Kopf zu einem stummen Gruss und ging ...

Knagsted und der Maler drehten langsam die Gesichter nach ihr um ...

 

Im Atelier.

Der Zollkontrolleur stand an dem Tisch vor dem Diwan und schenkte sich selbst einen Whisky ein.

Neumann sass an der Staffelei und zeichnete an der Abendstimmung auf der Kegelbahn.

»Sie müssen nicht zu strenge mit Ihrer Frau sein, Maler ...« sagte Knagsted.

»Strenge? Ich bin nicht strenge; im Gegenteil! ... Aber dass Sonja damit enden würde, sich den ›Heiligen‹ anzuschliessen ...! Sonja

» Sie haben ja Ihre Kunst, um ...«

»Und sie hat doch ihre Kinder ... ihre lebenden Kinder!«

»Ja ... Wollen Sie sich nicht einen Whisky zurechtmachen?«

Neumann legte den Kohlestift hin und trat an den Tisch:

»Als Hanne krank war,« sagte er, »war da wirklich ein Augenblick, wo ich hoffte, dass Sonja sich Zusammennehmen und wieder ein Mensch werden würde. Sie war so fürsorglich und liebevoll und gut; wachte selbst des Nachts bei dem Kinde ... Aber jetzt ist das alles wieder vorbei. Mindestens dreimal die Woche rennt sie zur ›Erbauung‹ bei diesen Unheilstifter, diesen Pastor Sörensen ... Und wenn man dann denkt, dass er Hother gemordet hat!« endete er.

»Wann geht ihr nach Italien?« fragte der Zöllner, um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben.

»Ich kann sie nicht dazu bringen, einen Entschluss zu fassen ... Sie kann Hothers Grab nicht verlassen, jetzt, wo der Winter naht, sagt sie ... und wo er da so allein liegen und frieren soll ... Hysterie!«

»Aber ihr reist doch?«

Der Maler setzte sich auf den Diwan neben Knagsted.

»Ja, wir reisen wohl ... Wissen Sie, was ich glaube, warum sie die Reise hinausschiebt?« fragte er dann.

»Nein ...«

»Weil sie bange ist, dass wir auf der Reise wieder ein gemeinsames Schlafzimmer haben werden!«

»Ach, Unsinn! Ihr, die ihr so glücklich miteinander wart!«

»Ja, nicht wahr! Ach, wie schön, wie schön wir es doch hatten ... Aber nun hat sie sich mir schon über zwei Monate ferngehalten und bei Mutter geschlafen ... Und sie sehnt sich nach mir, ich kann es ihren Augen ansehen; aber sie wagt nicht, ihrer Sehnsucht nachzugeben ... wagt es nicht, aus Angst vor Pastor Sörensen!«

»Nein, wissen Sie was, lieber Neumann ...!«

»Wagt es nicht, aus Angst vor Pastor Sörensen!« wiederholte der Maler sehr bestimmt. »Sie hat es mir selbst direkt gesagt.«

»Hm ...«

»Sie reden von ›geistiger Ehe‹, von ›Seelenharmonie‹ ... und mehr solchen Quatsch.«

Er erhob sich und streckte die Arme gleichsam umfangend in die Luft aus:

»Wenn man sich das vorstellt, Sonja, dieser lebensfrohe, warme, natürliche, liebe Mensch!«

Und die Hand schwer auf Knagsteds Schulter legend, sagte er:

»Zöllner, ich will Ihnen etwas erzählen: ›Religion‹ ist der höchste Egoismus! Wenn man sich selbst nur in die eingebildete Ewigkeit hinüberrettet, dann mag der Teufel alle uns andern holen! ... Ah! ich sehne mich nach ihr,« fuhr er fort, »ich liebe sie, ich liebe sie, wie an dem ersten Tag, als wir zusammen waren! Will ich sie aber an mein Herz nehmen, so stösst sie mich von sich, und will ich mit ihr reden, so kommt sie mit Bibelstellen und frommen Zitaten angestiegen ... Mit Steinen statt mit Brot!«

Knagsted sass eine Weile schweigend da, dann fragte er:

»Und was sagt Ihre Mutter, die kluge Dame dazu?«

»Sie sagt, ich soll ihr Zeit lassen ... Ich müsse bedenken, welche Erschütterung Sonjas Nervensystem durchgemacht hat ... Vorläufig müsse ich sie als Kranke betrachten ...«

»Und wie denkt sie über Se. Hochehrwürden, Pastor Sörensen?«

»Sie ist der Ansicht, dass sein Einfluss nur vorübergehend sein wird ... dass Sonja eine viel zu gesunde und lebenskräftige Natur ist, um ...«

»Nun ja, da sehen Sie! Und sie ist natürlich auch der Ansicht, dass Sie reisen sollen?«

»Ja.«

»Will sie mitkommen?«

»Ja, das will sie! Und wenn wir erst in andere Verhältnisse und andere Umgebungen und andere Luft kommen, sagt sie, so wird sich Sonja nach und nach zusammennehmen, den Pastor und seine Lehren abschütteln und zu Mann und Kindern zurückkehren ...«

Knagsted nickte:

»Ja ...! Ja ...!«

Der Maler ergriff seine Hand:

» Glauben Sie das wirklich, Zöllner? ... Haben Sie tausend, tausend Dank!«

»Und wo in Italien wollen Sie sich denn niederlassen?« fragte Knagsted.

»Irgendwo in der Umgegend von Neapel, hatte ich gedacht; drüben auf der andern Seite des Golfes. Ach, da ist es so schön! Da etablieren wir dann die Kinder mit Grossmutter und einer Lehrerin, und dann machen Sonja und ich Studienreisen durch ganz Italien!«

Das Antlitz des Malers leuchtete und seine eben noch so betrübten Augen strahlten.

»Darf ich mitkommen?« fragte der Zöllner.

»Ja! Wenn Sie das wollten! Wollen Sie uns nachkommen und uns besuchen?«

»Ja, da können Sie Gift drauf nehmen, das will ich! Ich habe mir schon immer gewünscht, Italien in guter Gesellschaft zu sehen.«

»Können Sie Italienisch?«

»Nein, keinen Deut! Können Sie es?«

»Nein, aber das lernt man schnell.«

»Zu welcher Zeit soll ich am liebsten kommen? Wann ist es da am schönsten?«

»Im März – April ... Im Frühling.«

»Gut, dann komme ich im Frühling! Und dann bekomme ich Erlaubnis, Sonja zu küssen, wenn sie gross und schön und sonnengebräunt auf dem Bahnhof steht und mich empfängt?«

»Soviel Sie wollen!« lachte der Maler. »Prost und auf Wiedersehen!« »Prost und auf Wiedersehen!« nickte Knagsted.

Und sie leerten beide ihre Gläser bis auf den Grund ...

 

Drei Wochen später ging die Familie Neumann in Landflüchtigkeit nach Italien. Die Malers-Villa stand leer.

Madam Svendsen, übergeheiratet Terkildsen, hatte einen Jungen zur Welt gebracht.

Die Mutter lag in ihrem und des seligen Svendsen breitem Ehebett, das mitten in dem hinter der Schenkstube gelegenen Schlafzimmer angebracht war. Neben dem Bett stand die Wiege mit der Frucht. Und in eine Ecke unter die Fenster verkroch sich bescheiden eine kleine eiserne Kinderbettstelle. Darin verbrachte der Ehegatte Bernhard seine kärglichen Nächte ...

Rikke Elster machte ihren Wochenbesuch.

»Ja,« erklärte sie düster, »er lag mit dem Gesicht pardautz im Schmutz des Weges, den schönen Bart ganz mit Blut besudelt.«

»Wer hat ihn gefunden?«

»Der Waldhüter Jörgensen ...«

»Und er hat sich selbst erschossen, steht in der Zeitung ...«

»Ja, das steht da, hack – hack! – Aber den Teufel auch hat er das getan! Warum sollt' er sich wohl erschiessen?«

»Fehlschuss, natürlich!« meinte Marthe. »Da steht ja so oft, dass sich einer mit Fehlschuss erschiesst.«

»Ein Forstmensch, ha, ha!« hohnlachte Rikke, »ne, bild' mir das nich ein! Ne, das hat, weiss Gott, Fräulein Michaela getan; da will ich Gift auf nehmen ... Sie haben ja auch ihren Handschuh ein paar Ellen weiter weg, zwischen den Bäumen gefunden!«

»Das kann ja auch ein Liebespfand gewesen sein,« schlug Marthe vor. (Sie widersprach der Freundin grundsätzlich.) »Leute aus den Kreisen, die haben es immer so mit Liebespfändern!«

»Glaubst du, dass er es denn weggeschmissen hätt'? Warum hätt' er es denn wegschmeissen sollen? Ne, denn hätt' er es sich wohl an 'ner Schnur auf die blosse Brust gehängt!«

»Ja–a ... Aber im Verhör is sie doch nich gewesen.«

»Der Kammerherr is gut Freund mit dem Bürgermeister und dem Landrat, – du verstehst wohl!«

»Ja, aber warum sollt' sie ihn denn erschossen haben!« fuhr Madam Svendsen beharrlich fort. »Ich begreife nicht, warum sie ihn erschossen haben sollt'.«

»Natürlich weil er mit allen möglichen andern Frauenzimmern rannt' – mit hoch und niedrig ...«

Die Frucht in der Wiege fing an zu quäken.

»Jos–e–fi–ne!« rief die Madam.

Das Mädchen steckte den Kopf – einen ungekämmten Kopf mit wildwachsenden Locken – durch die Schenkstubentür:

»Was wollen Sie?«

»Nimm Brüderchens Flasche und mach sie warm; er is hungrig!«

Josefine riss die Flasche aus der Wiege und verschwand.

Das Fräulein glitt zur Seite, man sah das Gesicht des Kindes.

»Was für 'ne schnurrige Nase das Kind hat! ...« sagte Rikke.

»So–o?«

Die Nase des Kleinen war dick, rot und schwammig. Und jetzt, wo er wach war, rollte er sie mit seiner hohlen Hand rund im Gesicht herum. Nun, das tun ja so viele Kinder, ohne dass ihre Mütter deswegen just mit Eisenhändler O. W. Fredriksen in Berührung gekommen zu sein brauchen ...

»Wann soll er getauft werden?« fragte Rikke.

»Wenn ich wieder auf bin.« »Hast du seinen Namen schon bestimmt?«

»Ja–a ... er soll Bernhard heissen nach seinem Vater.«

»Äks ...!« sagte die Elster, sie hatte etwas verkehrt in den Hals bekommen ...

Josefine kam mit der gewärmten Flasche herein. Marthe steckte den Saugpfropf in den Mund und kostete die Milch:

»Du solltst hingehen und dich kämmen, Josefine!« sagte sie.

Josefine warf den Kopf in den Nacken, so dass die Locken auf ihren Nadeln bebten:

»Terkildsen findet, dass es mir so steht!« sagte sie.

Im selben Augenblick ertönte die Türglocke, und sie stürzte hinaus.

Marthe steckte dem Jungen den Saugpfropfen in den Mund; der schwieg sofort und schluckte gierig.

»Du hast noch immer selbst keine Milch?« fragte die Elster.

»Ne–e ... Der Doktor sagt, ich wär' zu dick.«

»Reichlich zu Jahren bist du ja auch schon!«

»Es gibt doch Frauen, die noch viel älter sind!«

»Ja, natürlich, ja ... Aber die lassen sich auch nich mit Männern ein.«

»Wie gern sie es auch möchten!« ergänzte Marthe.

Rikke krächzte wütend, schwieg aber ...


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